| # taz.de -- Getötete Soldaten in der Ukraine: „Unsere Toten sind keine Stati… | |
| > Lange stand „Fracht 200“ auf ukrainischen Fahrzeugen, die Leichen von | |
| > Soldaten transportierten. Inzwischen ist der Code aus Sowjetzeiten | |
| > verboten. | |
| Bild: Der „Code 200“ hat inzwischen ausgedient: Nach und nach werden Fahrze… | |
| Luzk taz | Die Überführung getöteter Soldaten ist in der Ukraine | |
| hauptsächlich eine Aufgabe für Freiwillige. Menschen spenden Geld für den | |
| Kauf von Kühlwagen und Benzin. Oft werden diese Missionen von Frauen | |
| geleitet. Erkennbar waren die Transporte bislang daran, dass die Fahrzeuge | |
| mit der Aufschrift „200“ oder „Fracht 200“ versehen waren. Doch das ist | |
| jetzt anders. | |
| Die Ehrenamtliche Tata Kepler war es, die die Veränderungen initiierte. Ihr | |
| war im Sommer ein Kühlwagen gebracht worden, mit dem die sterblichen | |
| Überreste der getöteten Soldaten transportiert werden sollten. Auf ihrem | |
| Hof in Kyjiw stand ein weißer Bus mit der schwarzen Aufschrift „200“. Sie | |
| und ihre Bekannten – ein Veteran, ein Notfallmediziner, eine andere | |
| Freiwillige – sahen sich das an. „Uns fiel diese Inschrift auf“, erzählt | |
| Tata Kepler. Jemand habe dann gesagt: „Dieses ‚Fracht 200‘, das ist ein | |
| Relikt der UdSSR. Wie ist das möglich, wann wird sich das ändern?! Unsere | |
| Toten sind keine Statistik.“ Eine andere Freiwillige, Lenja Ostaltsewa, | |
| habe vorgeschlagen, stattdessen „Auf dem Schild“ auf das Fahrzeug zu | |
| schreiben. | |
| Der Ausdruck stammt aus Plutarchs Schriften über das alte Sparta. Dort wird | |
| der Abschiedsgruß einer Mutter zitiert, deren Sohn in den Krieg zieht und | |
| die ihm seinen Schild überreicht: „Komm mit ihm wieder zurück oder auf | |
| ihm!“ Dies wird heute gemeinhin als Aufruf zu siegen verstanden – oder | |
| ehrenvoll zu sterben. Eine Botschaft, die den Freiwilligen in Kyjiw passend | |
| schien. „Das ukrainische Militär ist keine Statistik, es kämpft für die | |
| Möglichkeit, dass wir in Freiheit leben können. Wir müssen die Toten mit | |
| großem Respekt behandeln“, beschreibt es Tata Kepler. „Unsere Jungs kommen | |
| mit einem Schild oder auf einem Schild zurück“. | |
| Sie setzten die Idee um: Lenja Ostaltsewas Mutter, eine Künstlerin, | |
| entwickelte eine Schriftart für den Spruch; das Fahrzeug wurde frisch | |
| lackiert und an die Front geschickt. Nachdem Tata Kepler ein Foto mit der | |
| neuen Aufschrift auf Facebook gepostet hatte, schrieben ihr bald andere | |
| Freiwillige mit der Bitte, auch für sie Autos neu zu lackieren. | |
| ## Code aus dem Jahr 1984 | |
| Ruslan Zabilyj aus Lwiw ist einer von denen, [1][die in der Ostukraine | |
| kämpfen]. Im zivilen Beruf ist er Historiker. Zabilyj erzählt, dass der | |
| Ausdruck „Fracht 200“ seit dem [2][Krieg in Afghanistan] und später auch in | |
| vielen Armeen der ehemaligen UdSSR verwendet worden sei. „Der Begriff | |
| ‚Zweihundertster‘ tauchte erstmals in der Anordnung des | |
| Verteidigungsministeriums der UdSSR vom 8. Oktober 1984 auf“, sagt Zabilyi. | |
| Auf dem Höhepunkt des Afghanistankrieges hätten die sowjetischen Behörden | |
| Neuerungen beim Transport getöteter Soldaten eingeführt. | |
| „Einer anderen Version zufolge wurde der Begriff aufgrund des | |
