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# taz.de -- Buch über Göttingens queere Geschichte(n): „Es war eine zweite …
> Auch in einer kleineren Stadt wie Göttingen sind wegweisende Projekte der
> queeren Bewegung entstanden. Das zeigt der Sammelband „In Bewegung
> kommen“.
Bild: Der radikale Flügel der Bewegung: Die Homosexuelle Aktion Göttingen auf…
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er
lebt“: So hieß der Film, mit dem Regisseur Rosa von Praunheim Anfang der
1970er-Jahre die westdeutsche Schwulenbewegung in Schwung brachte. Und das
nicht nur in den Großstädten: Bundesweit gründeten sich schwule
Aktionsgruppen, 1972 auch eine „Initiativgruppe Homosexualität Göttingen“.
Fast parallel dazu entstanden in der Bundesrepublik die ersten autonomen
FrauenLesbenZentren als Räume für Austausch und Selbstermächtigung. An
diesen Moment des Aufbruchs erinnert der Sammelband „In Bewegung kommen –
50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen“: Die darin versammelten
annähernd 40 Beiträge geben Einblick in die Bewegung seit 1972. Der Fokus
liegt dabei auf queerem Aktivismus, wie er die Szene über die
Universitätsstadt hinaus geprägt hat.
„Das Buch erzählt beispielhaft die Entwicklung der queeren Szene jenseits
von Großstädten wie Berlin und Köln“, sagt Hajo Gevers, einer der
Herausgeber*innen, der den Band auch lektoriert hat. So schildert ein
Beitrag die Geschichte des 1988 eröffneten Göttinger FrauenLesbenZentrums
(FLZ).
„In den fünf Jahren des FLZ fanden viele Partys, Kulturveranstaltungen,
Demos, politische Aktionen und interne Auseinandersetzungen statt“,
schreibt Christiane Mielke, die selbst dort aktiv war. Die Themen der
damaligen „hitzigen Diskussionen“ erinnern an so manche aktuelle Debatte:
Soll die queere Szene mit Institutionen wie Parteien oder auch der Stadt
zusammenarbeiten – oder gerade nicht? In Göttingen war das Thema unter
anderem bei den [1][Christopher Street Days] Thema in den vergangenen
beiden Jahren: Ein Teil der Community sprach sich dafür aus, Parteien
einzuladen, ein anderer war entschieden dagegen.
Das FLZ wurde trotz aller Proteste im August 1993 geräumt. Andere queere
Projekte bestehen bis heute, unter anderem das [2][Tagungshaus
Waldschlösschen], dessen Entwicklung Rainer Marbach im Buch beschreibt: Die
tatsächlich nahe Göttingen am Waldrand gelegene Bildungsstätte entstand
1981 aus der Schwulenbewegung heraus und war ein zentraler Vernetzungsort
während der Aids-Krise; einer Zeit, in der vor allem schwule Männer
Stigmatisierung erfuhren und mit Fragen von Leben und Tod konfrontiert
waren. Neben weiteren Angeboten im Bereich der queeren Erwachsenenbildung
finden noch heute bundesweite „Positiventreffen“ im Waldschlösschen statt.
Wie wichtig selbstverwaltete Räume für die Community waren und sind, das
geht aus vielen Beiträgen im Buch hervor, aus Interviews, Berichten und
Gesprächen. Darin beschreiben Autor*innen und
Gesprächspartner*innen die politische Bedeutung dieser Orte – aber
auch die persönliche. „Ich habe das Gefühl, diese Zeit in Göttingen war f�…
mich wie eine zweite Sozialisation, die mindestens genauso wichtig war wie
die erste“, sagt eine Aktivistin über die Göttinger FrauenLesben-Bewegung
der 80er-Jahre.
Ihre Mitstreiterinnen berichten von [3][Selbstverteidigungskursen], aber
auch von informellen Lederjacken-Dresscodes – und einem offenen Treff
namens „Lesben und Zimmerpflanzen“. Solche Erzählungen lockern den Band auf
und machen die Lektüre kurzweilig. „Wir hatten ursprünglich mit der Hälfte
der Beiträge geplant“, sagt Gevers. Das Echo von Initiativen und Menschen
aus der queeren Community war dann aber „größer als gedacht“.
