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# taz.de -- Taiwan in Zeiten des Ukraine-Kriegs: Das blau-gelbe Vorbild
> Taiwan denkt bei Russlands Krieg gegen die Ukraine an die Bedrohung durch
> China. Doch das Selbstvertrauen auf der kleinen Insel ist stark.
Bild: Proteste im Taipeh gegen den Krieg Russlands in der Ukraine
Taipeh taz | Xinxin will Staatsbürgerin Taiwans werden. Das ist von
vornherein kein einfaches Unterfangen, denn die Hürden für eine
Einbürgerung sind in Taiwan hoch. Doch auch ihr eigenes Land, die
Volksrepublik China, macht es Xinxin nicht leicht. Wenn es nach dessen
Regierung ginge, gäbe es Taiwan überhaupt nicht. Xinxin kommt aus Taiyuan
in der chinesischen Provinz Shanxi. Während des Jurastudiums in Peking
lernte sie ihren taiwanischen Mann kennen. Seit zwei Jahren leben die
beiden zusammen in Taiwans Hauptstadt Taipeh.
Ihr Entschluss wirkt auf mehrere Arten absurd. Denn Xinxin wird
Staatsbürgerin eines Landes, das ihre Heimat als abtrünnige Provinz sieht
und droht, es notfalls mit Gewalt einzunehmen. Die chinesische
Staatsbürgerschaft müsste sie abgeben – für den Pass einer Nation, die
[1][von nur 14 Ländern der Welt als souveräner Staat] anerkannt wird.
Doch ihr Entschluss steht fest: Sie will in Taiwan bleiben. Und sie möchte
Freund*innen in den USA besuchen können – als chinesische Staatsbürgerin
derzeit eine schwierige Angelegenheit. Der Pass Taiwans ist dagegen Gold
wert, mit [2][einfacher, teilweise visafreier Einreise in über hundert
Länder der Welt], weit mehr als ihr die chinesische Staatsbürgerschaft
ermöglicht.
Xinxins Entscheidung geht sicher gegen den Trend. In den letzten Jahren
gibt es immer weniger zivilgesellschaftlichen Austausch zwischen China und
Taiwan. Dazu ebenfalls beigetragen hat Chinas Abschottung während der
Coronapandemie. Auch wachsende Spannungen auf Regierungsebene, die durch
Peking angeordnete Niederschlagung der Proteste 2019 in Hongkong sowie
innergesellschaftliche Umbrüche entfremden Taiwan immer weiter von China.
## Mehrheit Taiwans definierte sich früher als chinesisch
Noch vor 15 Jahren definierte sich die Mehrheit der Bevölkerung als
chinesisch oder sah sich als taiwanisch und chinesisch. Mittlerweile geben
über 60 Prozent der Menschen des Inselstaats an, sie seien
Taiwanerinnen und Taiwaner, nichts anderes.
Xinxin nimmt diesen vermeintlichen Konflikt eher gelassen. Diskriminierung
habe sie in Taiwan noch nicht erlebt. Ob auch sie sich als Taiwanerin
fühle? Nein, das brauche sicher noch einige Jahre, aber so wichtig sei die
Frage für ihr Leben auch nicht. Ob sie Bedenken habe, nach ihrer
Einbürgerung nach China zurückzukehren? Nein, jedenfalls nicht, wenn es nur
darum geht, ihre Familie zu besuchen. Die meisten ihrer Freunde,
Freundinnen und Bekannten zu Hause in China haben kein Problem damit, dass
sie in Taiwan lebt. Ihren echten Namen will sie dann aber doch lieber nicht
in der Zeitung gedruckt sehen.
Über einen möglichen Krieg zwischen Taiwan und China machen sich manche
ihrer Bekannten in China Sorgen. In Taiwan selbst habe sie von dieser Angst
aber nur sehr wenig gespürt, erzählt sie. Diese Wahrnehmung ist in Taiwan
mehrheitsfähig. Laut Umfragen der [3][Taiwanese Public Opinion Foundation],
kurz nach dem Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi im Sommer 2022,
rechnet die Mehrheit der Taiwaner und Taiwanerinnen nicht damit, dass
China bald angreifen würde. Immerhin 39 Prozent halten einen Krieg in
absehbarer Zukunft für möglich. Über die chinesischen Militärübungen in der
Taiwanstraße, ein unmittelbares Anzeichen von Aggression, zeigen sich
weniger als ein Fünftel der Menschen besorgt.
