# taz.de -- Nach dem Angriff auf Makijiwka: Eine Mauer des Schweigens als Absch… | |
> Viele russische Soldaten aus Samara starben an der Front im ukrainischen | |
> Makijiwka. Angehörige machen sich selbst auf die Suche nach | |
> Informationen. | |
Bild: Was übrig blieb: ein Helm im ukrainischen Makijiwka, nach dem Beschuss e… | |
Nach einer kurzen Tauwetterphase zu Silvester hat sich Samara, eine | |
Industriestadt mit über einer Million Einwohnern an der Wolga, Anfang | |
Januar erneut in einen Eisblock verwandelt. Das Thermometer zeigt minus 30 | |
Grad. Das Eis reflektiert spielerisch die Lichter der Girlanden, was die | |
Stadt festlich erscheinen lässt. Musik erklingt und die Menschen haben es | |
eilig, in den verbleibenden Ferientagen etwas Spaß zu haben. Beim Schein | |
dieser Lichter, dem Klang von Musik und Festtagsstimmung werden in der | |
Weihnachtsnacht Särge nach Samara gebracht. In der vereisten Erde müssen | |
dringend Gräber für die Verstorbenen im ukrainischen Makijiwka ausgehoben | |
werden. Wie viele Gräber? Und wie viele Soldaten sind im April im | |
Zusammenhang mit dem Beschuss des Kreuzers „Moskwa“ gestorben? (Die | |
„Moskwa“ sank am 14. April 2022 nach einem Raketenangriff vor Odessa; d. | |
Red.) Genau weiß das niemand. | |
In der Nacht zum 1. Januar [1][zerstörten ukrainische Luftangriffe mit dem | |
Mehrfachraketenwerfersystem Himars in der Stadt Makijiwka] bei Donezk die | |
Berufsschule Nr. 19, die in eine Kaserne für russische Truppen umgewandelt | |
worden war. Laut dem Webportal New Europe ist dort seit dem 17. Dezember | |
2022 eines der Bataillone des 44. Regiments der 2. russischen Gardearmee | |
stationiert. Einberufene Soldaten aus der Region Samara wurden diesem | |
Regiment zugeteilt. Niemand nennt die genaue Zahl der Toten. | |
Der Militärkommissar der Region Samara mit Namen Wdowin kündigte an, sie | |
würden nicht namentlich genannt: Es würden keine Listen veröffentlicht, | |
damit der ukrainische Geheimdienst diese Informationen nicht bekomme. Die | |
Menschen in Samara versuchen, auf eigene Faust zumindest einige | |
Informationen zu sammeln und ihre eigenen Berechnungen anzustellen. | |
„Drei Bataillone sind im Dezember dorthin aufgebrochen“, raunt eine Frau | |
bei der Beerdigung eines Wehrpflichtigen in Nowokuibyschewsk. „Das erste | |
und zweite Bataillon wurden am 28. Dezember an die Front geschickt, ich | |
weiß es genau, beide Söhne eines Nachbarn wurden eingezogen. Das dritte | |
Bataillon blieb in der Kaserne, offensichtlich warteten alle auf | |
Ausrüstung. Doch zu einem Kampfeinsatz kam es gar nicht erst.“ | |
## Angehörige suchen selbst nach Informationen | |
Laut den Informationen, die die Samaraner untereinander austauschen, kam | |
die Ausrüstung nach und nach in Makijiwka an, sie wurde neben dem Gebäude | |
der Berufsschule abgestellt, um den Feind unmittelbar nach den Feiertagen | |
anzugreifen. Munition wurde in der Kaserne gelagert. Diese detonierte durch | |
Raketeneinschläge und die Ausrüstung fing Feuer. Von dem dreistöckigen | |
Gebäude blieben nicht einmal Ruinen übrig. | |
Ein weiteres Regiment, das 43., das aus in der Region Samara mobilisierten | |
Soldaten besteht, bleibt derweil in einer Ausbildungsbasis im Dorf | |
Roschinsky, 20 Kilometer von Samara entfernt. Einem Bataillon gehören 580 | |
