# taz.de -- Die Wahrheit: Mein Leben unter Heizpilzen | |
> Eine nächtliche Fahrt durch Wien. Eine schöne Stadt, die aber in den | |
> achtziger Jahren steckengeblieben ist. | |
Bild: Wolo so far, you’re a video star | |
Neulich in einem Auto gesessen und auf dem Weg zurück von einem wieder | |
einmal erfolglosen Auswärtsspiel durch das abendliche, fast nächtliche Wien | |
gefahren worden. Nachts muss sich die schöne Stadt nicht verstecken, aber | |
Wien steckt wie im Sprichwort – hier passiert alles 50 Jahre später, wie | |
angeblich bereits Gustav Mahler meinte – noch in den achtziger Jahren, was | |
man am urigen Einzelhandel sieht, an den schlecht gekleideten Leuten, die | |
anders schlecht gekleidet sind als die in Berlin, nämlich ohne den | |
trotzigen Zwang zur Originalität, an den Tischtennisklubs, den | |
Holzvertäfelungen, der Architektur, dem Autoverkehr. | |
Wien ist und bleibt eine Autostadt, man düst so dahin, zumindest abends, | |
denn abends ist Autofahren noch so, wie es sein sollte, freie Fahrt für | |
freie Bürger. Im Autoradio laufen die alten Hits, die grüne Welle wird | |
immer nur gerade so erreicht und irgendwie ist Autofahren noch schön und | |
stimmt einen gleichzeitig melancholisch. | |
Keine Ahnung, vielleicht stecke ich zu sehr in einer grün-bourgeoisen | |
Blase, obwohl ich mich immer wieder dagegen wehre. In einer Blase, die für | |
die Umwelt ist, aber Auto fährt, angeblich der Kinder wegen; in einer | |
Blase, die Plastik und Fleisch hasst, aber sich dreimal die Woche | |
Fair-trade-Klamotten per Paketdienst liefern lässt. Jedenfalls dachte ich | |
bei Betrachtung des abendlichen Stadtbetons, die Welt, wie ich sie kannte, | |
geht unter – langsam, aber unerbittlich, wir konsumieren und autofahren sie | |
zu Grunde, und eigentlich ist das sehr schade. | |
Als ich am nächsten Mittag in einer eins zu eins umgesiedelten | |
Achtziger-Jahre-Pizzeria saß, die treffend „Mafiosi“ hieß, musste ich fast | |
heulen, als über die Lautsprecher „Words“ von F. R. David lief, vermutlich | |
über Spotify. Die Pizzeria musste aus ihren Räumen raus und hat die | |
trashige Einrichtung einfach in die neuen Räume mitgenommen, was soll auch | |
das Wörtchen „neu“, besser wird es eh nicht. | |
„Words“ ist ein unterschätzter, brillanter Popsong, der neu war, als ich | |
elf war und mit solchen Pizzerien kleine Paradiese entstanden, die an die | |
adriatischen Sommer denken ließen, das Nonplusultra des kleinbürgerlichen | |
Lebens. Als ich elf war, fand ich es in unseren Breiten nämlich viel zu | |
kalt, besonders an Wintertagen, in denen ich über Heizjacken nachdachte, | |
die über einen kleinen Akku beheizbar wären, immer noch eine gute Idee. | |
In Wien sind Heizpilze noch erlaubt, sie heißen sinnigerweise | |
„Heizschwammerl“, stehen aber nur in touristischen Zonen und nicht in den | |
Straßen, durch die ich laufe. Dabei wäre das doch eine gute Idee, eine | |
Heizschwammerlallee, in der niemand mehr frieren muss! | |
Jetzt heißt es, dass Italien zu uns kommt, über die Alpen schwappt, ein | |
Traum, der ein Albtraum ist oder umgekehrt, aber bitte, was spricht denn | |
schon gegen ein bisschen mehr Wärme? Heizen ist doch eh so teuer geworden! | |
31 Jan 2023 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
## TAGS | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Wien | |
Autos | |
Achtziger Jahre | |
Tag der Arbeit | |
Schlager | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Wolodymyr Selenskij | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Mein Leben als Tag der Arbeit | |
Aus der Selbstausbeutung in der Subkultur lässt sich nur schwer Kapital | |
schlagen. | |
Die Wahrheit: Mein Leben als Boogie | |
In der analogen Ära des deutschen Schlagers wurden US-Hits gern | |
eingedeutscht. Mitunter erhielten die Songs dabei eine andere Bedeutung. | |
Die Wahrheit: Mein Leben als T-Shirt | |
Karl Marx als Kinderbuchautor. Fast so woke wie sein Kollege Roald Dahl. | |
Jedenfalls mit jeder Menge diskriminierender Schimpfwörter. | |
Die Wahrheit: Der Videot und seine Follower | |
Einige Anmerkungen zum allgegenwärtigen Fernsehdauergast Wolodomir Selenski | |
und seinen sehr erfolgreichen TV-Predigten. | |
Die Wahrheit: Mein Leben als Beatlesfilm 2 | |
Von Gina Nazionale zum größten Wichser der Rockwelt in nur dreißig Zeilen. | |
Und Paul lebt immer noch. | |
Die Wahrheit: Mein Leben als Beatles-Film | |
„Yesterday“ war gestern, morgen kommt „Misery“. Wäre die Welt ohne Rom… | |
nicht eine bessere? | |
Die Wahrheit: Mein Leben als Film | |
Ich bin Marilyn Monroe. Nun gut, nicht so schön und nicht so tragisch. Und | |
auch nicht bei der Vorliebe für weiße Bademäntel. |