# taz.de -- Proteste der Letzten Generation: Es geht nicht um Mehrheiten | |
> Der Letzten Generation wird schadenfroh vorgehalten, fast alle Deutschen | |
> lehnten ihren Protest ab. Aber aggressivem Widerstand geht es um Lärm. | |
Bild: Geräusche, Reibung, Sand im Getriebe: Aktivist der „Letzten Generation… | |
Die deutschen Proteste für eine beherztere Erdschutzpolitik fanden in | |
Lützerath einen vorläufigen Höhepunkt. Auf der einen Seite die Personen, | |
die die Erde schützen wollen, auf der anderen Seite die, die sie scheinbar | |
mit aller Gewalt weiter aufreißen wollen. Selten [1][gab es einen Ort, der | |
als Symbol besser taugte] für – oder gegen – unser Lernen, unser mögliches | |
Umdenken und für oder gegen die politische Schubumkehr. Die Protestierenden | |
forderten eine Full-Stop-Mentalität und warfen sich selbst ins Getriebe. | |
Die Politik versagte und hielt gar nichts an. | |
Einige Politiker verstiegen sich stattdessen zu der steilen These, dass das | |
kleine Örtchen Lützerath – das immerhin mit brachialen Methoden dem | |
Kohleabbau zum Opfer fallen soll – [2][„nicht das richtige Symbol“ sei]. | |
Hubertus Heil und Robert Habeck wurden nicht müde, die These vom falschen | |
Ort und falschen Symbol in die Fernsehkameras zu wiederholen (das Argument | |
scheint zu sein, dass es ohne sie selbst noch viel schlimmer gekommen | |
wäre). Aber nur weil Politiker eine These der interessierten Öffentlichkeit | |
einzureden versuchen, wird sie nicht wahrer. | |
Es gibt kein besseres Symbol in Deutschland für den Kamikaze-Kollaps-Kurs, | |
auf dem wir uns als Weltbevölkerung befinden. Und es gibt keinen | |
prädestinierteren Ort für die deutsche Politik, ihr Nichtlernen, | |
Nichtumdenken und Nichtumsteuern noch einmal symbolisch zu demonstrieren. | |
In [3][den Diskussionen um radikalen Protest] hat sich in den letzten | |
Jahren immer wieder das Vorurteil eingeschlichen, der Erdschutzprotest | |
wolle doch die Mehrheit der Gesellschaft von der Richtigkeit der eigenen | |
Ziele überzeugen. Ob beim klebenden Protest auf den Autobahnzufahrten, dem | |
Bewerfen von Panzerglasrahmen mit Tomatensuppe oder den linksradikalen | |
Stammesparolen in Lützerath – das seien alles falsche Mittel! | |
Wer das Gute wolle, müsse das Richtige tun. Schon interessant, dass niemand | |
auf die Idee kommt zu fragen, ob das schaufelnde Monstrum, das da ganze | |
Landstriche in Mondlandschaften verwandelt, das „richtige Mittel“ oder das | |
„richtige Symbol“ sei. Stattdessen werden der letzten Generation relativ | |
schadenfroh Umfrageergebnisse an den Kopf geworfen, nach denen zwischen | |
achtzig und neunzig Prozent der Bevölkerung diese Form des Protests | |
ablehnen. Ich wurde in der Vergangenheit selbst immer wieder mit dem | |
Vorurteil konfrontiert, dass radikaler Widerstand doch letztlich „der | |
falsche Weg“ sei, um eine Gesellschaft vom „eigentlich“ richtigen Anliegen | |
zu überzeugen (bei [4][unseren Aktionen zum Massenertrinken im Mittelmeer | |
beispielsweise]). | |
## Es geht um eine Keimzelle des Widerstands | |
Aber geht es radikalem Widerstand überhaupt darum, die Mehrheit von der | |
Richtigkeit des eigenen Tuns zu überzeugen? Es klingt immer sehr | |
demokratisch, irgendeine Mehrheit überzeugen zu wollen. Aber dieser Wunsch | |
wäre oft naiv. Es geht bei radikaleren Maßnahmen um Licht in der | |