Mann an. Anhand dieser Daten lässt sich abschätzen, dass sich zum Zeitpunkt | |
des Einschlags ungefähr gleich viele Personen im Gebäude der Berufsschule | |
aufgehalten haben. | |
Der ukrainische Geheimdienst behauptet, dass es auch eine Spezialeinheit | |
aus Verbindungsoffizieren, Artilleristen und Einheiten der russischen Garde | |
gegeben habe, aber dieses Militärpersonal habe Silvester woanders | |
verbracht. Es gibt auch das Gerücht, wonach sich einige Mobilisierte | |
unerlaubt vom Einsatzort entfernt hätten, was ihnen das Leben rettete. | |
In ukrainischen Quellen tauchten Daten über sechshundert Leichen auf, die | |
in zwölf Lastwagen aus den Trümmern geholt worden waren. In Samara glaubt | |
das niemand. Die Informationen, die in den ersten Tagen nach dem Angriff | |
aufgetaucht sind, haben sich nicht geändert: 89 Leichen wurden | |
identifiziert. | |
Wie schon [2][bei dem Kreuzer „Moskwa“] gelten die übrigen Soldaten als | |
vermisst, sofern sie sich nicht selbst bei ihren Angehörigen gemeldet | |
haben. Für Vermisste wird den Angehörigen keine Entschädigung gezahlt. | |
## Verteidigungsministerium macht Soldaten verantwörtlich | |
Das Verteidigungsministerium machte die Mobilisierten selbst für ihren Tod | |
verantwortlich: Sie hätten telefoniert und so den feindlichen Beschuss | |
verursacht. Später tauchte ein Video im Internet auf: Ein großer und | |
offensichtlich nicht mehr junger Mann mit entstelltem Gesicht stellt sich | |
als Anton Golowinski vor und sagt, dass ein gewisser Oberst Enikejew, der | |
ein Bataillon in einem Saal versammelt hatte, um Präsident Wladimir Putin | |
zuzuhören, alle getötet habe. Zu dem Video gibt es einen Nachtrag: Anton | |
Golowinski ist kurz nach der Aufnahme des Videos an Verbrennungen | |
gestorben. | |
Wenn man an der Wohnung klingelt, in der Anton Golowinski gelebt hat, | |
meldet die Gegensprechanlage einen Fehler. Seit September war dort niemand | |
mehr. Ljuba, eine Nachbarin, die Anton seit seiner Kindheit kannte, sagt | |
selbstbewusst: Das sei nicht er auf dem Video. Der echte Golowinski ist | |
ihrer Meinung nach ein junger, dünner und kranker Mann. Er wurde | |
tatsächlich im September einberufen, obwohl die Nachbarin immer noch nicht | |
verstehen kann, wie es dazu kam. | |
„Er scheint in der Psychiatrie gewesen zu sein, er war drogenabhängig“, | |
sagt sie. „Dann war offensichtlich alles normal, er heiratete, zwei Kinder | |
wurden geboren. Aber 2019 ist etwas mit ihm passiert, niemand weiß es. Er | |
ist aus dem Haus gesprungen, nackt die Straße entlanggerannt, hat sich | |
überall geschnitten … Ich weiß nicht, wie sie ihn jetzt mitgenommen haben.�… | |
Besagter Oberst Enikejew wurde bei dem Angriff auf die Kaserne offenbar | |
nicht verletzt. Bis September arbeitete Roman Enikejew im regionalen | |
Verkehrsministerium, von dort wurde er mobilisiert, erhielt das Kommando | |
über das 44. Regiment und erklärte den Rekruten, dass „jeder Mann in | |
Russland ein Krieger ist“. Verwandte der Einberufenen, die Enikejew | |
unterstanden, sagen, dass er in der Nacht des 1. Januar nicht in der | |
Kaserne gewesen sei. | |
## Keine Abschiedszeremonie für die Helden organisiert | |
Niemand in Samara wusste, wann und wohin die Leichen gebracht werden | |
