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# taz.de -- Nach dem Angriff auf Makijiwka: Eine Mauer des Schweigens als Absch…
> Viele russische Soldaten aus Samara starben an der Front im ukrainischen
> Makijiwka. Angehörige machen sich selbst auf die Suche nach
> Informationen.
Bild: Was übrig blieb: ein Helm im ukrainischen Makijiwka, nach dem Beschuss e…
Nach einer kurzen Tauwetterphase zu Silvester hat sich Samara, eine
Industriestadt mit über einer Million Einwohnern an der Wolga, Anfang
Januar erneut in einen Eisblock verwandelt. Das Thermometer zeigt minus 30
Grad. Das Eis reflektiert spielerisch die Lichter der Girlanden, was die
Stadt festlich erscheinen lässt. Musik erklingt und die Menschen haben es
eilig, in den verbleibenden Ferientagen etwas Spaß zu haben. Beim Schein
dieser Lichter, dem Klang von Musik und Festtagsstimmung werden in der
Weihnachtsnacht Särge nach Samara gebracht. In der vereisten Erde müssen
dringend Gräber für die Verstorbenen im ukrainischen Makijiwka ausgehoben
werden. Wie viele Gräber? Und wie viele Soldaten sind im April im
Zusammenhang mit dem Beschuss des Kreuzers „Moskwa“ gestorben? (Die
„Moskwa“ sank am 14. April 2022 nach einem Raketenangriff vor Odessa; d.
Red.) Genau weiß das niemand.
In der Nacht zum 1. Januar [1][zerstörten ukrainische Luftangriffe mit dem
Mehrfachraketenwerfersystem Himars in der Stadt Makijiwka] bei Donezk die
Berufsschule Nr. 19, die in eine Kaserne für russische Truppen umgewandelt
worden war. Laut dem Webportal New Europe ist dort seit dem 17. Dezember
2022 eines der Bataillone des 44. Regiments der 2. russischen Gardearmee
stationiert. Einberufene Soldaten aus der Region Samara wurden diesem
Regiment zugeteilt. Niemand nennt die genaue Zahl der Toten.
Der Militärkommissar der Region Samara mit Namen Wdowin kündigte an, sie
würden nicht namentlich genannt: Es würden keine Listen veröffentlicht,
damit der ukrainische Geheimdienst diese Informationen nicht bekomme. Die
Menschen in Samara versuchen, auf eigene Faust zumindest einige
Informationen zu sammeln und ihre eigenen Berechnungen anzustellen.
„Drei Bataillone sind im Dezember dorthin aufgebrochen“, raunt eine Frau
bei der Beerdigung eines Wehrpflichtigen in Nowokuibyschewsk. „Das erste
und zweite Bataillon wurden am 28. Dezember an die Front geschickt, ich
weiß es genau, beide Söhne eines Nachbarn wurden eingezogen. Das dritte
Bataillon blieb in der Kaserne, offensichtlich warteten alle auf
Ausrüstung. Doch zu einem Kampfeinsatz kam es gar nicht erst.“
## Angehörige suchen selbst nach Informationen
Laut den Informationen, die die Samaraner untereinander austauschen, kam
die Ausrüstung nach und nach in Makijiwka an, sie wurde neben dem Gebäude
der Berufsschule abgestellt, um den Feind unmittelbar nach den Feiertagen
anzugreifen. Munition wurde in der Kaserne gelagert. Diese detonierte durch
Raketeneinschläge und die Ausrüstung fing Feuer. Von dem dreistöckigen
Gebäude blieben nicht einmal Ruinen übrig.
Ein weiteres Regiment, das 43., das aus in der Region Samara mobilisierten
Soldaten besteht, bleibt derweil in einer Ausbildungsbasis im Dorf
Roschinsky, 20 Kilometer von Samara entfernt. Einem Bataillon gehören 580
Mann an. Anhand dieser Daten lässt sich abschätzen, dass sich zum Zeitpunkt
des Einschlags ungefähr gleich viele Personen im Gebäude der Berufsschule
aufgehalten haben.