| Standardgewichts des Containers mit dem Körper eines toten Soldaten | |
| verwendet – im Durchschnitt wog ein Zinksarg 200 Kilogramm“, ergänzt der | |
| Historiker. Der Transport Verwundeter wiederum wurde „Fracht 300“ genannt, | |
| „Fracht 100“ stand für Waffen sowie Munition. | |
| 2014, [3][nach Beginn des Krieges in der Ostukraine], stand „Fracht 200“ | |
| auch in der ukrainischen Armee auf Fahrzeugen, mit denen tote Soldaten | |
| transportiert wurden. Anatoli Gudymenko, ehemaliger Freiwilliger der | |
| Mission „Evakuierung 200“ und jetzt Soldat bei den ukrainischen | |
| Streitkräften, erzählt, dass er mit dieser Aufschrift auf dem Auto | |
| unterwegs gewesen sei. „Wir fuhren in das besetzte Gebiet, um die Leichen | |
| unserer Soldaten zu holen. Um Fragen zu vermeiden, verwendeten wir die | |
| Aufschrift in russischer Sprache“, erzählt Gudymenko. „Jetzt jedoch will | |
| ich überhaupt nichts mehr mit Russland zu tun haben, also müssen diese | |
| Dinge geändert werden.“ | |
| Ihor Morinenko, Offizier der ukrainischen Streitkräfte in Sumy, beschreibt, | |
| welche Bedeutung der Wechsel der Bezeichnung aus seiner Sicht hat: „In der | |
| UdSSR zählten die einzelnen Menschen nichts. Was zählte, waren der | |
| Transport, das Gewicht eines Zinksargs und die Anzahl im Flugzeug. Da wir | |
| versuchen, uns von all dem zu lösen und einen sehr hohen Preis dafür | |
| zahlen, braucht es für zukünftige Generationen andere Werte und einen | |
| anderen Umgang mit unseren Soldaten.“ | |
| Einer der Ersten, die zu der Veränderung aufgerufen hatten, war der Blogger | |
| und Soldat Waleri Markus. „Der Kämpfer hat für jeden von uns einen hohen | |
| Preis bezahlt, daher können wir den Preis des Lebens nicht abwerten und den | |
| Verstorbenen mit dem sowjetischen Begriff ‚200‘ bezeichnen“, sagt er. | |
| Markus kommandiert heute die 47. Brigade der ukrainischen Streitkräfte. Sie | |
| war eine der ersten in der ukrainischen Armee, die aufhörten, die | |
| Bezeichnung zu verwenden. | |
| ## Klare Abgrenzung zu „den Russen“ | |
| Und der ukrainische Generalstab schloss sich den Initiativen an. Die | |
| Mission „Evakuierung 200“ wurde umbenannt. „Unsere gefallenen Verteidiger | |
| sind Persönlichkeiten, Stolz und Ehre des Staates und nicht irgendeine | |
| ‚Fracht 200‘“, so der Generalstab. Die Verwendung ist inzwischen verboten. | |
| Tata Kepler hat mindestens ein Dutzend Anfragen für den neuen Schriftzug | |
| und für Hilfe beim Lackieren bekommen. Ihr ist es wichtig, dass die | |
| Änderung als klare Abgrenzung zu „den Russen“ verstanden wird, von denen | |
| man sich „in allem“ unterscheide, in der Lebenseinstellung, dem Respekt vor | |
| dem Tod. „Die Bezeichnung ‚Fracht 200‘ entmenschlicht, während ‚auf ei… | |
| Schild‘ Respekt einflößt“, fasst sie noch einmal zusammen. | |
| Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
| Juri Konkewitsch lebt und arbeitet in Luzk. Seit Beginn des Krieges am 24. | |
| Februar 2022 schreibt er regelmäßig für die taz | |
| 30 Jan 2023 | |
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| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan | |
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| Juri Konkewitsch | |
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