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# taz.de -- Unabhängigkeitsbewegung in Schottland: Mit dem Brexit im Rücken z…
> Schottland wählt – erstmals seit dem Austritt aus der EU. Befürworter der
> Unabhängigkeit wittern eine Chance, sich endlich von London loszusagen.
Bild: Exregierungschef Alex Salmond versucht mit der neuen Partei Alba ein poli…
Edinburgh/Nordost-Schottland taz | Die schottische Hauptstadt ist für
gewöhnlich voll von Menschen. Doch der anhaltende Lockdown und die
Reisebeschränkungen haben Edinburgh in eine Geisterstadt verwandelt. Nur
wenig deutet daraufhin, dass eine bedeutende Wahl bevorsteht: Oben auf
Calton Hill posiert ein Mann mittleren Alters zwischen gassigehenden
Hundehalter*innen für ein paar Journalist*innen. Es ist Alex Salmond,
Schotttlands umstrittener Exregierungschef und einstiger Chef der Scottish
National Party (SNP).
Salmond ist hier, um vor Schottlands Parlamentswahl am Donnerstag kommender
Woche für sein Comeback und seine neue Partei zu werben. Alba, so heißt
sie, ist nur wenige Wochen alt. Doch der Politikveteran hofft, dass die
Partei ihn wieder nach vorn katapultiert, dank eines bombastischen
Populismus und der Unterstützung seiner treuen Fans.
Die anstehende Abstimmung ist die erste schottische Parlamentswahl seit dem
Brexit. Damit haben die Wähler*innen nun die Möglichkeit, auch ein
Urteil über die britische Regierungspolitik zu fällen. Schottlands
Unabhängigkeitsbefürworter*innen sehen die Zeit gekommen für ein
erneutes Referendum über die Abspaltung vom Vereinigten Königreich.
In Schottland gilt ein personalisiertes Verhältniswahlrecht wie in
Deutschland und Salmonds Plan ist es, die Hardcore-Nationalist*innen zu
überzeugen, ihm ihre Zweitstimme zu geben und so – zusammen mit der SNP –
eine „Supermehrheit“ zu erlangen. Damit will er Druck ausüben auf die
Regierung in London, damit diese den Schott*innen ein neues
Unabhängigkeitsreferendum erlaubt. Kritiker*innen jedoch sehen in Alba
ein Eitelkeitsprojekt, das die Unabhängigkeitsbewegung spaltet.
„Ich habe die SNP zwanzig Jahre lang angeführt“, sagt Salmond, „und unse…
Beziehungen mit der SNP sind gut. Aber nehmen Sie den Nordosten, wo es fast
keinen Sinn ergibt, die Zweitstimme der SNP zu geben.“ Indem Alba
Kandidat*innen auf den regionalen Listen aufstellt, will die Partei
verhindern, dass Sitze an andere Parteien als die
Unabhängigkeitsbefürworter*innen gehen.
## Salmond vor Gericht freigesprochen
An dem Exregierungschef nagt noch immer eine öffentlich breit wahrgenommene
Gerichtsverhandlung, [1][bei der ihm sexuelle Übergriffe vorgeworfen
wurden]. Ein Gericht sprach ihn jedoch frei. Dem Prozess folgte nicht nur
ein Riss in der politischen Landschaft Schottlands, sondern auch eine
persönliche Enttäuschung: Salmond verließ die SNP nach Jahrzehnten als eine
der zentralen Figuren der Unabhängigkeitsbewegung und brach mit seiner
Nachfolgerin, der beliebten derzeitigen Ersten Ministerin Nicola Sturgeon,
nachdem diese sich von ihm distanziert hatte.
Schottland ist in acht Wahlbezirke eingeteilt. Salmond hofft, im großen
Bezirk North East Scotland genügend Stimmen für ein glorreiches Comeback zu
bekommen. Der Bezirk erstreckt sich von der Stadt Dundee über die
Berggruppe der Cairngorms bis zum Fischereiort Buckie.