Der ukrainische Geheimdienst behauptet, dass es auch eine Spezialeinheit
aus Verbindungsoffizieren, Artilleristen und Einheiten der russischen Garde
gegeben habe, aber dieses Militärpersonal habe Silvester woanders
verbracht. Es gibt auch das Gerücht, wonach sich einige Mobilisierte
unerlaubt vom Einsatzort entfernt hätten, was ihnen das Leben rettete.
In ukrainischen Quellen tauchten Daten über sechshundert Leichen auf, die
in zwölf Lastwagen aus den Trümmern geholt worden waren. In Samara glaubt
das niemand. Die Informationen, die in den ersten Tagen nach dem Angriff
aufgetaucht sind, haben sich nicht geändert: 89 Leichen wurden
identifiziert.
Wie schon [2][bei dem Kreuzer „Moskwa“] gelten die übrigen Soldaten als
vermisst, sofern sie sich nicht selbst bei ihren Angehörigen gemeldet
haben. Für Vermisste wird den Angehörigen keine Entschädigung gezahlt.
## Verteidigungsministerium macht Soldaten verantwörtlich
Das Verteidigungsministerium machte die Mobilisierten selbst für ihren Tod
verantwortlich: Sie hätten telefoniert und so den feindlichen Beschuss
verursacht. Später tauchte ein Video im Internet auf: Ein großer und
offensichtlich nicht mehr junger Mann mit entstelltem Gesicht stellt sich
als Anton Golowinski vor und sagt, dass ein gewisser Oberst Enikejew, der
ein Bataillon in einem Saal versammelt hatte, um Präsident Wladimir Putin
zuzuhören, alle getötet habe. Zu dem Video gibt es einen Nachtrag: Anton
Golowinski ist kurz nach der Aufnahme des Videos an Verbrennungen
gestorben.
Wenn man an der Wohnung klingelt, in der Anton Golowinski gelebt hat,
meldet die Gegensprechanlage einen Fehler. Seit September war dort niemand
mehr. Ljuba, eine Nachbarin, die Anton seit seiner Kindheit kannte, sagt
selbstbewusst: Das sei nicht er auf dem Video. Der echte Golowinski ist
ihrer Meinung nach ein junger, dünner und kranker Mann. Er wurde
tatsächlich im September einberufen, obwohl die Nachbarin immer noch nicht
verstehen kann, wie es dazu kam.
„Er scheint in der Psychiatrie gewesen zu sein, er war drogenabhängig“,
sagt sie. „Dann war offensichtlich alles normal, er heiratete, zwei Kinder
wurden geboren. Aber 2019 ist etwas mit ihm passiert, niemand weiß es. Er
ist aus dem Haus gesprungen, nackt die Straße entlanggerannt, hat sich
überall geschnitten … Ich weiß nicht, wie sie ihn jetzt mitgenommen haben.�…
Besagter Oberst Enikejew wurde bei dem Angriff auf die Kaserne offenbar
nicht verletzt. Bis September arbeitete Roman Enikejew im regionalen
Verkehrsministerium, von dort wurde er mobilisiert, erhielt das Kommando
über das 44. Regiment und erklärte den Rekruten, dass „jeder Mann in
Russland ein Krieger ist“. Verwandte der Einberufenen, die Enikejew
unterstanden, sagen, dass er in der Nacht des 1. Januar nicht in der
Kaserne gewesen sei.
