# taz.de -- Sahra Wagenknecht und die Linkspartei: An ihrer Seite | |
> Sahra Wagenknecht spielt mit dem Gedanken, eine eigene Partei zu gründen. | |
> Was halten ihre AnhängerInnen davon? | |
Bild: Es ist kompliziert: Wagenknecht-Anhänger bei einer Demo in Halle/Saale | |
Dieses Jahr wird sich entscheiden, ob die Linkspartei sich spaltet, weiter | |
ausfranst oder sich doch noch mal erholt. Letzteres wäre ein Wunder, an das | |
niemand glaubt. Im Februar und Mai wird [1][in Berlin] und [2][Bremen] | |
gewählt – in beiden Städten regiert die Linkspartei mit. Die Bilanz in den | |
Regierungen ist vorzeigbar. Aber der Trend im Bund zeigt nach unten, mit | |
Umfragewerten bei der 5-Prozent-Marke. Im Herbst steht die Wahl in Hessen | |
an. Es ist das letzte westdeutsche Flächenland, in dem die GenossInnen im | |
Parlament vertreten sind. 2022 war schlimm für die Linkspartei, 2023 kann | |
schlimmer werden. | |
Alle Versuche der Parteispitze, Sahra Wagenknecht halbwegs auf Linie zu | |
bringen, sind ergebnislos versandet. Nachdem die Polemikerin im September | |
den [3][„beispiellosen Wirtschaftskrieg“ des Westens gegen Russlands] | |
geißelte, gaben fast 1.000 GenossInnen [4][ihr Parteibuch zurück]. | |
Was denken AnhängerInnen von Wagenknecht? Alexander King (53) ist für die | |
Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus. Er lobt den rot-grün-roten Senat, | |
der „keine schlechte Politik gemacht und mit dem Nachtragshaushalt vielen | |
Leuten konkret geholfen hat“. King ist einer der wenigen Wagenknecht-Fans | |
in der Berliner Linkspartei. „Wenn ich in Marienfelde Flugblätter verteile, | |
dann sagen die Leute: Ich wähle euch nur, wenn Sahra Wagenknecht in der | |
Linken bleibt“, sagt er. | |
King ist in Tübingen in einem bürgerlichen Haushalt aufgewachsen, hat | |
Geografie studiert und zwölf Jahre als Referent in der Linksfraktion | |
gearbeitet. Eine Spaltung der Partei lehnt er ab. Aber er hofft auf | |
„Aufstehen“, die 2018 von Wagenknecht begründete Bewegung, die nach ein | |
paar Wochen in Streit und Unsichtbarkeit verschwand. „‚Aufstehen‘ ist kei… | |
Leiche. | |
## Kühne Träume | |
‚Aufstehen‘ wächst wieder“, sagt King. In Berlin gebe es an die 100 | |
AktivistInnen. Die ähnlich gelagerte Bewegung [5][„Heizung, Frieden, Brot“ | |
mobilisierte im Herbst bei Protesten gegen die Gasumlage ein paar Hundert, | |
die vor die grüne Parteizentrale zogen.] Wächst da, unbemerkt von den | |
Medien, eine Graswurzelbewegung heran, auf die eine neue Partei bauen | |
könnte? | |
Es gibt Umfragen, die kühne Träume befeuern. Laut dem | |
Meinungsforschungsinstitut Insa würden 10 Prozent deutschlandweit eine | |
Wagenknecht-Partei wählen, 30 Prozent könnten es sich vorstellen. Laut | |
einer anderen Umfrage kann sich die Hälfte der WählerInnen im Osten | |
vorstellen, bei Wagenknecht ihr Kreuz zu machen. | |
Diese Klientel ist gegen zu strikte Coronamaßnahmen, für Umverteilung und | |
mehr Sozialstaat, skeptisch beim Gendern und bei Migration und für Frieden | |
mit Putin: potenzielle Wählerschaft einer populistischen Partei, mit einem | |
Querdenker-Mix aus ein paar linken Quellen und vielen rechtsnationalen, die | |
in Konkurrenz zur AfD stünde. | |
