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# taz.de -- Musiker Chancha Via Circuito: Vom Friseursalon ins Laboratorium
> Der Argentinier Chancha Via Circuito arbeitet auf seinem Album „La
> Estrella“ mit abenteuerlustigen Künstlern. Das klingt angenehm verhuscht.
Bild: Der Musiker Pedro Canale alias Chancha Via Circuito war nie ein Party-Ani…
Was wurde eigentlich aus der unabhängigen Plattenfirma ZZK? Gegen Ende der
Nullerjahre gab es um das aus einer gleichnamigen Veranstaltungsreihe in
Buenos Aires hervorgegangene Label einen ziemlichen Hype unter den nach
vorne schauenden Clubtänzern in den hedonistischen Metropolen der Welt.
Künstler*innen wie El Remolón, Frikstailers und [1][Axel Krygier]
konnten mit ihrer Musik immer wieder auch in Europa Punkte sammeln, und man
erwartete, dass sich diese klanglichen Ideen Schritt für Schritt im
digitalen Club-Mainstream einnisten würden.
Dass es nicht so kam, lag vielleicht auch daran, dass plötzlich die
kolumbianische Metropole Bogotá in Südamerika die Meinungsführerschaft
übernahm, mit einer Reihe mächtiger, gleichermaßen live wie im Club
hinreißender Formationen wie [2][Systema Solar, Bomba Estéreo und
Sidestepper].
Bei ZZK Records hat man es nicht auf einen Konkurrenzkampf mit den
umtriebigen Kolleg*innen von Polen Records und *matik-matik* ankommen
lassen, sondern man lässt es ruhiger angehen. Und während Labelgründer
Grant C. Dull mittlerweile vor allem Dokumentarfilme dreht und ansonsten in
anderen Metropolen Lateinamerikas nach Inspirationen sucht, haben die
meisten Stammkräfte neue Heimatbasen.
Pedro Canale etwa, der seit fast zwanzig Jahren unter dem Projektnamen
Chancha Via Circuito arbeitet und dessen Album „Rodante“ 2008 zu den
prägenden ZZK-Veröffentlichungen gehörte, ist mittlerweile beim New Yorker
Label Wonderwheel Recordings untergeschlüpft, wo jetzt mit „La Estrella“
sein neues Album erscheint. Es ist sein ambitioniertestes Werk bis dato.
Chancha Via Circuito war nie ein Party-Animal wie etwa die Jungs aus dem
Systema Solar. Dennoch fällt auf, wie weit sich seine Musik mittlerweile
von den Cluberfordernissen entfernt hat. Die Beats wispern eher im
Hintergrund, als mächtig herumzudonnern, statt flotter Cumbia-Tempi gibt es
melancholische Downtempo-Grooves, und wenn eine heruntergepitchte Stimme in
„La rosa china“ leicht weinerlich immer wieder auffordert: „Vamos, vamos a
bailar!“ und „Cumbia!“ fordert, klingt das weniger wie ein Ruf auf den
Tanzboden als wie eine Veralberung des Cluboptimismus von anno dunnemals.
## Mit Sounds kokettieren
Ironie könnte man auch in der Art vermuten, wie Canale immer wieder mit
Sounds kokettiert, die man als dritte Ableitungen der Klänge von in älterer
südamerikanischer Tanzmusik dominanten Instrumenten wie Panflöte oder
Akkordeon lesen könnte. Doch diese leichten inhaltlichen Spitzen können
nicht den Eindruck größter handwerklicher Meisterschaft beeinträchtigen.
Man merkt, dass Canale schon lange im Geschäft ist und seine Tools gut
kennt. Alles klingt absolut ausgewogen, flauschig und gerne angenehm leicht
vernebelt und verhuscht.
Allerdings ist auch Canale nicht immun gegen jenes Virus, das sich seit
einiger Zeit pandemisch in den Aufnahmestudios und den zu solchen Zwecken
genutzten privaten Wohnräumen ausgebreitet hat: Es äußert sich in einem
unmäßigen und anlasslosen Einsatz von Hall. Vielleicht weil dieser Gimmick
so einfach verfügbar ist und meistens ordentlich Eindruck schindet, wird
gerne viel und wahllos mit Räumlichkeit herumgeschleudert.
Auch „La Estrella“ findet in überdimensionierten (Hall-)Räumen statt, als
hätte Canale Aufnahmen in leeren Tempeln oder Indiana-Jones-artigen
geheimnisvollen Dschungelkatakomben gemacht. Der Eindruck wird noch
verstärkt durch Dschungeltierlaute, die an den „Exotica“-Meister, den
Kalifornier Martin Denny, erinnern, und immer wieder Geräusche, die
fließendes oder tropfendes Wasser assoziieren lassen.
## Die richtigen Leute ausgesucht
Diese kleinen Geschmacksverirrungen fallen aber nicht mehr ins Gewicht,
wenn sich Canale in den Dienst anderer Künstler*innen stellt. Das tut er
auf „La Estrella“ oft – auf mehr als der Hälfte der Stücke werden
Gastvokalist*innen eingesetzt. Und er hat sich die richtigen Leute
ausgesucht – vor allem Kolumbien stellt bedeutende Kräfte: Da ist etwa die
wundervolle Lido Pimienta, deren zerbrechlich-emotionale Performance in
„Amor en silencio“ einen eigentümlichen Kontrast zur sie umgebenden
kühl-perfektionistischen klanglichen Eleganz liefert.
Da ist Eblis Álvarez, der unter dem Projektnamen Meridian Brothers seit
Jahren die kühnsten und lustigsten Cumbia-Abstraktionen produziert und der
in „El pavo real“ als Sänger, Texter und Multiinstrumentalist brillieren
darf, aber seinen gewohnten unglaublich seltsamen Klangkosmos zu Hause
lässt und sich ganz in die klangformenden Hände von Pedro Canale begibt.
Und da sind die Schwestern Juanita und Valentina Añez, die ansonsten in
unterschiedlichen Projekten und Kontexten gerne mit Mikrotonalität und
anderen merkwürdigen Unsingbarkeiten herumexperimentieren. Die beiden
machen aber auch dann noch eine exzellente Figur, wenn sie wie hier in „El
peso“ zu Popsängerinnen heruntergezähmt werden.
Drohen seine eigenen Instrumentals mitunter Frisiersalon- beziehungsweise
Sonnenuntergang-auf-Ibiza-kompatibel zu werden, kreiert Canale in
Zusammenarbeit mit Gästen aus der wilden und experimentierfreudigen Ecke
eine Laboratoriumssituation. Sie erzeugt die nötige Reibung, die „La
Estrella“ letztlich zu einem tollen Album macht. Vielleicht sollte er sich
in Zukunft stärker darauf werfen, mit seiner unbestreitbaren technischen
Meisterschaft andere Künstler*innen zu produzieren.
So wie Eblis Álvarez vor drei Jahren das sensationelle Album „Colombiana“
für den spanischen Flamenco-Unkonventionalisten Niño de Elche produzierte,
könnte man sich eine Chancha-Via-Circuito-Behandlung gerade für die
abenteuerlustigen Kräfte des lateinamerikanischen Musikkosmos gut
vorstellen.
8 Jan 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Detlef Diederichsen
## TAGS
Pop
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