# taz.de -- Russische Propaganda: Putins Rache | |
> Russlands Präsident Wladimir Putin knüpft an die Tradition des | |
> stalinistischen Staats an. Viele Russen lassen das geschehen, aber nicht | |
> alle sind farbenblind. | |
Bild: Das Z ist immer dabei: Anstecker am Revers eines Abgeordneten des russisc… | |
Vor einem Jahr, Anfang 2022, hatten wir gerade erst begonnen, nach zwei | |
schrecklichen Covidjahren Luft zu holen, und wir glaubten, dass allmählich | |
eine Rückkehr zum normalen Leben beginnen würde. Alle stritten sich heftig | |
über Impfungen und Impfstoffe, über das „Maskenregime“ und andere Verbote. | |
Und vor allem – ob es notwendig sei, QR-Codes einzugeben, um Zugang zu | |
einem Café, Theater oder einer Ausstellung zu erhalten. | |
Wo sind jetzt – zu Beginn des Jahres 2023, in der Welt nach dem 24. Februar | |
2022 – diese hitzigen Debatten geblieben? Und wo sind sie hin, die | |
Probleme, die uns am wichtigsten erschienen? Sie wurden in den Hintergrund | |
gedrängt, und alles wird jetzt von Wladimir Putins „Spezialoperation“ und | |
ihren Folgen beherrscht. | |
Das Wichtigste – abgesehen von dem Verlust an Menschenleben, den | |
Katastrophen und der Zerstörung – [1][ist der Zustand eines großen Teils | |
der russischen Gesellschaft], der von einer politischen Farbenblindheit | |
betroffen ist: es ist der Verlust – unter dem Einfluss ohrenbetäubender | |
Propaganda – der Fähigkeit, Gut von Böse, Wahrheit von Lüge sowie Schwarz | |
von Weiß zu unterscheiden. | |
Das passiert nicht zum ersten Mal: Unter dem Einfluss einer ähnlichen Art | |
von Propaganda während der Sowjetzeit glaubten zig Millionen Menschen an | |
die Existenz von „Volksfeinden“, „ausländischen Spionen“ und | |
„Trotzki-Sinowjew-Mördern“. (Leo Trotzki und Grigori Sinowjew waren | |
marxistische Theoretiker und führend in der Russischen Revolution. Unter | |
Stalins Herrschaft fielen sie in Ungnade. Trotzki wurde im Exil von einem | |
sowjetischen Agenten ermordet, Sinowjew in Moskau hingerichtet; d. Red.) | |
## Böse Nato | |
Die Menschen glaubten daran, dass die böse Nato 1968 die Tschechoslowakei | |
einnehmen wollte und nur der Einmarsch von Truppen aus den Ländern des | |
Warschauer Pakts diesen heimtückischen Plan vereitelte. Sie glaubten, dass | |
es notwendig war, 1979 ein „begrenztes Kontingent“ sowjetischer Truppen | |
nach Afghanistan zu schicken, damit nicht die USA das Land einnahmen. Und | |
sie glaubten daran, dass der Physiker Andrei Sacharow ein „Verräter“ war, | |
der Schriftsteller Alexander Solschenizyn ein „Verleumder des | |
Sowjetsystems“ und der Dichter Joseph Brodsky ein „Parasit“. | |
Derartiges geschah natürlich auch in den postsowjetischen Jahren. So | |
glaubten viele, dass der demokratische Präsident Boris Jelzin im Herbst | |
1993 die Rebellion des reaktionären und „rotbraunen“ Parlaments | |
niedergeschlagen hatte. Oder sie glaubten, dass die Revolte im Donbass im | |
Frühjahr 2014 nicht von aus Russland entsandten Interventionisten ausgelöst | |
wurde, sondern von „zur Verzweiflung getriebenen Bergarbeitern und | |
Traktorfahrern“, die Waffen und Ausrüstung im nächstbesten Militärgeschäft | |
gekauft hatten. | |
Aber so etwas wie nach dem 24. Februar 2022 hat es noch nicht gegeben. | |
Anscheinend haben wir sowohl die Fähigkeit (und den Wunsch) der Bürger, | |
unabhängig nach Informationen zu suchen, als auch die Macht der Propaganda | |
falsch eingeschätzt. | |
Täglich wird ein und dasselbe gepredigt: Russland ist am besten, deshalb | |
hassen alle das Land und versuchen es zu schwächen. Wenn ein gewöhnlicher | |
Mensch anfängt, solche Dinge zu wiederholen – dass er der Beste sei und | |
deshalb jeder ihn hasse –, wird er als schwer krank angesehen und zu einem | |
Arzt geschickt. Und wenn Beamte, Abgeordnete und Propagandisten jeden Tag | |