In einem kleinen Büro in der winzigen Marktstadt Ellon sitzt Hamish Vernal.
Er ist ein Elder Statesman der SNP, der nun aber auch das tiefe Blau von
Alba trägt. Vernal ist 1961, mit 17 Jahren, in die SNP eingetreten und
kommt aus einer Generation, in der Unabhängigkeit eine
Minderheitenangelegenheit war. Vor wenigen Wochen erst hat er die SNP
verlassen, um Salmonds Projekt zu unterstützen. Vernal zufolge haben die
Schott*innen ein Recht auf Selbstbestimmung. „Wenn du versuchst,
Schott*innen etwas wegzunehmen, werden sie darum kämpfen“, sagt er.
Bei Alba werden Salmonds Auftritte vor Gericht sowie seine öffentlichen
Auseinandersetzungen mit der SNP nicht erwähnt. Stattdessen inszenieren
sich die Parteimitglieder als Aufständische, die versuchen, die Medien und
ihre angebliche Voreingenommenheit gegen die Unabhängigkeit zu umgehen.
Salmond müsse Blogs und soziale Medien nutzen, sagt Vernal. „Denn ziemlich
offensichtlich sind die Mainstreammedien nicht für Alex und Alba
empfänglich. Die Fernsehsender haben ihm keinen Platz im TV-Duell gegeben.
Es ist ein Kampf, aber irgendwie auch nicht, weil Alex nie um
Öffentlichkeit kämpfen muss.“
Salmond und seine Pop-up-Populist*innen sehen sich selbst als Ergänzung zur
SNP. Allein: Die SNP weigert sich mitzuspielen. Sturgeon hat ihren
potenziellen Wähler*innen eingeschärft, der Regierungspartei beide
Stimmen zu geben. Sie will die Marke SNP trennen von den Personen in und um
Alba. Umfragen deuten daraufhin, dass die SNP und ihre umfassende
Mitte-links-Politik durchaus allein eine absolute Mehrheit erreichen
könnte.
Karen Adam ist SNP-Kandidatin für den ländlichen Wahlkreis von Banffshire
und Buchan Coast zwischen Aberdeen und Inverness. Die Gegend wurde sowohl
vom Brexit als auch vom Coronavirus hart getroffen. Der Austritt aus der EU
hat sich auf die Fischer*innen und die Landwirtschaft ausgewirkt, weil
sie für den Export produzieren, der nun komplizierter geworden ist. Sie
glaube, dass die SNP kurz vor einem Wahlsieg steht, erklärt Adam beim
Spaziergang durch Buckie, das sich entlang der Bucht Moray Firth erstreckt.
Ein Wahlsieg, der den von 2011 noch toppen könnte, der damals zum ersten
Unabhängigkeitsreferendum führte.
„Wir bekommen eine Menge guter Rückmeldungen für das, was wir in der
Covidpandemie getan haben“, sagt Adam. „Viele Leute haben mir erzählt, wie
fantastisch Nicola das Land durch die Pandemie geführt hat, und sie
respektieren ihre Führung und ihre Entscheidungen in dieser Zeit.“ Von der
britischen Regierung dagegen fühlten sich vor allem die Fischer*innen
„verraten“. „Sie sind wütend auf die Konservativen und bringen das auch …
gegenüber zum Ausdruck.“
Aus der Wut über den Brexit-Deal und den Hang zu englischem Nationalismus
in der konservativen Partei schlägt die SNP nun Kapital. Den Wahlkampf
führt sie mit zwei zentralen Themen: Selbstbestimmung und
verantwortungsvolle Führung in der Pandemie.
Auf den Straßen von Buckie kommt das gut an. Albas
Unabhängigkeitsfundamentalismus dagegen scheint begrenzten Reiz zu haben.
Danielle Mair arbeitet in einem Supermarkt und steht Salmonds Projekt
ablehnend gegenüber: „Die Leute mochten ihn, als er SNP-Chef war.“ Doch
nach den Vorwürfen gegen ihn sei es für Jüngere schwierig, mit ihm
zurechtzukommen.