würden. Ein Polizeiauto mit Blaulicht war beim Leichenschauhaus in der | |
Tuchatschewskistraße im Einsatz, dann stellte sich heraus, dass in der | |
Dserschinskistraße ein Sarg erwartet wurde. Später wurde klar, dass einige | |
Leichen nach Samara gebracht worden waren, andere nach Nowokuibyschewsk, | |
Mirny, Toljatti, Sysran sowie in andere Städte und Dörfer, wo Soldaten | |
rekrutiert worden waren. Das ist logisch: Einerseits müssen die Helden zu | |
Hause begraben werden, andererseits werden sich nicht zu viele Trauernde | |
auf einmal versammeln. Niemand würde eine allgemeine Abschiedszeremonie für | |
die Helden arrangieren. | |
Alexander (Name geändert) ging zum Militärregistrierungs- und | |
Rekrutierungsbüro, um herauszufinden, wo sein Freund war. Der war im | |
September einberufen worden, und seit Dezember hatte man nichts mehr von | |
ihm gehört. Aber in dem Büro können nur Verwandte Auskunft erhalten. „Der | |
Freund ist 42 Jahre alt“, erzählt Alexander. „Sagen wir so: Sein | |
Arbeitgeber hat ihn hereingelegt und ihm zweieinhalb Millionen Rubel | |
Schulden angehängt. Diese Schulden hat er seit fünf Jahren am Hals. Ich | |
habe ihm gesagt: Melde Insolvenz an. Und dann kann die Mobilmachung. Er ist | |
in den Krieg gezogen, um Geld zu verdienen. Er sagte, dass sie so und so | |
viel für eine Verletzung versprechen. Nach dem Motto: Er verliert sein Bein | |
und bekommt dafür drei Ljam“ (umgangssprachlicher Begriff für 1 Million | |
Rubel; d. Red.). | |
Im Dorf Mirny wird das Weihnachtskonzert am 7. Januar im Neftjanik-Club | |
abgesagt. Aber niemand traut sich, die festliche Dekoration von der Straße | |
zu entfernen. Unter dem Lichtschein der Neujahrsgirlanden stehen im Foyer | |
zwei Särge. Frauen in Schwarz und mit geschwärzten Gesichtern sitzen | |
nebeneinander auf Stühlen. Die Dorfbewohner sind gekommen, um ihr Beileid | |
zu bekunden, beugen sich über die Fenster in den Deckeln der Särge, | |
betrachten die Wachsmasken, legen Nelken nieder und gehen wieder. Der | |
Geruch von Melissengeist hängt in der Luft. Auf einem der Kränze auf dem | |
ersten Sarg ist zu lesen, dass der Verstorbene Dmitri Alexandrowitsch hieß. | |
Auf dem zweiten Sarg liegen mehrere Kränze, sodass der Name nicht sichtbar | |
ist. | |
In der Nähe der Trauerhalle läuft ein stämmiger betrunkener Mann in | |
ausgelatschten Turnschuhen herum. Er weint, aber nicht um die Toten. Sein | |
Name ist Andrei, er wurde wie die anderen auch einberufen, nur ist er noch | |
nicht in den Krieg gezogen. Am Tag nach der Beerdigung muss Andrei ins | |
Ausbildungslager nach Roschinskoje zurückkehren, die Neujahrspause ist | |
vorbei. Eine Angestellte des Neftjanik-Clubs, eine hübsche blonde Frau, | |
versucht, ihn zum Weinen nach draußen zu bringen. Aber ihr Bedürfnis, dabei | |
ein trauriges Gesicht zu machen, hindert sie daran, entschlossen zu | |
handeln. | |
Als der Mann hört, dass die Presse da ist, platzt es aus ihm heraus. „Ich | |
bin genau wie sie“, sagt er und beginnt schnell zu erzählen, „Ich bin 50 | |
Jahre alt, und sie haben mich illegal weggebracht. Ich ging auf den | |
Wehrbeauftragten zu, sah ihm in die Augen und er sah mich so an – ohne | |
jegliche Scham, ohne schlechtes Gewissen …“ Ohne ihre Lippen zu spitzen, | |
wiederholt die Frau: „Mobilisierung bis zum Alter von 50 Jahren …“ Dann | |