märchenähnliche Geschichten erzählen („Wissen Sie etwa nicht, dass alle | |
anderen nichts taugen, aber wir großartig sind?“), wird dies als etwas ganz | |
Selbstverständliches hingenommen. | |
## Keine ukrainische Sprache | |
Das gilt auch für Argumente, dass die Ukraine gar kein Staat sei und es | |
keine ukrainische Sprache gebe, sondern nur ein verzerrtes Russisch. Dass | |
in der Ukraine „Nazis“ und „Bandera-Leute“ an der Macht seien. Dass die | |
Nato einen Angriff auf Russland plante und Putin ihnen nur wenige Stunden | |
voraus war. | |
Dass die USA und andere europäische Länder „die Nazis mit Waffen versorgen, | |
wie während des Großen Vaterländischen Krieges – ihre Väter und Großvät… | |
(ich stelle fest: Die Erwähnung der Anti-Hitler-Koalition wurde noch nicht | |
aus den Geschichtsbüchern entfernt). Dass Russland in seiner Geschichte | |
„niemals jemanden angegriffen hat“ (auch hier wurden Verweise auf die | |
vielen Kriege, die das Russische Reich begonnen hat, noch nicht aus | |
Lehrbüchern und Büchern entfernt). | |
Es sei daran erinnert, dass die Politik, die auf angeblich „historischen | |
Rechten“ basiert und im Namen der Rückgabe „historischer Territorien“ | |
gemacht wird, kurz und deutlich als Revanchismus zu bezeichnen ist. Jedoch | |
genau das ist die Art von Politik, die von Putins Regierung verfolgt wird. | |
Sie geht persönlich vom Präsidenten aus, der von der Idee besessen ist, das | |
ehemalige Sowjetimperium (oder zumindest den größten Teil davon) | |
wiederzubeleben. | |
Wie in dem Roman „Die bewohnte Insel“ der Brüder Arkadi und Boris | |
Strugatzki. Dort wurde mit den ehemaligen Provinzen eines alten Reiches, | |
Khonti und Pandeya, die in schwierigen Zeiten ihre Unabhängigkeit erlangt | |
hatten, wie folgt verfahren: Es galt „die Bastarde zurückzubringen, nachdem | |
sie schwer bestraft worden waren“. | |
## Hoffnungslos veraltet | |
Diese Idee ist offensichtlich aussichtslos – kein einziges | |
zusammengebrochenes Imperium konnte sich später auch nur teilweise erholen. | |
Darüber hinaus ist das im 21. Jahrhundert hoffnungslos veraltet, wo die | |
wichtigste Ressource für Entwicklung und die Grundlage der | |
Wettbewerbsfähigkeit nicht Territorien, sondern Köpfe sind – | |
intellektuelles und wissenschaftliches Potenzial. | |
So würde man beispielsweise in Großbritannien einen Politiker für verrückt | |
erklären, der ernsthaft über „historische Rechte“ auf dem Territorium des | |
ehemaligen Imperiums redete und anböte, sie „in ihren Heimathafen | |
zurückzubringen“. Oder der sich in einem fremden Land für den „Schutz | |
englischsprachiger Bürger“ einsetzen würde, indem er die „britische Welt�… | |
mit Gewalt dorthin bringt. Oder der sagte, dass „die Grenzen | |
Großbritanniens nirgendwo enden“. Gleiches gilt für andere ehemalige | |
Imperien wie Frankreich, Deutschland oder die Türkei. | |
Auch in Litauen fordert niemand, der bei klarem Verstand ist und ein gutes | |
Gedächtnis hat, die Ausdehnung auf die Grenzen des Großfürstentums Litauen. | |
Dieses erstreckte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der Ostsee bis | |
zum Schwarzen Meer. | |
Nun spricht Präsident Wladimir Putin in seiner Neujahrsansprache vom Schutz | |
„seines Volkes“ in „historischen Territorien“ (wie erwähnt, gehörten … | |
nie zu den Vorgängern des heutigen Russlands). Ein beträchtlicher Teil der | |
Gesellschaft argumentiert jedoch bereitwillig im Sinne dieses Mainstreams. | |
## Erbärmliche Renten | |
Es ist offensichtlich egal, dass es Häuser ohne Gas und Anschluss an die | |
Kanalisation gibt, erbärmliche Renten und Arbeitslosigkeit, kaputte Straßen | |
und undichte Dächer. Alle sind überwältigt von einem Gefühl des Stolzes | |
über die „Rückgabe“ dessen, was ihnen nie gehört hat. Und es herrscht ei… | |