## Keine Abschiedszeremonie für die Helden organisiert
Niemand in Samara wusste, wann und wohin die Leichen gebracht werden
würden. Ein Polizeiauto mit Blaulicht war beim Leichenschauhaus in der
Tuchatschewskistraße im Einsatz, dann stellte sich heraus, dass in der
Dserschinskistraße ein Sarg erwartet wurde. Später wurde klar, dass einige
Leichen nach Samara gebracht worden waren, andere nach Nowokuibyschewsk,
Mirny, Toljatti, Sysran sowie in andere Städte und Dörfer, wo Soldaten
rekrutiert worden waren. Das ist logisch: Einerseits müssen die Helden zu
Hause begraben werden, andererseits werden sich nicht zu viele Trauernde
auf einmal versammeln. Niemand würde eine allgemeine Abschiedszeremonie für
die Helden arrangieren.
Alexander (Name geändert) ging zum Militärregistrierungs- und
Rekrutierungsbüro, um herauszufinden, wo sein Freund war. Der war im
September einberufen worden, und seit Dezember hatte man nichts mehr von
ihm gehört. Aber in dem Büro können nur Verwandte Auskunft erhalten. „Der
Freund ist 42 Jahre alt“, erzählt Alexander. „Sagen wir so: Sein
Arbeitgeber hat ihn hereingelegt und ihm zweieinhalb Millionen Rubel
Schulden angehängt. Diese Schulden hat er seit fünf Jahren am Hals. Ich
habe ihm gesagt: Melde Insolvenz an. Und dann kann die Mobilmachung. Er ist
in den Krieg gezogen, um Geld zu verdienen. Er sagte, dass sie so und so
viel für eine Verletzung versprechen. Nach dem Motto: Er verliert sein Bein
und bekommt dafür drei Ljam“ (umgangssprachlicher Begriff für 1 Million
Rubel; d. Red.).
Im Dorf Mirny wird das Weihnachtskonzert am 7. Januar im Neftjanik-Club
abgesagt. Aber niemand traut sich, die festliche Dekoration von der Straße
zu entfernen. Unter dem Lichtschein der Neujahrsgirlanden stehen im Foyer
zwei Särge. Frauen in Schwarz und mit geschwärzten Gesichtern sitzen
nebeneinander auf Stühlen. Die Dorfbewohner sind gekommen, um ihr Beileid
zu bekunden, beugen sich über die Fenster in den Deckeln der Särge,
betrachten die Wachsmasken, legen Nelken nieder und gehen wieder. Der
Geruch von Melissengeist hängt in der Luft. Auf einem der Kränze auf dem
ersten Sarg ist zu lesen, dass der Verstorbene Dmitri Alexandrowitsch hieß.
Auf dem zweiten Sarg liegen mehrere Kränze, sodass der Name nicht sichtbar
ist.
In der Nähe der Trauerhalle läuft ein stämmiger betrunkener Mann in
ausgelatschten Turnschuhen herum. Er weint, aber nicht um die Toten. Sein
Name ist Andrei, er wurde wie die anderen auch einberufen, nur ist er noch
nicht in den Krieg gezogen. Am Tag nach der Beerdigung muss Andrei ins
Ausbildungslager nach Roschinskoje zurückkehren, die Neujahrspause ist
vorbei. Eine Angestellte des Neftjanik-Clubs, eine hübsche blonde Frau,
versucht, ihn zum Weinen nach draußen zu bringen. Aber ihr Bedürfnis, dabei
ein trauriges Gesicht zu machen, hindert sie daran, entschlossen zu
handeln.
Als der Mann hört, dass die Presse da ist, platzt es aus ihm heraus. „Ich
bin genau wie sie“, sagt er und beginnt schnell zu erzählen, „Ich bin 50
Jahre alt, und sie haben mich illegal weggebracht. Ich ging auf den
Wehrbeauftragten zu, sah ihm in die Augen und er sah mich so an – ohne
jegliche Scham, ohne schlechtes Gewissen …“ Ohne ihre Lippen zu spitzen,
wiederholt die Frau: „Mobilisierung bis zum Alter von 50 Jahren …“ Dann
zieht sie den armen Mann an seinem anderen Arm in Richtung Ausgang.