zieht sie den armen Mann an seinem anderen Arm in Richtung Ausgang. | |
„Ich habe früher als Fahrer gearbeitet“, fährt Andrei fort. „Mir wurde | |
gesagt, ich solle Maschinengewehrschütze werden. Aber ich bin in einem | |
Alter, in dem ich nicht mehr so gut sehen kann. Und morgen fahre ich schon | |
dorthin. Wir wurden am 27. Oktober einberufen. Ich war der Letzte, der zum | |
Einberufungsamt ging. Ich habe einen Nabelbruch! Dann haben sie uns an | |
Silvester beurlaubt, und morgen geht es los. Was soll ich denn jetzt tun?!“ | |
Er macht sich erneut von der blonden Frau los und lässt sich auf einen | |
Stuhl im Eingangsbereich fallen, krempelt seine Jogginghose hoch und zeigt | |
seine dünnen Schienbeine voller Geschwüre. Dann springt er auf, zieht | |
seinen Pullover hoch und deutet auf seinen Nabelbruch. | |
## „Du wirst trotzdem dienen …“ | |
„Genau so waren sie, ich kannte die beiden“, sagt er und zeigt mit dem | |
Finger auf die Särge. „Eine medizinische Kommission hat uns untersucht, | |
aber sie hat nichts gesehen. Ich habe eine Eisennadel in meinem Bein und es | |
heißt, dass die Minen darauf sofort reagieren. Deswegen haben sie keinen | |
mit Implantaten mitgenommen – nur mich. Ich kann nicht dahin! Aber ich | |
meine, ich kann nirgendwo anders hin. Und sagen Sie mir: Warum?! Der | |
Militärkommissar fragte mich: Willst du dienen? Ich sagte nein, ich kann | |
das aus gesundheitlichen Gründen nicht. Und er antwortete mir: „Du wirst | |
trotzdem dienen …“ | |
Bestattungen gibt es am 8. Januar in vielen Städten und Dörfern in der | |
Region. In Samara melden Unbekannte eine Kundgebung auf dem Platz des | |
Ruhmes an. Von den Behörden wird eine Trauerfeier gefordert, und | |
denjenigen, die es wagen, an der Kundgebung teilzunehmen, wird kostenloser | |
Wodka versprochen. Etwa 40 Minuten nach Beginn der Kundgebung ertönt auf | |
dem Platz laute Musik, die die Polizisten in Neujahrsstimmung versetzt. Es | |
sind etwa ein halbes Dutzend, und neben ihnen kommt ein Schawarmaverkäufer | |
hinter seinem Stand hervor. Die Autorin des Textes zieht ihre Kamera aus | |
der Tasche. Sie wird umgehend festgenommen, weil sie an einer illegalen | |
Massenveranstaltung teilgenommen hat. | |
Die nächsten zwei Stunden verbringt sie auf der Polizeiwache und kann | |
deshalb nicht herausfinden, wie viele Einwohner von Samara zu der | |
Trauerfeier gekommen sind. | |
Währenddessen wird in Marjewka, ebenfalls in der Region Samara, der | |
einberufene Alexander Androsow beerdigt. Er war 38 Jahre alt. Seine Mutter | |
blieb allein im Dorf zurück, während er mit seiner Frau und Tochter in | |
Samara wohnte. Dort arbeitete er als Fahrer für einen Lebensmittelladen. | |
Eines Tages wurde er betrunken am Steuer erwischt. Dann tauchte sein Name | |
in Polizeiberichten im Zusammenhang mit einem Diebstahl auf: Einem | |
Dorfbewohner waren eine Autobatterie, ein Ersatzrad und Benzin entwendet | |
worden. | |
Sein Klassenkamerad Wjatscheslaw erklärt sich bereit, mehr über ihn zu | |
erzählen: „Sascha war ein ruhiger, gelassener, aktiver, geselliger, | |
positiver Mensch. Fast jede Woche kam er, um seiner Mutter zu helfen. | |
Ansonsten: Arbeit, Familie, Hobbys. Er liebte es zu angeln. Er verdiente | |
gutes Geld, führte ein gesundes Leben, trank und rauchte nicht.“ | |