Vor allem in den USA kursiert in den letzten Monaten immer wieder 2027 als
möglicher Zeitpunkt für eine [4][chinesische Übernahme Taiwans]. Sichere
Belege dafür gibt es nicht. Eine Analyse des US-Thinktanks Carnegie
Endowment zeichnete vor Kurzem nach, welche Anzeichen darauf hindeuten
würden, dass China eine Invasion akut vorbereite. Die Volksrepublik müsste
ihre Waffenproduktion massiv steigern, sich gegen erwartbare Sanktionen
absichern und strategische Reserven an medizinischen Gütern und
Nahrungsmitteln anlegen. Von all diesen Maßnahmen ist auf Chinas Seite
bisher nichts zu erkennen. Doch die Frequenz und Intensität
[5][chinesischer Militärübungen in der Taiwanstraße] nimmt immer weiter zu.
## Der Immobilienmarkt ist ein Indikator
Wer verstehen wolle, wie hoch das Vertrauen der taiwanischen Gesellschaft
in die eigene Zukunft sei, finde im Immobilienmarkt einige nützliche
Anhaltspunkte, sagt Lin Tzu-Chin. Er ist Professor für Ökonomie an der
National Chengchi Universität, aus dem Fenster seines Büros im 16. Stock
blickt er hinab auf die Hauptstadt Taipeh.
Die große Mehrheit der Menschen in Taiwan lebt im eigenen Wohneigentum. Für
die meisten Menschen ist das Eigenheim über alle gesellschaftlichen
Veränderungen und Gräben hinweg die einzig sichere Wohnform und Wertanlage.
Lin Tzu-Chin blickt zurück: Die Kuomintang, die China vor dem Zweiten
Weltkrieg regierte, verlor nach Ende des Zweiten Weltkriegs den Bürgerkrieg
gegen Maos Kommunisten. Während diese auf dem Festland die Volksrepublik
China errichteten, behielt die Kuomintang in Taiwan die Macht und leitete
dort ab Ende der 1980er Jahre eine schrittweise Demokratisierung ein. Zum
Anfang des neuen Jahrtausends wurde erstmals die Demokratische
Fortschrittspartei (DPP) – die Partei der derzeitigen Präsidentin Tsai
Ing-wen – Regierungspartei. Ihr Verhältnis zu China ist kritischer, [6][die
Stärkung der Autonomie Taiwans als souveräner Staat ein wichtiger Punkt
ihrer Politik].
Seitdem wechselte die Führung Taiwans zwei weitere Male zwischen Kuomintang
und DPP – damit ging auch die Beziehung zu China durch Höhen und Tiefen.
Doch der Wohnungsmarkt blieb stabil. In den letzten 15 Jahren verdoppelten
sich die Wohnungspreise landesweit. Für Lin Tzu-Chin grundsätzlich ein
gutes Zeichen: „Wir müssten uns erst dann wirklich Sorgen um Taiwans
Zukunft machen, wenn niemand mehr eine Wohnung kaufen möchte.“
## Alex Khomenko aus Charkiw protestiert in Taipeh
Alex Khomenko weiß dagegen nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn sich
Hoffnung auf einmal in Nichts auflöst. Der Softwareentwickler stammt
ursprünglich aus der ukrainischen Stadt Charkiw. Seine Frau hat taiwanische
Wurzeln. Die beiden wollten, dass ihre zwei kleinen Töchter mit Chinesisch
als Sprache aufwachsen und zogen 2021 von den USA nach Taiwan.
Als [7][russische Panzer am frühen Morgen des 24. Februar 2022] die Grenze
zur Ukraine überquerten, saß Khomenko im Chinesischunterricht und scrollte
fassungslos durch Twitter. Knapp zwei Stunden später stand er vor der
russischen Wirtschaftsvertretung, mit einer ukrainischen Flagge und einem
Schild: Russia out of Ukraine.