„Ich habe früher als Fahrer gearbeitet“, fährt Andrei fort. „Mir wurde
gesagt, ich solle Maschinengewehrschütze werden. Aber ich bin in einem
Alter, in dem ich nicht mehr so gut sehen kann. Und morgen fahre ich schon
dorthin. Wir wurden am 27. Oktober einberufen. Ich war der Letzte, der zum
Einberufungsamt ging. Ich habe einen Nabelbruch! Dann haben sie uns an
Silvester beurlaubt, und morgen geht es los. Was soll ich denn jetzt tun?!“
Er macht sich erneut von der blonden Frau los und lässt sich auf einen
Stuhl im Eingangsbereich fallen, krempelt seine Jogginghose hoch und zeigt
seine dünnen Schienbeine voller Geschwüre. Dann springt er auf, zieht
seinen Pullover hoch und deutet auf seinen Nabelbruch.
## „Du wirst trotzdem dienen …“
„Genau so waren sie, ich kannte die beiden“, sagt er und zeigt mit dem
Finger auf die Särge. „Eine medizinische Kommission hat uns untersucht,
aber sie hat nichts gesehen. Ich habe eine Eisennadel in meinem Bein und es
heißt, dass die Minen darauf sofort reagieren. Deswegen haben sie keinen
mit Implantaten mitgenommen – nur mich. Ich kann nicht dahin! Aber ich
meine, ich kann nirgendwo anders hin. Und sagen Sie mir: Warum?! Der
Militärkommissar fragte mich: Willst du dienen? Ich sagte nein, ich kann
das aus gesundheitlichen Gründen nicht. Und er antwortete mir: „Du wirst
trotzdem dienen …“
Bestattungen gibt es am 8. Januar in vielen Städten und Dörfern in der
Region. In Samara melden Unbekannte eine Kundgebung auf dem Platz des
Ruhmes an. Von den Behörden wird eine Trauerfeier gefordert, und
denjenigen, die es wagen, an der Kundgebung teilzunehmen, wird kostenloser
Wodka versprochen. Etwa 40 Minuten nach Beginn der Kundgebung ertönt auf
dem Platz laute Musik, die die Polizisten in Neujahrsstimmung versetzt. Es
sind etwa ein halbes Dutzend, und neben ihnen kommt ein Schawarmaverkäufer
hinter seinem Stand hervor. Die Autorin des Textes zieht ihre Kamera aus
der Tasche. Sie wird umgehend festgenommen, weil sie an einer illegalen
Massenveranstaltung teilgenommen hat.
Die nächsten zwei Stunden verbringt sie auf der Polizeiwache und kann
deshalb nicht herausfinden, wie viele Einwohner von Samara zu der
Trauerfeier gekommen sind.
Währenddessen wird in Marjewka, ebenfalls in der Region Samara, der
einberufene Alexander Androsow beerdigt. Er war 38 Jahre alt. Seine Mutter
blieb allein im Dorf zurück, während er mit seiner Frau und Tochter in
Samara wohnte. Dort arbeitete er als Fahrer für einen Lebensmittelladen.
Eines Tages wurde er betrunken am Steuer erwischt. Dann tauchte sein Name
in Polizeiberichten im Zusammenhang mit einem Diebstahl auf: Einem
Dorfbewohner waren eine Autobatterie, ein Ersatzrad und Benzin entwendet
worden.
Sein Klassenkamerad Wjatscheslaw erklärt sich bereit, mehr über ihn zu
erzählen: „Sascha war ein ruhiger, gelassener, aktiver, geselliger,
positiver Mensch. Fast jede Woche kam er, um seiner Mutter zu helfen.