Finsternis, um eine Keimzelle des Widerstands oder darum, eine Einheit zu | |
durchbrechen. Vielleicht muss man sich von der Vorstellung verabschieden, | |
dass aggressiver Widerstand überhaupt sonderlich demokratisch ist. Aber | |
wenn er für den Humanismus kämpft – und nichts anderes tun die | |
Klimaschutzproteste, letztlich geht es mit dem Kollaps des Erdklimas sehr | |
direkt um den Kollaps unserer Zivilisation –, wird dieser Protest auch dann | |
richtig sein, wenn ihn 95 Prozent der Gesellschaft in irgendwelchen | |
Forsa-Umfragen ablehnen. | |
Ich möchte das Problem dahinter noch etwas pointieren: Es ist Luisa | |
Neubauer oder Carla Hinrichs vielleicht nicht egal, ob die Mehrheit der | |
Gesellschaft von der Richtigkeit ihrer „Anliegen“ überzeugt ist, aber sie | |
sind keine protestantischen Sektenanführerinnen, denen es darum ginge, die | |
große Mehrheit von der Richtigkeit zu überzeugen. Sie wissen, dass [5][das | |
Ziel, die Obergrenze von 1,5 Grad Erderwärmung einzuhalten], richtig ist. | |
Wir alle wissen das. Nicht nur eine Mehrheit in Deutschland, praktisch die | |
ganze Menschheit. Deshalb hat es auch eine überwältigende Mehrheit in Paris | |
beschlossen. Bloß ist das ein paar Jahre später eben egal, wenn es noch | |
irgendwo Kohle aus der Erde herauszubrechen gibt. | |
## Sand im Getriebe | |
Warum dem Protest nun nachgesagt wird, Mehrheiten für Dinge zu benötigen, | |
die demokratisch längst beschlossen sind, bleibt das Geheimnis der | |
pseudodemokratischen Taschenspieler-Philosophie-Trickbetrüger, die solche | |
Forderungen erheben. Es muss befriedigend sein, sich über den politischen | |
Protest zu beugen, um ihn zu belehren, was richtig und was falsch ist. Aber | |
wenn den Protestierenden das Ziel nur angedichtet wird, eine Mehrheit der | |
Öffentlichkeit überzeugen zu wollen und sie das gar nicht wollen: Was | |
wollen sie dann? | |
Es kann bei radikalen Maßnahmen nicht darum gehen, irgendwelche | |
demokratischen Mehrheiten zu erzeugen. Der radikale Widerstand will die | |
Reibungslosigkeit stören. Politischer Widerstand will immer den | |
geräuschlosen Ablauf der Dinge treffen. Und das bedeutet: Geräusche, | |
Reibung, Sand im Getriebe. Die gut geölte Maschine des „So haben wir es | |
immer gemacht“ soll sich krümmen, sich aufbäumen und spektakulär | |
zusammenbrechen. In Lützerath wäre das der Kohlebagger, der bei seiner | |
Fahrt durch irgendetwas blockiert, sich aufbäumt, verbiegt und in | |
Blechteile zusammenfällt. Zentral ist der Lärm – die Geräusche. Lärm ist | |
immer Belastung. | |
Aber genau darum geht es dem radikalen Protest. Er ist in dem Sinne nicht | |
demokratisch. Er wird keine Mehrheiten finden. Aber das muss er gar nicht. | |
Denn es geht darum, einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst bewusst | |
zu machen, dass die Bundesregierung nicht vorhat, irgendwelche Maschinen | |
für den Klimaschutz zu stoppen. Das zur Schau zu stellen, die eiserne | |
Machtdemonstration eines großen „Weiter so“ der Bundesregierung, wo es | |
eigentlich gilt, die Maschinen anzuhalten und einzupacken, und damit die | |
Politik vorzuführen und uns letztlich alle zu beschämen, ist ungleich | |
wichtiger, als Mehrheiten zu organisieren, die vor Jahren in Paris längst | |
organisiert wurden. | |
3 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Ruch | |
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