Jede Partei braucht Fußtruppen, die in windigen Einkaufsstraßen Wahlkampf | |
machen und Flyer verteilen. Wer wäre die Basis einer Wagenknecht-Partei? | |
Samstagmittag, Dezember, U-Bahnhof Tierpark in Berlin-Lichtenberg. Man | |
wolle „nicht nur das organisierte, hoch politisierte linke Milieu | |
erreichen, sondern auch die Stadtteile“, sagt King. Ungefähr 50 | |
DemonstrantInnen sind gekommen. | |
Harri Grünberg (71), früher im Parteivorstand der Linkspartei, nun bei | |
„Aufstehen“, bezeichnet die Verträge von Minsk als einen Trick des Westens, | |
um Zeit zu gewinnen, „die Ukraine bis an die Zähne aufzurüsten“. Etwas | |
abseits von den RednerInnen liegen ein paar Transparente auf dem Boden. | |
„Hände weg von Russland“ ist auf einem zu lesen. | |
Ein kalter Wind fegt über den kleinen Platz. Zwei große DKP-Fahnen werden | |
geschwenkt. Nancy Larenas (78), Vorsitzende der | |
Chile-Freundschaftsgesellschaft Salvador Allende und Exil-Chilenin, beklagt | |
die „Annexion der DDR durch die BRD“. Sie schreit ins Mikro: „Das | |
volkseigene Vermögen wurde ausgeplündert.“ Und fordert: „Raus aus der | |
Nato.“ | |
Das Volk, das hier agitiert werden soll, ist indes robust desinteressiert | |
an dem Mix aus DDR-Nostalgie, Friedensrhetorik und | |
Steinzeit-Antiimperialismus. Es strömt an den Parolen vorbei Richtung | |
Einkaufszentrum, mit KiK und Mäc-Geiz, und isst Mettbrötchen bei Rewe. | |
„Sollen die doch Putin wählen“, sagt eine ältere Frau an der Fleischtheke | |
im Supermarkt. Zwischen Umfragen und Wirklichkeit, den hochfliegenden | |
Träumen, das Volk zu vertreten, und der linkssektiererischen Tristesse am | |
U-Bahnhof Tierpark klafft ein Loch, groß wie der Mond. | |
Doch manche halten Wagenknecht für die Rettung. „Ohne Sahra wird die Linke | |
nicht mehr in den Bundestag kommen“, sagt Sabine Zimmermann (62). Die | |
Arbeitsmarktexpertin war 16 Jahre lang bis 2021 für die Linkspartei im | |
Bundestag. Seit mehr als 20 Jahren ist sie DGB-Vorsitzende in der Region | |
Zwickau-Vogtland. Zimmermann ist fest überzeugt, dass eine linke Partei nur | |
mit Wagenknechts Positionen Zukunft hat. | |
„Das Wagenknecht-Lager ist nicht klein, es ist groß“, sagt sie. Bei der | |
Parteibasis im Osten sei es „auf keinen Fall die Minderheit“. Am | |
Wahlkampfstand hätten sie oft die Klage gehört: „Was macht ihr mit Sahra | |
Wagenknecht?“ Doch anstatt der populären Frontfrau zu folgen, habe sich die | |
Partei mit der Forderung nach offenen Grenzen und dem Gendern von der | |
Lebenswirklichkeit im Osten und der Unterschicht entfernt. | |
Für die GenossInnen in Berlin hat Zimmermann nur Spott übrig: „Die | |
Parteispitze merkt schon lange nicht mehr, wie die Basis tickt.“ In der | |
Linkspartei gebe es zu viele, die sich „moralisch überlegen fühlen und | |
jeden AfD-Wähler gleich zum Neonazi stempeln.“ | |
Als die Parteispitze um Janine Wissler und Martin Schirdewan [6][im | |
Dezember in Leipzig mal wieder versuchte, die Scherben der Linkspartei | |
zusammenzukleben,] polterte Zimmermann, dass „Teile der Funktionärsclique | |
außen- und friedenspolitisch linke Ideale verraten“. Das bedeutet | |
übersetzt: Deutschland soll der Ukraine nicht nur keine Waffen liefern, das | |