Emily Plant, die im Bildungsbereich arbeitet, sieht das ähnlich: „Nicola
steht in der Pandemie in Kontakt mit jüngeren Menschen“, sagt sie. Die
beiden Frauen sind pro Unabhängigkeit, aber legen mehr Wert auf gute
Regierungsarbeit als auf den donnernden Unabhängigkeitsfundamentalismus von
Alba.
Die Unabhängigkeitsbewegung hatte sich bereits diversifiziert, als die
Schottische Grüne Partei 2014 aus dem Schatten der SNP trat. Die Grünen
bewiesen sich als zentrale Verbündete im Parlament, wenn es etwa darum
ging, Haushalte zu verabschieden. In der Bewegung boten sie denjenigen
Menschen eine Heimat, die zwar an die Unabhängigkeit Schottlands glaubten,
aber die Nähe der SNP zu Ölindustrie und Großunternehmen kritisch sahen.
## Grüne wollen auch die Unabhängigkeit
In Aberdeen an der Ostküste patrouillieren Grünen-Aktivist*innen, um
dafür zu sorgen, dass die Region nicht Salmond, sondern einen
linksgerichteten Grünen wählt. Die Grünen glauben, sie könnten bis zu 11
von 129 Sitzen im Parlament gewinnen. Das wäre ein Durchbruch und würde
bedeuten, dass bis zu 60 Prozent der Sitze von Pro-Unabhängigkeitsparteien
gehalten würden. Es wäre ein klares Zeichen an London.
Sylvia Hardie ist eine halb pensionierte Gelegenheitsjobberin. So
beschreibt sie sich selbst. Hardie lebt als Grünen-Kandidatin neu auf. 2015
trat sie der Partei bei, optimistisch angesichts der Möglichkeiten, die
sich durch das [2][Referendum 2014] ergeben hatten. In diesen Tagen nun
läuft sie treppauf, treppab, um Briefe an Wähler*innen zu verteilen. Sie
hofft, dass sich die Grünen als seriöse Kraft beweisen können.
„Ich denke, wir haben eine Menge Konkurrenz, aber wir haben gute Chancen“,
sagt Hardie. „Es gibt SNP-Wähler*innen, die uns ihre zweite Stimme geben
werden – von denen, die ich kenne, sagt etwa die Hälfte, sie würde ihre
Zweitstimme den Grünen geben.“ Unabhängigkeit sei eine „Top-Priorität“,
aber offensichtlich sei auch der Schutz der Umwelt wichtig. Die Grünen
stünden für beides.
Die Wahl am Donnerstag ist für viele nicht nur eine Abstimmung über
Unabhängigkeit und die Regierung in London, sondern auch über den
Unterschied zwischen Populismus und der von Sturgeons propagierten
einvernehmlichen Selbstbestimmung. Die SNP-Wahlbotschaft, die an fast alle
Haushalte in Schottland verteilt worden ist, verspricht: „Bessere Zeiten
liegen vor uns. Es ist Zeit, sich vorzubereiten.“
Salmond dagegen zieht es vor, den früheren britischen Außenminister George
Canning zu zitieren, in charakteristisch bombastischem Stil: „Ich habe eine
neue Welt ins Leben gerufen, um das Gleichgewicht der alten
wiederherzustellen.“ Kommende Woche wird sich herausstellen, ob in dieser
Welt auch Platz ist für die Geister der Vergangenheit. Klar ist aber, dass
die schottische Unabhängigkeitsbewegung an Schwung gewinnt, nun da die
Konsequenzen des Brexits Großbritannien einholen.
29 Apr 2021
## LINKS
[1] /Ehemaliger-schottischer-Regierungschef/!5568063
[2] /Reaktionen-auf-schottisches-Referendum/!5032889
## AUTOREN
Dominic Hinde
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