Ansonsten: Arbeit, Familie, Hobbys. Er liebte es zu angeln. Er verdiente
gutes Geld, führte ein gesundes Leben, trank und rauchte nicht.“
Alle fünf Jahre sahen sich die beiden Schulfreunde beim Klassentreffen
wieder – das letzte Mal im Juni 2022. Seit vier Monaten war Krieg, aber auf
der Party wurde nicht darüber gesprochen. „Das Thema Krieg tauchte nicht
einmal auf“, sagte Wjatscheslaw. „Das sind eben Militäreinheiten und sie
kämpfen.“
## Teilmobilmachung am 21. September
[3][Als im September die Teilmobilmachung begann], erhielt auch Androsow
die Einberufung. Er wurde von der militärischen Melde- und
Einberufungsstelle zu seiner Mutter nach Marjewka gebracht. Er ging zum
Einberufungsamt, und ein paar Tage später verabschiedete er sich von seiner
Familie. Er ging „zum Einsatzort“, als ob er angeln gegangen wäre.
Im Krieg wollte Androsow das tun, was er in friedlichen Zeiten immer tat:
Auto fahren und kaputte Technik reparieren. „Saschas größte Sorge war, ob
er nach seiner Rückkehr seine alte Stelle wiederbekommen würde. Ihm wurde
versprochen, dass sein Auto bei ihm bleibt und er nach dem Einsatz getrost
wieder zurückkehren könne“, erinnert sich Wjatscheslaw.
Am selben Tag findet in der Trauerhalle in Nowokuibyschewsk die Beerdigung
für den Fähnrich Georgi Loschkin statt. Rechts neben dem Sarg steht eine
weinende Frau. Hinter ihr, wie ein gepanzerter Block, sind eine Reihe
älterer Männer mit regungslosen Gesichtern zu sehen, die wie Veteranen des
Zweiten Weltkriegs gekleidet sind – mit Uniformen voller Orden und
Medaillen. Als einer von ihnen zum Rauchen hinausgeht, antwortet er auf die
Frage, ob er den Verstorbenen gekannt habe, lächelnd: „Nein, natürlich
nicht. Wir sind vom Bund der Reserveoffiziere. Wir werden immer gerufen,
wenn Soldaten die letzte Ehre erwiesen wird.“
Die Frau, die am Sarg weint, schreit plötzlich laut. „Weg damit!“ ist zu
verstehen. Der Schrei wird von unterdrücktem Schluchzen abgelöst, und für
einen Moment herrscht Stille im Saal. Ein Priester kommt. Zwei Frauen mit
Kopftüchern, die sich durch den engen Raum quetschen, verteilen an jeden
Anwesenden eine Kerze. Einer nach dem anderen zündet die Kerzen an, der
Priester hält eine Trauerrede. Es ist ein wahres Wunder, dass die
Leichenhalle nicht in Brand gerät.
Georgi Loschkin war 46 Jahre alt. Sein ältester Sohn arbeitet als Arzt in
Nowokuibyschewsk. Der jüngste ist neunzehn Jahre alt. Loschkin selbst
arbeitete als Wachmann in einer Ölraffinerie und bekam einen geringen Lohn.
Als die Mobilmachung begann, meldete er sich als Freiwilliger. „Er war ein
kluger Mann“, erinnert sich Loschkins Nachbarin Marina. „Ich habe erst
neulich erfahren, dass er seine Frau belogen hat: Ihr hatte er gesagt, dass
ein Einberufungsbescheid gekommen sei. Unsere Söhne sind Klassenkameraden
und so erfuhren wir, dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Das macht
nicht jeder. Es war also ein Ruf der Seele, um für unser Land zu kämpfen.
Es geht doch um unsere Rus, die immer irgendwie …“, fügt sie hinzu und
lässt den Satz über das historische Gebiet in Osteuropa, das mehrheitlich
von Ostslawen bewohnt war, unvollendet. Marina hat einen Mann und einen
Sohn. Auf die Frage, ob sie sich wünsche, dass ihre Männer für das
Vaterland kämpfen, antwortet sie deutlich: „Nein, natürlich möchte ich das
nicht.“
Einen Tag später werden in Nowokuibyschewsk drei weitere der in Makijiwka
Getöteten beigesetzt. Am Abend findet im Kulturzentrum ein
Weihnachtskonzert statt. „Warum sollten wir das Konzert absagen?“, fragen
ein Mitarbeiter des Kulturzentrums und ein Sicherheitsmann.