In den ersten Monaten des Krieges protestierte er dort jeden Tag,
mittlerweile immerhin noch zweimal pro Woche. Er blieb nicht lange allein.
Zwei Wochen nach Beginn des Krieges demonstrierten 1.500 Menschen in Taipeh
gegen den russischen Angriffskrieg. Ein Solidaritätsbündnis für die Ukraine
organisiert regelmäßig Veranstaltungen in Taipeh. Nicht ganz ein Jahr
später steht er weiter vor dem Gebäude der Wirtschaftsvertretung. Von Zeit
zu Zeit laufen dessen Mitarbeitende vorbei und blicken dabei verstohlen
Richtung Mahnwache. Alex Khomenko ruft ihnen nach: „Slawa Ukrajini“ – Ruhm
der Ukraine.
Wer will, kann gegen eine Spende Atemschutzmasken in den ukrainischen
Nationalfarben Blau und Gelb mitnehmen. Ein Uber-Fahrer bringt den
Demonstrierenden gratis Kaffee. Er sehe die Mahnwache jede Woche während
seiner Arbeit, sagt er, und wolle so Solidarität zeigen. Alex Khomenko
sagt: „Die Aufmerksamkeit hat in den letzten Monaten etwas nachgelassen.
Und natürlich ist die Ukraine für viele Menschen in Taiwan weit entfernt.
Doch wir erleben noch immer viel Unterstützung. Und die taiwanische
Regierung steht seit dem ersten Tag hinter uns.“
## Taiwan bereitet sich auf Ernstfall vor
Hat der Krieg die Haltung der taiwanischen Bevölkerung zu China verändert?
Zumindest scheinen viele nun zu merken, dass die Demokratien der Welt
wachsamer sein und zusammenstehen müssen. Tschechien und Litauen knüpften
in letzter Zeit engere Verbindungen zu Taiwan. Die Ukraine prüft, ein
Vertretungsbüro in Taiwan zu eröffnen – auch auf Initiative von Alex
Khomenko.
Taiwan beginnt nun, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Ende Dezember
verkündete Präsidentin Tsai Ing-wen, ab Anfang 2024 die
Pflichtwehrdienstzeit von vier Monaten auf ein Jahr zu verlängern.
Zivilgesellschaftliche Initiativen sensibilisieren für die Kriegsgefahr und
bieten Trainingseinheiten für Freiwillige an. Für Khomenko sind das
ermutigende Entwicklungen.
Lin Tzu-Chin ringt um die richtigen Worte, wenn er über die aktuelle Lage
Taiwans spricht. „Natürlich wissen wir um die Gefahr, die von der
chinesischen Regierung ausgeht. Damit leben wir schon über Jahrzehnte. Doch
wir können nicht die ganze Zeit damit verbringen, über diese Bedrohung
nachzudenken.“
Die wirtschaftliche Elite Taiwans habe ohnehin meist eine doppelte
Staatsbürgerschaft. Deren Kinder studieren fast alle im Ausland. Sie können
Taiwan ohne große Probleme verlassen oder haben es bereits – auch das
gehört für Lin Tzu-Chin zur Realität dazu. „Wer in Taiwan bleibt, hat keine
andere Wahl, als hier sein Glück zu suchen. Wir sind zum Optimismus
verdammt.“
Auch Xinxin bleibt optimistisch. Sie wünscht sich für ihre Zukunft vor
allem Frieden zwischen China und Taiwan, ein gutes Leben mit ihrer Familie
und die Chance, die Welt noch weiter zu entdecken. Ein neuer, besserer Pass
könnte ihr dabei sicher helfen. Doch noch sind sie und ihr Mann auf
Wohnungssuche.
21 Feb 2023
## LINKS
[1] https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.konflikt-mit-china-welche-staaten…
[2] https://www.henleyglobal.com/passport-index/ranking
[3] https://www.tpof.org
[4] /Treffen-von-Joe-Biden-und-Xi-Jinping/!5892103
[5] /Militaermanoever-vor-der-Kueste-Taiwans/!5872961
[6] https://www.mac.gov.tw/en/News_Content.aspx?n=BEC36A4A0BB0663C&sms=BF82…
[7] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
## AUTOREN
Leonardo Pape
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