Alle fünf Jahre sahen sich die beiden Schulfreunde beim Klassentreffen | |
wieder – das letzte Mal im Juni 2022. Seit vier Monaten war Krieg, aber auf | |
der Party wurde nicht darüber gesprochen. „Das Thema Krieg tauchte nicht | |
einmal auf“, sagte Wjatscheslaw. „Das sind eben Militäreinheiten und sie | |
kämpfen.“ | |
## Teilmobilmachung am 21. September | |
[3][Als im September die Teilmobilmachung begann], erhielt auch Androsow | |
die Einberufung. Er wurde von der militärischen Melde- und | |
Einberufungsstelle zu seiner Mutter nach Marjewka gebracht. Er ging zum | |
Einberufungsamt, und ein paar Tage später verabschiedete er sich von seiner | |
Familie. Er ging „zum Einsatzort“, als ob er angeln gegangen wäre. | |
Im Krieg wollte Androsow das tun, was er in friedlichen Zeiten immer tat: | |
Auto fahren und kaputte Technik reparieren. „Saschas größte Sorge war, ob | |
er nach seiner Rückkehr seine alte Stelle wiederbekommen würde. Ihm wurde | |
versprochen, dass sein Auto bei ihm bleibt und er nach dem Einsatz getrost | |
wieder zurückkehren könne“, erinnert sich Wjatscheslaw. | |
Am selben Tag findet in der Trauerhalle in Nowokuibyschewsk die Beerdigung | |
für den Fähnrich Georgi Loschkin statt. Rechts neben dem Sarg steht eine | |
weinende Frau. Hinter ihr, wie ein gepanzerter Block, sind eine Reihe | |
älterer Männer mit regungslosen Gesichtern zu sehen, die wie Veteranen des | |
Zweiten Weltkriegs gekleidet sind – mit Uniformen voller Orden und | |
Medaillen. Als einer von ihnen zum Rauchen hinausgeht, antwortet er auf die | |
Frage, ob er den Verstorbenen gekannt habe, lächelnd: „Nein, natürlich | |
nicht. Wir sind vom Bund der Reserveoffiziere. Wir werden immer gerufen, | |
wenn Soldaten die letzte Ehre erwiesen wird.“ | |
Die Frau, die am Sarg weint, schreit plötzlich laut. „Weg damit!“ ist zu | |
verstehen. Der Schrei wird von unterdrücktem Schluchzen abgelöst, und für | |
einen Moment herrscht Stille im Saal. Ein Priester kommt. Zwei Frauen mit | |
Kopftüchern, die sich durch den engen Raum quetschen, verteilen an jeden | |
Anwesenden eine Kerze. Einer nach dem anderen zündet die Kerzen an, der | |
Priester hält eine Trauerrede. Es ist ein wahres Wunder, dass die | |
Leichenhalle nicht in Brand gerät. | |
Georgi Loschkin war 46 Jahre alt. Sein ältester Sohn arbeitet als Arzt in | |
Nowokuibyschewsk. Der jüngste ist neunzehn Jahre alt. Loschkin selbst | |
arbeitete als Wachmann in einer Ölraffinerie und bekam einen geringen Lohn. | |
Als die Mobilmachung begann, meldete er sich als Freiwilliger. „Er war ein | |
kluger Mann“, erinnert sich Loschkins Nachbarin Marina. „Ich habe erst | |
neulich erfahren, dass er seine Frau belogen hat: Ihr hatte er gesagt, dass | |
ein Einberufungsbescheid gekommen sei. Unsere Söhne sind Klassenkameraden | |
und so erfuhren wir, dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Das macht | |
nicht jeder. Es war also ein Ruf der Seele, um für unser Land zu kämpfen. | |
Es geht doch um unsere Rus, die immer irgendwie …“, fügt sie hinzu und | |
lässt den Satz über das historische Gebiet in Osteuropa, das mehrheitlich | |
von Ostslawen bewohnt war, unvollendet. Marina hat einen Mann und einen | |
Sohn. Auf die Frage, ob sie sich wünsche, dass ihre Männer für das | |
