| # taz.de -- Verzicht als Parole: Protestantisierter Protest | |
| > Verzicht ist das Gebot der Stunde. Selbst die Aktivist*innen von | |
| > Extinction Rebellion wollen es fortan ruhiger angehen lassen. Tja, und | |
| > nun? | |
| Bild: Prost Trockenheit! | |
| Der Januar ist der protestantischste unter den Monaten, jedenfalls in | |
| kulturprostestantischen Gegenden. Er gehört in säkularen Gesellschaften den | |
| Krankenkassen und Lebenscoaches, den Asketen, Klangschalentheoretikern und | |
| Optimierern. Katholiken genießen im Januar noch in vollen Zügen die Reste | |
| von Gebäck und Speck aus Weihnachts- und Silvesterkocherei und hauen sich | |
| bis Aschermittwoch noch die Bäuche mit Krapfen, Kräuterschnaps und | |
| Kaubonbons voll. | |
| Doch der Katholizismus ist schon seit Jahren Verlierer einer in fast allen | |
| Ecken nach protestantischer Ethik riechenden Gesellschaft. Der Tod Joseph | |
| Ratzingers an Silvester könnte das Eingangsgeläut in ein Jahr gewesen sein, | |
| in dem er es besonders schwer haben wird. Zum einen, weil die katholische | |
| Kirche so viele Mitglieder (darunter einen ehemaligen Papst) wie noch nie | |
| verloren hat. Und auch, weil der Verzicht die politische Programmatik und | |
| von Regierung bis Hallenbad bestimmt. | |
| Das Verzichtsgebot versteckt sich nicht mehr in Wörtern wie „Heilfasten“, | |
| die nach Erde und Sauerkrautlauge schmecken. Heute wird sie von Influencern | |
| unter Stichwörtern wie „Dryjanuary“ und „Veganuary“ gefeatured. Wer da | |
| nicht mitmacht oder drüber lacht, ist selbst schuld an Herzinfarkt, | |
| Depression, schlecht geratenen Kindern, Handydiebstahl und Hungerlohn. | |
| Gleich am ersten Tag des Jahres 2023 erklärte auch die Gruppe Extinction | |
| Rebellion aus Großbritannien den Verzicht: [1][„We quit.“] Mit „Wir hör… | |
| auf“ überschrieben sie ihre Mitteilung, dass sie in Zukunft auf die Störung | |
| der Öffentlichkeit verzichten würden. Und das nach einem Jahr, in dem so | |
| breit, viel und differenziert wie selten über Klimaaktivismus gesprochen | |
| wurde. Man wolle die Taktik ändern und auf zentrale Massenmobilisierung | |
| statt dezentrale Störaktionen setzen. | |
| ## Kapitulieren vor der Vernunft | |
| Am 21. April soll der Westminster-Palast in London von mindestens 100.000 | |
| Menschen umzingelt werden, um politische Machthaber zu zwingen, endlich | |
| richtig was gegen den Klimanotstand zu tun. Es klingt nach | |
| Vernünftigwerden, hinter der eine Kapitulation der eigenen Courage steckt. | |
| Denn die Umarmung eines Parlaments wird zwar sicher auch zu Schlagzeilen | |
| führen, vielleicht wird der eine oder die andere Parlamentarierin auch was | |
| dazu sagen. Wahrscheinlich wird es für die Politiker an dem Tag sogar | |
| schwer bis unmöglich werden, ins Parlament zu kommen. [2][Aber wird der | |
| besonnenere Aktivismus jetzt dazu führen, dass plötzlich ein Hebel umgelegt | |
| wird?] | |
| Man erinnere sich an eine der größten Blockade des politischen Betriebs in | |
| der BRD. Am 26. Mai 1993 blockierten 10.000 Demonstranten das Bonner | |
| Regierungsviertel. Politiker*innen mussten mit Hubschraubern und | |
| Booten in den Bundestag gebracht werden. Der Anlass war eine der krassesten | |
| Eingriffe in das Grundgesetz nach der Wiedervereinigung: die Abschaffung | |
| des Rechts auf Asyl beziehungsweise seine drastische Einschränkung. Die | |
| nötige Zweidrittelmehrheit aber wurde an dem Tag trotz Lahmlegung des | |
| Bonner Betriebs erreicht. Nur drei Tage später starben fünf Menschen bei | |
| einem rechtsradikalen Anschlag in Solingen. Für eine Mehrheit der deutschen | |
| Politiker*innen war es kein Grund, sich dafür irgendeine Verantwortung | |
| zu geben. | |
| Ich will gar nicht sagen, dass es effektiver wäre, weiter Kartoffelbrei, | |
| Klebstoff und anderen Kram auf Straßen und Gemälde zu verteilen und damit | |
| kleinbürgerliche Abwehrreflexe und mediales Bruhaha auszulösen. Ob die | |
| Protestantisierung des Protests aber wirksamer ist? Sicher, auch jeder | |
| wilden Hedonist*in wird im Alter ein bisschen Protestantismus | |
| aufgezwungen. Auf den Blutdruck, das Cholesterin und die Gefäßverkalkung | |
| muss geachtet, auf Ausschweifung, als gäb’s kein Morgen, verzichtet werden. | |
| Aber auch nur dann, wenn man der Meinung ist, ein Morgen ohne Ausschweifung | |
| ist es wert, gelebt zu werden. | |
| Der Aktivismus des Jahres 2022 hatte was Katholisches. Er kleckerte mit | |
| Kartoffelbrei, wo der Protestantismus sagt, mit Essen spielt man nicht. Er | |
| verstopfte die Straßen wie sonst nur österliche Prozessionen. 2023 aber | |
| wird es zumindest eine viermonatige Fastenzeit geben. Analog zum Dryjanuary | |
| und Veganuary gibt es einen Activism-time-out. Kein Alkohol, kein Fleisch | |
| und kein Aktivismus. Mal sehen, ob er die erhoffte heilende Wirkung auf den | |
| politischen Betrieb hat. | |
| 2 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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