ist die offizielle Linie der Partei, sondern auch alle Sanktionen – im | |
Wagenknecht-Sound „Wirtschaftskrieg“ – gegen Russland aufheben und wieder | |
russisches Gas kaufen. „Vor Leipzig stand die Linke am Abgrund, heute ist | |
sie schon einen Schritt weiter“, sagt Zimmermann. | |
Die Distanz, mit der die Gewerkschafterin auf die Partei schaut, hat auch | |
damit zu tun, dass sie 2021 nach 16 Jahren nicht mehr für den Bundestag | |
aufgestellt wurde. Die sächsischen GenossInnen gaben Clara Bünger, einer | |
jungen Aktivistin der Seebrücke, den Vorzug. Bünger nannte Wagenknechts | |
Rede zum Ukraine-Krieg „ekelhAFD“. | |
Zimmermanns Verdruss ist aber nicht nur aus Verletzung geboren – die | |
Sympathie für Wagenknecht ist in der Partei weiter verbreitet, als es oft | |
scheint. Falls sich die Linkspartei spalte, so Schätzungen von | |
Wagenknecht-Gegnern, würde im Osten ein Drittel bis zur Hälfte der | |
GenossInnen die Linkspartei verlassen – und auch die Fraktionen in den | |
ostdeutschen Landtagen. Im Osten gibt es neue Fronten. | |
Michael Brie, früher mal ein theoretischer Kopf der Ostreformer, hat | |
kürzlich im Neuen Deutschland [7][einen Text veröffentlicht,] der stark | |
nach Wagenknecht klang. Anstatt sich um Lohnabhängige und Frieden zu | |
kümmern, sei die Linkspartei für offene Grenzen, bei der Coronapolitik auf | |
Regierungslinie gewesen und übersehe, dass der Westen die Ukraine benutze, | |
um „Russland als geopolitische Kraft auszuschalten“. Die USA als imperialer | |
Feind, Russland als Opfer. Teile der Gründergeneration der PDS scheint in | |
der Existenzkrise der Losung „Vorwärts in die Vergangenheit“ zu folgen. | |
Wagenknecht katalysiert die Konflikte – aber der erbitterte Streit würde | |
auch weitergehen, wenn sie sich morgen ins Privatleben zurückziehen würde. | |
Viele sogenannte Linkskonservative bringt die „Wokeness-Fraktion“ und die | |
Fokussierung auf Minderheiten in Rage. „Die identitätspolitischen Themen | |
dominieren. Das ist nicht mehr die Partei, die ich vor 17 Jahren | |
mitgegründet habe“, sagt Carolin Butterwegge (47). Die Kölnerin war | |
Spitzenkandidatin der Linkspartei bei der NRW-Wahl 2021, die mit 2,1 | |
Prozent kläglich verloren ging. | |
Die ganze Ausweglosigkeit der Partei ist nirgends so deutlich wie in NRW – | |
dem mitgliederstärksten Landesverband der Partei und einer der am stärksten | |
ideologisierten. Die Mixtur aus realpolitischer Einflusslosigkeit und | |
gesinnungsfestem Kampf um die richtige Linie wirkt toxisch. Butterwegge hat | |
sich, wie der halbe Landesvorstand und die frühere Parteiführung, aus Frust | |
zurückgezogen – ein ziemlich einmaliger Vorgang in der jüngeren deutschen | |
Parteiengeschichte. Beim letzten Parteitag gelang es nur mit Ach und Krach, | |
überhaupt eine neue Spitze zu wählen. Konstruktive Politik sei „wegen der | |
Aufrufe, Wagenknecht aus der Partei zu werfen und ihr Redeverbote zu | |
erteilen, fast unmöglich“, meint Butterwegge. | |
Butterwegge ist keine kritiklose Anhängerin von Wagenknecht. [8][Die Grünen | |
zur gefährlichsten Partei zu erklären, wie Wagenknecht] es tat, findet sie | |
„hanebüchen“. Und „eine Anti-Identitätspolitik, die Leute verletzt, die | |
