# taz.de -- Die Wahrheit: Grübel-Gang Amazon | |
> Es muss verdammt noch mal einen Grund dafür geben, dass die Mutter aller | |
> Lieferdienste einem ständig eine ganz bestimmte Mail schickt. | |
Bild: Hat den Durchblick, was Freiheit bedeutet: Makake | |
Wir leben in Zeiten der Ungewissheit und des Zweifels. Was gibt uns | |
überhaupt noch Halt, was lenkt uns in die richtigen Bahnen? Einige Monate | |
ist es her, dass ich zum ersten Mal eine automatisch generierte E-Mail von | |
Amazon erhielt, deren Betreffzeile mich stutzen ließ. Sie lautete: „Torsten | |
Gaitzsch, fragen Sie sich manchmal, ob Ihre Rezensionen überhaupt bemerkt | |
werden?“ | |
Nein, das hatte ich mich noch nie gefragt, und so kurz, wie ich ob dieser | |
Botschaft die Stirn runzelte, so rasch war die Mail gelöscht, und ich | |
dachte nicht weiter über sie nach. Bis ich ein paar Wochen später eine | |
zweite mit selbiger Betreffzeile erhielt: „Torsten Gaitzsch, fragen Sie | |
sich manchmal, ob Ihre Rezensionen überhaupt bemerkt werden?“ Abermals | |
schob ich die unerwünschte Elektropost in den Papierkorb, schwor mir, | |
keinen weiteren Gedanken an diese Stichelei zu verschwenden. Ich trottete | |
durch den Alltag, ein neues Jahr gab sich die Ehre, der Winter tat seine | |
Pflicht. | |
Gestern dann, während ich arglos meinem unsinnigen Tagwerk nachging, traf | |
es mich wie ein Blitz. Eine neue Mail. Absender: Amazon. Empfänger: ich. | |
Betreff: „Torsten Gaitzsch, fragen Sie sich manchmal, ob Ihre Rezensionen | |
überhaupt bemerkt werden?“ Ich erhob mich von meinem Stuhl, auf dem ich vor | |
meinem Rechner gesessen hatte. Ich klappte das Notebook zu. Zog mir den | |
Mantel über. Ging nach draußen. Suchte die nächste Bar auf, betrat sie. | |
In diese stickige Sperrstundenverweigerungskaschemme hatte ich mich noch | |
nie verirrt. Ich setzte mich an die Theke. Meine Augen bewältigten die | |
Dunkeladaptation in diesem unwirtlichen Zwielicht nur mit Mühe, suchten das | |
Kneipeninnere nach Lebenszeichen ab. Knapp zwei Meter weiter, am anderen | |
Ende des Tresens, konnte ich einen gebrochen wirkenden Mann ausmachen, ein | |
Häufchen Elend, eine verlorene Seele. | |
„Herrgott“, sprach ich ihn an, nachdem ich näher an ihn herangerückt war | |
und in seine dick geränderten, toten Augen geblickt hatte, „Sie sehen ja so | |
fertig aus, wie ich mich fühle! Und ich weiß nicht mal, wie ich mich fühle | |
…“ | |
Der Kerl schluchzte und senkte sein Haupt. „Wissen Sie“, flüsterte er ohne | |
hörbare Emotion, „wissen Sie, was ich mich manchmal frage? Ich frage mich | |
manchmal, ob meine Rezensionen überhaupt bemerkt werden.“ Langsam nickte | |
ich ihm wissend zu und orderte zwei doppelte Whisky. Der Barkeeper | |
schmunzelte: „Bekäme ich jedes Mal einen Euro, wenn ich jemanden höre, wie | |
er sich diese Frage stellt …“ | |
Deutsche Medien haben es längst als Volkskrankheit identifiziert: | |
„Gefährliches Grübeln: So entkommen Sie Ihren Gedankenschleifen“ (Der | |
Spiegel); „Psychologie: Gefangen in der Grübelschleife“ (FAZ); „Schluss … | |
Grübelei: Sieben Methoden, die beim Abschalten helfen“ (Die Zeit). | |
Und wer ist wieder einmal schuld an allem? Jeff Bezos. | |
15 Feb 2023 | |
## AUTOREN | |
Torsten Gaitzsch | |
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