Überhaupt, „queer“: Das Wort galt ursprünglich als Beleidigung, bis
US-amerikanische Aktivist*innen es Ende der 80er- Jahre zur
Selbstbezeichnung positiv umdeuteten. „Insofern stellt es natürlich auf den
ersten Blick einen Anachronismus dar, von 50 Jahren 'queerer’
Bewegungsgeschichte in Göttingen zu sprechen“, schreiben Chriz M. Klapeer,
Folke Brodersen und Volker Weiss. Für die Benutzung des Worts entschieden
haben sich die Herausgeber*innen trotzdem, denn „queer“ führt
Bewegungen zusammen, die ohnehin nicht eindeutig voneinander trennbar sind
– etwa Schwulen-, Lesben-, inter*- und trans*-Bewegung.
Erstere sind im Buch präsenter, vielleicht auch, weil sich eigenständige
trans*- und inter*-Bewegungen in Deutschland erst Mitte der 90er-Jahre
gebildet haben. In einem Interview berichtet trans*-Aktivistin Liv
Teichmann von der Gründung der Göttinger Trans*Beratung, inzwischen
angebunden ans 2018 eröffnete [4][Queere Zentrum]: „Dass es in Göttingen
ein Queeres Zentrum und eine Trans*Beratung gibt, ist erst der Anfang“,
sagt Teichmann, denn [5][Trans*feindlichkeit] sei weiterhin im Alltag
präsent. Und auch in der queeren Szene selbst finden „Benachteiligung,
Ausgrenzung und Ignoranz statt“, so Weiss, Klapeer und Brodersen.
In überblicksartigen Beiträgen beschreiben die drei Autor*innen die
Entwicklung der queeren Bewegung in der Bundesrepublik. Diese vier dichten
Texte ziehen sich durch das Buch und rahmen die weiteren. Das ermöglicht
es, das Göttinger Geschehen einzuordnen in den größeren bundesdeutschen
Kontext.
Die Autor*innen nehmen immer wieder auch eine reflexive Haltung ein,
wenn sie etwa fragen, wer eigentlich queere Bewegungsgeschichte schreiben
kann. Sie stellen heraus, dass auch hier Machtstrukturen wirken und
Geschichtsschreibung daher unvollständig bleibt – sogar im eigenen Buch.
Die historischen Texte sind auf hohem, akademischem Niveau geschrieben und
eher für Leser*innen geeignet, die schon Vorwissen mitbringen.
## Blick in die Zukunft
Gegliedert ist das Buch chronologisch, wenn auch „nicht streng“, so Gevers.
Am Ende bleibt die Frage, wie es in den kommenden 50 Jahren weitergehen
könnte. Da stehen auf der einen Seite die bisherigen Erfolge der queeren
Bewegung, auf der anderen Seite ihre gegenwärtige Zersplitterung sowie die
[6][Bedrohung durch Rechtsextremisten]. Brodersen, Klapeer und Weiss
blicken vorsichtig optimistisch in die Zukunft: „Queer sein ist weiterhin
politisch“, schreiben sie, „es ruht sich nicht aus“ – eine Art Fazit des
Buchs.
Der Sammelband trägt dazu bei, queeren Aktivismus sichtbar zu machen und
führt Projekte zusammen, die sonst oft nur einzeln Beachtung finden. Die
enthaltenen Beiträge zeigen die Höhen, Tiefen und Herausforderungen einer
Bewegung – nicht nur in Göttingen. Damit liefert das Buch einen wichtigen
Impuls auch für interne Auseinandersetzungen und Visionen.
Zusätzlich zu den Texten gibt es im Buch Fotos aus Göttingens queerer
Geschichte sowie eine Chronik. Bis Ende Oktober war im Alten Rathaus der
Stadt eine ebenfalls „In Bewegung kommen“ betitelte Ausstellung zu sehen.
„Das Buch war aber nicht als Dokumentation gedacht“, stellt Gevers klar,
„sondern vertieft Aspekte aus der Ausstellung“. Derzeit laufe noch ein
Filmprojekt, um die Ausstellungsinhalte auch online zugänglich zu machen.
24 Jan 2023
## LINKS
[1] /Christopher-Street-Day-CSD/!t5034790
[2] https://www.waldschloesschen.org/de/
[3] /Kolumne-Mithulogie/!5481189
[4] https://queeres-zentrum-goettingen.de/
[5] /DykeMarch-in-Hamburg/!5873833
[6] /Rechtsextremismus-in-Goettingen/!5633790
## AUTOREN
Pia Schirrmeister
## TAGS
Göttingen
Politisches Buch
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Schwerpunkt LGBTQIA
Homosexualität
Queer
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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