Bekannt ist bis jetzt, dass zehn Männer aus diesem kleinen Dorf im Krieg
gestorben sind. „Aber wir wissen nicht genau, wie viele unserer Leute
eingezogen worden sind. Und niemand sagt etwas. Unter den Trümmern befinden
sich noch viele Leichen“, sagt der Mitarbeiter.
## Strafe wegen „illegaler Befragung der Einwohner“
Als die Autorin dieses Textes das Gebäude verlässt, stellt sich heraus,
dass sie ihren Mietwagen auf dem Parkplatz des Kulturzentrums nicht
ordnungsgemäß abgestellt hat. Ein Polizeikommissar sorgt für die Einhaltung
der Straßenverkehrsordnung in der Stadt. Allerdings fordert er statt des
Führerscheins den Reisepass und den Presseausweis. Statt um ein
Verkehrsdelikt geht es jetzt plötzlich um eine Strafe wegen „illegaler
Befragung der Einwohner“. Dem Gespräch folgt ein zweistündiger Aufenthalt
auf der Polizeiwache.
Am Morgen des 9. Januar wird Oberstleutnant Aleksej Bachurin,
stellvertretender Kommandeur des 44. Regiments, vom Offiziersverein aus
Samara in einer feierlichen Zeremonie verabschiedet. Der Gedenkgottesdienst
findet in derselben Halle statt, in der die Kinder am Tag davor um den
Weihnachtsbaum herumgetanzt sind. In dem Saal sind die Spuren des gestrigen
Festes beseitigt, sodass an den Wänden wieder Porträts von Stalin und
anderen „großen Marschällen“ hängen. Die Schautafel „Streitkräfte der
Russischen Föderation“ mit dem Porträt von Sergej Schoigu wird mit dem
Zitat des Verteidigungsministers eröffnet: „Wir brauchen eine starke,
professionelle und gut bewaffnete Armee für ein sicheres und friedliches
Wachstum unseres Landes.“
Als der Sarg Richtung Friedhof getragen wird, dient dem Umzug die
Neujahrsdekoration des Platzes vor dem Opern- und Balletttheater als
Kulisse. Der Leichenwagen fährt durch die Stadt, die immer noch in
Feierstimmung ist, trotz des ersten Arbeitstags im neuen Jahr.
„Aleksej und ich haben gemeinsam gedient, ich war sein Kommandeur“, sagt
Wjatscheslaw, ebenfalls ein Freund von Oberstleutnant Bachurin. „Dann
trennten sich zum Teil unsere Wege. Ich ging in den Ruhestand, er setzte
seinen Dienst fort und schrieb sich an der Militärakademie ein. Aber er
musste bald wieder gehen. Er hatte dort seine Schwierigkeiten … Keine guten
Umstände. Es war ein Schwindel, viel zu viel … Jedenfalls wurde er von
seinen Polizeikollegen ausgetrickst und musste gehen. Im zivilen Leben
konnte er sich nicht richtig zurechtfinden. Er versuchte, hier und dort zu
arbeiten – auch bei mir, in meinem Unternehmen. Ich weiß nicht, wo er
danach hinging. Aber seine Mutter brachte er aus Blagoweschtschensk nach
Samara. Dort verkaufte sie alles und er kaufte ihr hier ein Haus, das er
fertig bauen wollte.“
Zu Beginn der Mobilisierung hatte Oberstleutnant Bachurin nach
Informationen der Novaya Gazeta Europe bereits zwei überfällige Kredite mit
einer Laufzeit von fünf Jahren aufgenommen. Sein Freund ist überzeugt
davon, dass Bachurin nicht wegen des Geldes in den Krieg zog.