Vaterland kämpfen, antwortet sie deutlich: „Nein, natürlich möchte ich das | |
nicht.“ | |
Einen Tag später werden in Nowokuibyschewsk drei weitere der in Makijiwka | |
Getöteten beigesetzt. Am Abend findet im Kulturzentrum ein | |
Weihnachtskonzert statt. „Warum sollten wir das Konzert absagen?“, fragen | |
ein Mitarbeiter des Kulturzentrums und ein Sicherheitsmann. | |
Bekannt ist bis jetzt, dass zehn Männer aus diesem kleinen Dorf im Krieg | |
gestorben sind. „Aber wir wissen nicht genau, wie viele unserer Leute | |
eingezogen worden sind. Und niemand sagt etwas. Unter den Trümmern befinden | |
sich noch viele Leichen“, sagt der Mitarbeiter. | |
## Strafe wegen „illegaler Befragung der Einwohner“ | |
Als die Autorin dieses Textes das Gebäude verlässt, stellt sich heraus, | |
dass sie ihren Mietwagen auf dem Parkplatz des Kulturzentrums nicht | |
ordnungsgemäß abgestellt hat. Ein Polizeikommissar sorgt für die Einhaltung | |
der Straßenverkehrsordnung in der Stadt. Allerdings fordert er statt des | |
Führerscheins den Reisepass und den Presseausweis. Statt um ein | |
Verkehrsdelikt geht es jetzt plötzlich um eine Strafe wegen „illegaler | |
Befragung der Einwohner“. Dem Gespräch folgt ein zweistündiger Aufenthalt | |
auf der Polizeiwache. | |
Am Morgen des 9. Januar wird Oberstleutnant Aleksej Bachurin, | |
stellvertretender Kommandeur des 44. Regiments, vom Offiziersverein aus | |
Samara in einer feierlichen Zeremonie verabschiedet. Der Gedenkgottesdienst | |
findet in derselben Halle statt, in der die Kinder am Tag davor um den | |
Weihnachtsbaum herumgetanzt sind. In dem Saal sind die Spuren des gestrigen | |
Festes beseitigt, sodass an den Wänden wieder Porträts von Stalin und | |
anderen „großen Marschällen“ hängen. Die Schautafel „Streitkräfte der | |
Russischen Föderation“ mit dem Porträt von Sergej Schoigu wird mit dem | |
Zitat des Verteidigungsministers eröffnet: „Wir brauchen eine starke, | |
professionelle und gut bewaffnete Armee für ein sicheres und friedliches | |
Wachstum unseres Landes.“ | |
Als der Sarg Richtung Friedhof getragen wird, dient dem Umzug die | |
Neujahrsdekoration des Platzes vor dem Opern- und Balletttheater als | |
Kulisse. Der Leichenwagen fährt durch die Stadt, die immer noch in | |
Feierstimmung ist, trotz des ersten Arbeitstags im neuen Jahr. | |
„Aleksej und ich haben gemeinsam gedient, ich war sein Kommandeur“, sagt | |
Wjatscheslaw, ebenfalls ein Freund von Oberstleutnant Bachurin. „Dann | |
trennten sich zum Teil unsere Wege. Ich ging in den Ruhestand, er setzte | |
seinen Dienst fort und schrieb sich an der Militärakademie ein. Aber er | |
musste bald wieder gehen. Er hatte dort seine Schwierigkeiten … Keine guten | |
Umstände. Es war ein Schwindel, viel zu viel … Jedenfalls wurde er von | |
seinen Polizeikollegen ausgetrickst und musste gehen. Im zivilen Leben | |
konnte er sich nicht richtig zurechtfinden. Er versuchte, hier und dort zu | |
arbeiten – auch bei mir, in meinem Unternehmen. Ich weiß nicht, wo er | |
danach hinging. Aber seine Mutter brachte er aus Blagoweschtschensk nach | |
Samara. Dort verkaufte sie alles und er kaufte ihr hier ein Haus, das er | |
fertig bauen wollte.“ | |
Zu Beginn der Mobilisierung hatte Oberstleutnant Bachurin nach | |
Informationen der Novaya Gazeta Europe bereits zwei überfällige Kredite mit | |