böswillig spöttische Freude darüber, dass es in den Städten der Ukraine | |
kein Licht und keine Heizung gibt. | |
Über eine weitere schwere Krankheit sprach Jan Ratschinski, als er 2022 den | |
Friedensnobelpreis für [2][Memoria]l entgegennahm: die Sakralisierung der | |
Staatsmacht als höchsten Wert, die Proklamation des absoluten Vorrangs | |
dessen, was diese Macht als „Staatsinteressen“ ansieht, die dem Einzelnen, | |
seiner Freiheit, Würde und seinen Rechten übergeordnet sind. Ein verkehrtes | |
Wertesystem, in dem Menschen nur entbehrliches Material zur Lösung | |
staatlicher Probleme sind.“ | |
Deshalb wird öffentlich erklärt, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, es | |
um des Staates willen aufzugeben, obwohl der Sinn des Lebens nur die | |
Fortsetzung des Lebens sein kann und nicht der Tod für den Staat und dessen | |
Interessen. All dies ist eine absolute Blaupause der Grundlagen des | |
stalinistischen Polizeistaats, wo der Mensch immer ein „Rädchen“ und „St… | |
unter den Füßen“ war. Und wo das Leben keinen höheren Sinn hatte, als es | |
für den Staat zu opfern. | |
Aber glücklicherweise ist nicht jeder in der russischen Gesellschaft von | |
diesen Krankheiten befallen. Die Mehrheit, um mit dem russischen Politiker | |
und Menschenrechtler Lew Schlosberg zu sprechen, „bewahrt in unmenschlichen | |
Zeiten das Menschliche in sich“. | |
Sie bewahrt sich die Fähigkeit zu Empathie und Solidarität. Sie baut | |
horizontale Strukturen auf, um Bedürftigen zu helfen. Sie hilft | |
Flüchtlingen und politisch Verfolgten. Sie verteidigt ihre Bürgerrechte, | |
fordert Frieden und Freiheit. Sie gibt den Lügen des Staats und der | |
militaristischen Propaganda nicht nach und lässt dieses Gift nicht in ihre | |
Seele eindringen. Und sie hilft anderen, sich dagegen zu wehren. Dies, und | |
nur dies, gibt Hoffnung, dass die Dunkelheit verschwindet und die | |
Morgendämmerung anbrechen wird. | |
Aus dem Russischen [3][Barbara Oertel] | |
20 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Russische-Muetter-in-Kriegszeiten/!5896805 | |
[2] /Friedensnobelpreis-fuer-drei-Akteure/!5884277 | |
[3] /Barbara-Oertel/!a1/ | |
## AUTOREN | |
Boris Wischnewski | |
## TAGS | |
Novaya Gazeta Europe in der taz | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Propaganda | |
Wladimir Putin | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Politische Kunst | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
70. Todestag von Josef Stalin: Sein Geist in Putins Russland | |
Vor 70 Jahren starb der sowjetische Diktator Josef Stalin. Sein Erbe prägt | |
Russland und viele seiner Mechanismen werden im System Putin gefördert. | |
Angst vor mehr russischen Angriffen: Putins große Show zum Jahrestag | |
Die russische Propaganda läuft auf Hochtouren. In der Ukraine fürchtet man | |
Putins Vorliebe für Symbole – und damit eine Großoffensive zum Jahrestag. | |
Kunstprojekt „Edit Wars“ in Bremen: Künstlerische Intelligenz | |
Russland setzt auf Fehlinformationen und Hetze. Die Bremer Gruppe „Edit | |
Wars“ hat die Propaganda mit KI analysiert und künstlerisch interpretiert. | |
Russische Propaganda: Moskauer Geschichtsfälscher | |
Der russische Außenminister Lawrow relativiert in seinen jüngsten | |
Kriegsäußerungen den Holocaust. Er reißt damit die Brücken zur | |
zivilisierten Welt ein. | |
Kriegspropaganda bei Kindern: Russlands kleine Schulsoldaten | |
Der Kreml schwört den Bildungssektor auf antiwestliche Ideologie ein. Bei | |
Kritik bekommen es selbst Grundschüler*innen mit Behörden zu tun. | |
Größenwahn im Kreml: Putins Volk und Glaube | |
Der Kreml hat die jährliche Pressekonferenz abgesagt, auch die | |
Fernsehsprechstunde fällt aus. Putin isoliert sich zunehmend in seiner | |
zusammengelogenen Welt. |