„Ljoscha war sehr glücklich, als er einberufen wurde“, ist sich
Wjatscheslaw sicher. „Die Armee war sein Leben, sie war alles für ihn. Der
Lohn war ihm egal, für ihn zählte nur der Dienst. Ich kündigte – die
Gehälter in der Armee waren mickrig –, aber er blieb, um zu dienen. Die
Mobilisierung war für ihn eine Gelegenheit, in dieses Soldatenleben
zurückzukehren. Er war sich sicher, dass er nach dem Krieg bei der Armee
bleiben würde. Wir alle wussten, dass fünf Divisionen der Luftlandetruppen
dort eingesetzt werden würden, dass jetzt noch eine halbe Million Menschen
mobilisiert werden. Doch Ljoscha wurde klar, dass er danach auf jeden Fall
bei der Armee bleiben würde.“
Das 44. Regiment traf am 17. Dezember in der Ukraine ein. Der
stellvertretende Kommandant Bachurin war für die Kampfausbildung der
Einberufenen zuständig. Vielleicht schaffte er es sogar, sie auszubilden,
allerdings lässt sich das nicht mehr überprüfen.
„Als sie dort ankamen, hatten sie nur Maschinenpistolen, was nicht
ausreicht, um auf Panzer zu zielen“, so Wjatscheslaw weiter. „Ich habe ihn
gefragt: „Ljoscha, hast du etwas Schweres?“ Er sagte: „Nichts. Keine
Panzer, keine Schützenpanzer, keine Panzerabwehrlenkwaffe (ATGM).“
Der Sarg mit dem Leichnam Bachurins wird unter Ehrensalut und Klängen der
Nationalhymne in das Grab abgesenkt. In der Nähe warten noch zwei Gruben
auf zwei weitere Tote aus Makijiwka. Sie bekommen keinen solchen Abschied.
Nur auf einem einzigen Friedhof, an einem Tag und zeitlich versetzt, damit
es nicht auffällt, und nur in Samara werden gleich drei Menschen beerdigt.
Auf einem am Zaun angelehnten Kreuz in der Nähe der zweiten frischen Grube
ist der zweite Name zu entziffern: Anatoly Potschinjajew, 48.
Ein Spaziergang über den Rubischnifriedhof zeigt den Ablauf dieses Kriegs
anhand der jüngsten Kreuze. Ende Juni und im Juli eroberten russische
Truppen Sjewjerodonezk und Lyssitschansk. Im September starteten die
ukrainischen Streitkräfte [4][eine Gegenoffensive bei Charkiw] und
befreiten Balaklija und Isjum. In Russland begann nach einem entsprechenden
Dekret von Putin die „Teilmobilmachung“. Die russischen Truppen mussten
[5][sich aus Cherson zurückziehen] …
Jede dieser Phasen ist an neuen Kreuzen ablesbar, deren Datum sich um ein
oder zwei Tage unterscheidet. Und das ist nur ein Friedhof in Samara, von
dem wir bis jetzt nichts wussten. Wie viele Friedhöfe gibt es im ganzen
Land, auf denen niemand bis jetzt die frischen Gräber zählen konnte?
Aus dem Russischen [6][Barbara Oertel] und [7][Gemma Terés Arilla]
21 Jan 2023
## LINKS
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5906822
[2] /Kriegs-PR-in-der-Ukraine/!5885332
[3] /Teilmobilmachung-in-Russland/!5883296
[4] /Ukraine-in-der-Gegenoffensive/!5850826
[5] /Rueckzug-der-russischen-Armee-aus-Cherson/!5894370
[6] /Barbara-Oertel/!a1/
[7] /Gemma-Teres-Arilla/!a100800/
## AUTOREN
Irina Tumakowa
Wladimir Prokuschew
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