sich diskriminiert fühlen“, passe auch nicht zu einer linken Partei. Aber: | |
„Wenn die Linke sich weiter auf identitätspolitische Abwege begibt, ihre | |
letzten friedenspolitischen Positionen aufweicht, auf Kuschelkurs mit der | |
Außenpolitik der Bundesregierung geht, dann ist eine Spaltung schwer zu | |
vermeiden“, meint sie. | |
Also doch Spaltung? Niemand in der Linkspartei will daran schuld sein, alle | |
ringen um den Status, Opfer einer Intrige der anderen bösen Fraktion zu | |
sein. Falls Wagenknecht mit ein paar Getreuen die Fraktion verlässt, sind | |
rechtlich gesehen alle auf hoher See. Wie und wann aus einer Fraktion zwei | |
arbeitsfähige Gruppen entstehen könnten, ist unklar. | |
Einer der wenigen, der derzeit aktiv eine neue Partei forciert, ist Diether | |
Dehm (72), bis 2021 Linkspartei-MdB. [9][Gegen ihn läuft ein | |
Parteiausschlussverfahren,] weil er bei der Europawahl 2024 eine mögliche | |
Konkurrenz zur Linkspartei unterstützen will. Diese Liste, glaubt Dehm, | |
„könnte bei der Europawahl ein zweistelliges Ergebnis einfahren“. Doch der | |
Noch-Linke wirkt auch im schillernden Spektrum der Wagenknecht-Unterstützer | |
reichlich abgedreht. Er postet Fotos mit dem Verschwörungsanhänger Ken | |
Jebsen, poltert gegen den „Nato-Faschismus in der Ukraine“ und klingt wie | |
ein Echo der russischen Kriegspropaganda. | |
Und nun? Es gibt vier Szenarien. Eins: Wagenknecht & Co. sprengen die | |
Fraktion. Das ist, weil sie dann den Spalter-Malus hätten, nicht | |
wahrscheinlich. Zwei: Wagenknecht unterstützt eine offene Liste zur | |
Europawahl 2024 und riskiert damit wie Dehm den Rauswurf aus der Partei. | |
Allerdings gibt es auch da Probleme: 2019 konnten auch Kleinparteien | |
mühelos einziehen, 2024 wird wohl eine 3,5-Prozent-Hürde gelten. Zudem kann | |
eine offene Liste mit politischen Irrlichtern wie Diether Dehm und Ken | |
Jebsen schnell im Chaos versinken. Drei: Der Hagel von Wahlniederlagen wird | |
so schlimm, dass die GenossInnen Wagenknecht als Retterin holen. Allerdings | |
ist [10][ein Parteitag, der pro Wagenknecht stimmt, schwer vorstellbar.] | |
Und dann gibt es noch eine vierte Möglichkeit, die typisch für die | |
strukturkonservative Partei wäre. Die Parteiführung bastelt weiter interne | |
Formelkompromisse, eine Disziplin, in der die GenossInnen Weltniveau haben. | |
Sahra Wagenknecht schießt weiter von der Seite und spielt ihre Paraderolle: | |
Sie erklärt den GenossInnen, was alles falsch läuft. | |
13 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlwiederholung-in-Berlin/!5907045 | |
[2] /Bremer-Linkensprecher-ueber-Wagenknecht/!5897122 | |
[3] /Verstoerende-Rede-im-Bundestag/!5880882 | |
[4] /Nach-Wagenknecht-Rede-im-Bundestag/!5881326 | |
[5] /Protestbuendnis-Heizung-Brot-Frieden/!5881777 | |
[6] /Krisentreffen-der-Linkspartei/!5898781 | |
[7] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169681.krise-der-linken-was-tun-in-zeite… | |
[8] https://www.tagesschau.de/inland/wagenknecht-gruene-101.html | |
[9] /Ausschlussantrag-gegen-Diether-Dehm/!5894806 | |
[10] /Bundesparteitag-der-Linken/!5860858 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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