einer Laufzeit von fünf Jahren aufgenommen. Sein Freund ist überzeugt | |
davon, dass Bachurin nicht wegen des Geldes in den Krieg zog. | |
„Ljoscha war sehr glücklich, als er einberufen wurde“, ist sich | |
Wjatscheslaw sicher. „Die Armee war sein Leben, sie war alles für ihn. Der | |
Lohn war ihm egal, für ihn zählte nur der Dienst. Ich kündigte – die | |
Gehälter in der Armee waren mickrig –, aber er blieb, um zu dienen. Die | |
Mobilisierung war für ihn eine Gelegenheit, in dieses Soldatenleben | |
zurückzukehren. Er war sich sicher, dass er nach dem Krieg bei der Armee | |
bleiben würde. Wir alle wussten, dass fünf Divisionen der Luftlandetruppen | |
dort eingesetzt werden würden, dass jetzt noch eine halbe Million Menschen | |
mobilisiert werden. Doch Ljoscha wurde klar, dass er danach auf jeden Fall | |
bei der Armee bleiben würde.“ | |
Das 44. Regiment traf am 17. Dezember in der Ukraine ein. Der | |
stellvertretende Kommandant Bachurin war für die Kampfausbildung der | |
Einberufenen zuständig. Vielleicht schaffte er es sogar, sie auszubilden, | |
allerdings lässt sich das nicht mehr überprüfen. | |
„Als sie dort ankamen, hatten sie nur Maschinenpistolen, was nicht | |
ausreicht, um auf Panzer zu zielen“, so Wjatscheslaw weiter. „Ich habe ihn | |
gefragt: „Ljoscha, hast du etwas Schweres?“ Er sagte: „Nichts. Keine | |
Panzer, keine Schützenpanzer, keine Panzerabwehrlenkwaffe (ATGM).“ | |
Der Sarg mit dem Leichnam Bachurins wird unter Ehrensalut und Klängen der | |
Nationalhymne in das Grab abgesenkt. In der Nähe warten noch zwei Gruben | |
auf zwei weitere Tote aus Makijiwka. Sie bekommen keinen solchen Abschied. | |
Nur auf einem einzigen Friedhof, an einem Tag und zeitlich versetzt, damit | |
es nicht auffällt, und nur in Samara werden gleich drei Menschen beerdigt. | |
Auf einem am Zaun angelehnten Kreuz in der Nähe der zweiten frischen Grube | |
ist der zweite Name zu entziffern: Anatoly Potschinjajew, 48. | |
Ein Spaziergang über den Rubischnifriedhof zeigt den Ablauf dieses Kriegs | |
anhand der jüngsten Kreuze. Ende Juni und im Juli eroberten russische | |
Truppen Sjewjerodonezk und Lyssitschansk. Im September starteten die | |
ukrainischen Streitkräfte [4][eine Gegenoffensive bei Charkiw] und | |
befreiten Balaklija und Isjum. In Russland begann nach einem entsprechenden | |
Dekret von Putin die „Teilmobilmachung“. Die russischen Truppen mussten | |
[5][sich aus Cherson zurückziehen] … | |
Jede dieser Phasen ist an neuen Kreuzen ablesbar, deren Datum sich um ein | |
oder zwei Tage unterscheidet. Und das ist nur ein Friedhof in Samara, von | |
dem wir bis jetzt nichts wussten. Wie viele Friedhöfe gibt es im ganzen | |
Land, auf denen niemand bis jetzt die frischen Gräber zählen konnte? | |
Aus dem Russischen [6][Barbara Oertel] und [7][Gemma Terés Arilla] | |
21 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5906822 | |
[2] /Kriegs-PR-in-der-Ukraine/!5885332 | |
[3] /Teilmobilmachung-in-Russland/!5883296 | |
[4] /Ukraine-in-der-Gegenoffensive/!5850826 | |
[5] /Rueckzug-der-russischen-Armee-aus-Cherson/!5894370 | |
[6] /Barbara-Oertel/!a1/ | |
[7] /Gemma-Teres-Arilla/!a100800/ | |
## AUTOREN | |
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Wladimir Prokuschew | |
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