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# taz.de -- Zwei Jahre Brexit: Das britische Eigentor
> Obwohl das Pfund an Wert verliert, hinkt der Export. Bürokratische Hürden
> lähmen den Handel zusätzlich. Auch sonst ist der Brexit eine Katastrophe.
Bild: Britisches Sockenbekenntnis: Dieser Anti-Brexit Demonstrant wusste es bes…
Für viele Briten ist es ein herbes Erwachen: Der Brexit hat sie nicht
reicher gemacht, sondern ärmer. Die Wirtschaftszahlen werden als geradezu
demütigend empfunden, denn kein Land der G20 schneidet noch schlechter ab
als Großbritannien – vom schwer sanktionierten Russland einmal abgesehen.
Zugleich ist das [1][britische Pfund abgestürzt] und hat gegenüber Dollar
und Euro jeweils etwa 20 Prozent seines Werts verloren. Importe werden
teurer, was wiederum die Inflation anheizt. Fast alle Länder haben mit
einer Geldentwertung zu kämpfen, aber die Briten trifft es erneut besonders
hart: Zuletzt lag die Inflationsrate bei 10,7 Prozent.
Die wirtschaftliche Schwäche wirkt sich auch auf die Steuern aus: Der
britische Schatzkanzler nimmt pro Jahr 40 Milliarden Pfund weniger ein als
ohne Brexit. Nun wird eisern gespart, obwohl das Land investieren müsste –
ob in Infrastruktur oder in das [2][Gesundheitssystem]. Auch eher
unerhebliche Details wurmen: So war es ein Politikum, dass die Londoner
Polizei ihre neuen Panzerwagen nicht etwa bei einem britischen Hersteller
kauft, sondern bei Audi.
Denn leider sei keine englische Firma „in der Lage, die Anforderungen der
Ausschreibung zu erfüllen“. Dabei hatten viele Brexit-Fans davon geträumt,
dass ihre heimische Industrie zu ganz neuer Größe erblühen würde. [3][Der
Brexit-Deal] trat am 1. Januar 2021 in Kraft. Die vergangenen zwei Jahre
waren auch deswegen bitter, weil die Briten erleben mussten, wie gering das
internationale Interesse an ihrer Wirtschaft ist.
## Zollprobleme beim Handel mit der EU
Geplant war, nach dem Brexit ganz viele Freihandelsabkommen abzuschließen,
die den Briten einzigartige Vorteile gewähren sollten. Doch faktisch gab es
substanziell neue Abkommen nur mit Australien und Neuseeland, die aber
keinerlei Bedeutung haben. Diese Verträge dürften die britische
Wirtschaftsleistung langfristig um belanglose 0,1 und 0,03 Prozent
steigern.
Der Brexit hat nur Nachteile beschert. Besonders deutlich wird dies bei den
Exporten. Eigentlich müssten die britischen Ausfuhren steigen, weil das
Pfund so stark gefallen ist und die britischen Waren damit auf den
Weltmärkten deutlich billiger werden. Doch die Exporte kommen nicht in Gang
– auch weil der Handel mit der EU durch den Brexit so schwierig geworden
ist. Die EU war und ist der größte Handelspartner der Briten, was wenig
erstaunlich ist.
Schließlich sind die Briten nur 34 Kilometer vom französischen Festland
entfernt. Doch seit dem Brexit müssen die britischen Firmen einen Wust von
Zollunterlagen ausfüllen, wenn sie ihre Güter nach Europa ausführen wollen.
Vor allem Mittelständler sind überfordert. Sie geben entweder ganz auf oder
gründen Tochterfirmen in der EU, um sich die Zollprobleme zu ersparen.
„Der Brexit ist für die Briten eine Katastrophe“, urteilt Finanzexpertin
[4][Dorothea Schäfer] vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
(DIW). Sie hat den Brexit immer kritisch gesehen und ist dennoch
„überrascht, dass es sogar noch schlimmer gekommen ist“.
## Mehrheit bereut den Brexit
Auch in Großbritannien wächst die Einsicht, dass der Brexit ein Fehler war.
In jüngsten Erhebungen sagen nun 51 Prozent der Befragten, dass es falsch
war, die EU zu verlassen, während nur 34 Prozent diese Entscheidung noch
richtig finden. Politische Folgen hat dieser Sinneswandel aber bisher
nicht. Die oppositionelle Labour Party meidet das Thema Brexit lieber, um
keine WählerInnen zu vergraulen – und die regierenden Tories haben sich
auf einen rhetorischen Schlingerkurs begeben.
So soll Premierminister Rishi Sunak kürzlich darüber nachgedacht haben, das
[5][„Schweizer Modell“] zu übernehmen. Bekanntlich ist die Schweiz nicht in
der EU, darf aber am Binnenmarkt teilnehmen, ohne nennenswert in die
EU-Kassen einzuzahlen. Für die Briten wäre ein ähnlicher Deal perfekt: Sie
könnten weiterhin jene 6,8 Milliarden Euro sparen, die sie früher netto an
die EU abgeführt haben – und hätten gleichzeitig ihre Exportprobleme
gelöst.
Allerdings musste Sunak seinen Vorstoß schnell wieder aufgeben, denn die
Tory-Basis zog nicht mit. Einen Nachteil hat das Schweizer-Modell nämlich,
jedenfalls aus der Sicht von Brexit-Fans: Sie müssten wieder viele
EU-Vorschriften übernehmen, denn der Binnenmarkt kann nur funktionieren,
wenn sich alle Teilnehmer an die gleichen Regeln halten. Die Schweiz ist
daher ständig damit beschäftigt, ihre Gesetze an die europäischen
Entscheidungen anzupassen. Das wollen viele Briten nicht.
Umgekehrt hat auch die EU wissen lassen, dass sie das Schweizer Modell
nicht erneut auflegen will. Für Schäfer ist dies nur konsequent: Die EU
könne den Zugang zum Binnenmarkt „nicht verramschen“, weil dann weitere
Länder austreten würden, um Mitgliedsbeiträge zu sparen. „Das wäre der
Spaltpilz.“
## Fatale Folgen für Finanzsektor
Wenn die Briten über den Brexit diskutieren, wird vor allem über
Zollformulare oder leere Supermarktregale geklagt. Dabei spielt sich das
eigentliche Drama anderswo ab – in der City of London. Die britischen
Banken unterliegen nicht mehr der europäischen Aufsicht und verlieren damit
den Zugang zum Festland. Schäfer schätzt, dass der britische Finanzsektor
„langfristig um 30 Prozent schrumpfen wird“.
Diesen Verlust können sich die Briten nicht leisten. Denn die Umsätze der
City of London wurden benötigt, um die Einfuhren zu finanzieren. Die Briten
haben schon immer weit mehr importiert als exportiert, und diese Defizite
schwellen nun weiter an. Bisher war es kein Problem, dass sich die Briten
im Ausland verschuldet haben, um ihren Konsum zu decken. Denn das Pfund
galt als stabile Währung.
Damit könnte es bald vorbei sein, weil nach dem Brexit auffällt, dass
Großbritannien eine ziemlich kleine Insel ist, die fast keine Industrie
hat. Es ist selten, dass ein Land freiwillig verarmt. Aber die Briten haben
sich dafür entschieden.
4 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/pfund-dollar-rekordtief…
[2] /Streiks-in-Grossbritannien/!5902917
[3] /Schwerpunkt-Brexit/!t5313864
[4] https://www.diw.de/de/diw_01.c.10934.de/personen/schaefer__dorothea.html
[5] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/brexit-rishi-sunak-und-das-schw…
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
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