# taz.de -- Polizeigewalt gegen Jugendliche: Heftige Proteste in Griechenland | |
> Nach dem Kopfschuss auf einen Jugendlichen protestieren Tausende in | |
> Thessaloniki. Es war auch der Jahrestag der Erschießung eines 15-Jährigen | |
> in Athen. | |
Bild: Dienstagabend in Thessaloniki: Rund 8.000 Menschen demonstrierten | |
ATHEN taz | Die Proteste nach dem [1][Kopfschuss auf einen 16-jährigen Roma | |
am Montagabend in Thessaloniki] im Norden Griechenlands kommen für die | |
konservative Regierung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis, die seit | |
dem 8. Juli 2019 in Griechenland im Amt ist, zur ultimativen Unzeit. | |
Mitsotakis verspricht, eine Politik von „Recht und Ordnung“ auf den | |
griechischen Straßen und Plätzen konsequent durchsetzen zu wollen. Darunter | |
verstehen allzu häufig einige griechische Ordnungshüter wie die | |
motorisierte Polizei „DIAS“ eine Einladung für die Ausübung völlig | |
überzogener und unangemessener Gewalt. Die „DIAS“-Männer sind unter | |
Mitsotakis im Dauereinsatz. Das führt aber auch dazu, dass hierzulande der | |
Unmut über die offenbar enthemmten Cowboys auf ihren Zweirädern zunehmend | |
wächst. Gewalt produziert Gegengewalt. Polizeigewalt sowieso. Ein | |
Teufelskreis. | |
Den Kopfschuss auf den 16-Jährigen am Montag in Thessaloniki hatte ein | |
Polizist der motorisierten „DIAS“-Einheit abgefeuert. Ein Mitarbeiter der | |
Tankstelle hatte die Polizei darüber informiert, dass der Mann ihn | |
bestohlen habe. Prompt setzte die Jagd auf Kostas Frangoulis ein. Er hatte | |
getankt, ohne die dafür fälligen 20 Euro zu bezahlen, dann gab der Junge | |
Vollgas – und erhielt von hinten einen Kopfschuss. Die Kugel durchbrach die | |
Heckscheibe seines Pick-Ups, dann auch die Kopfstütze und bohrte sich | |
schließlich tief in seinen Kopf. Seither liegt der Minderjährige auf der | |
Intensivstation in Thessaloniki und kämpft ums Überleben. | |
Ohnehin sind die Griechen spätestens seit dem denkwürdigen 6. Dezember 2008 | |
in Sachen Polizeigewalt stark sensibilisiert. Dieses Datum hat sich | |
gesellschaftlich fest verankert: Am Abend des 6. Dezember 2008 war der 15 | |
Jahre alte Schüler Alexandros Grigoropoulos im Athener Szeneviertel | |
Exarchia erschossen worden. Er war dort mit Freunden unterwegs. Der | |
Polizist ließ ihn liegen und suchte das Weite. Seither finden alljährlich | |
am 6. Dezember in den Metropolen Athen, Thessaloniki und anderswo | |
Demonstrationen zum Gedenken an [2][Alexandros Grigoropoulos] statt. Sie | |
münden routinemäßig in Ausschreitungen. | |
Das war an diesem Dienstagabend nicht anders. Nach Polizeiangaben | |
versammelten sich zunächst 8.000 Menschen in der Athener Innenstadt zum 14. | |
Jahrestag der Ermordung von Grigoropoulos. Die Menschenmenge zog auf einer | |
festgelegten Route durch die Straßen, bis sich etwa 1.000 Personen aus der | |
autonomen Szene unweit des Athener „Omonia“-Platzes von ihr lösten. Die | |
Vermummten griffen die Polizei mit Molotow-Cocktails, Steinen und anderen | |
Gegenständen an. Erst durch den massiven Einsatz von Blendgranaten, | |
Tränengas und einem Wasserwerfer konnte die Polizei Herr der Lage werden. | |
Sie jagte die Krawallmacher auch noch in den Schächten der dortigen | |
U-Bahn-Station. 19 Personen wurden in Gewahrsam genommen. | |
Thessaloniki glich am Mittwochmorgen einer „bombardierten“ Landschaft, wie | |
griechische Medien berichteten. Die Bilanz einer langen, unruhigen Nacht: | |
Verbrannte Mülltonnen, zerbrochene Flaschen von Molotow-Cocktails und | |
Gaskanister, beschädigte Geschäfte, 16 in Polizeigewahrsam genommene | |
Personen und zwei verletzte Polizisten, die ins Krankenhaus eingeliefert | |
werden mussten. | |
Zuvor hatten im Zentrum von Thessaloniki auf Initiative verschiedener | |
Organisationen und Vereinigungen Veranstaltungen, Versammlungen und | |
Demonstrationen stattgefunden, an denen laut Polizeiangaben etwa 6.000 | |
Menschen teilnahmen. | |
Im nordwestlichen Athener Vorort Menidi, in dem viele Roma und Sinti leben, | |
erlitten bei Zusammenstößen mit der Polizei laut Medienberichten zehn | |
Ordnungshüter Verletzungen. Zwei Randalierer wurden in Polizeigewahrsam | |
genommen. | |
## Erste Demonstrationen bereits am Montagabend | |
Gruppen von Anarchisten und Autonomen riefen schon für den Montagabend zu | |
einer Protestkundgebung im Zentrum von Thessaloniki auf. In Thessaloniki | |
vor dem Krankenhaus, wo der schwer verletzte Kostas Frangoulis nun liegt, | |
kam es zu massiven Ausschreitungen zwischen der griechischen Polizei und | |
aufgebrachten Angehörigen und Freunden des 16-Jährigen. Vor laufenden | |
Kameras erregte sich sein Vater über das brutale Vorgehen der Polizei. | |
„Soll man einen Menschen töten, nur weil er an der Tankstelle nicht bezahlt | |
hat?“ | |
Auch in Athen fanden Kundgebungen statt. Es kam zu schweren | |
Ausschreitungen. Bei einem dieser Vorfälle im Athener Anarchisten-Viertel | |
Exarchia griff eine Gruppe von etwa 100 Personen Polizeikräfte mit | |
Molotow-Cocktails an. Proteste brachen auch am Dienstagvormittag vor dem | |
Gerichtsgebäude in Thessaloniki aus, wo der Polizist zum ersten Mal | |
erschien. Der „DIAS“-Polizist wurde sofort suspendiert. Unterdessen ist ein | |
Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden und er soll am Freitag vor | |
Gericht erscheinen. Dutzende Roma ließen ihrem Frust freien Lauf, als der | |
Polizist dem Staatsanwalt vorgeführt wurde. | |
Für die Roma und Sinti weckt der Fall Frangoulis böse Erinnerungen. Am 23. | |
Oktober vorigen Jahres hatten motorisierte „DIAS“-Polizisten bei einer | |
wilden Verfolgungsjagd im westlichen Athener Arbeitervorort Perama einen | |
21-jährigen Roma erschossen. Auch damals entlud sich die Wut und Empörung | |
der Roma und Sinti in spontanen Kundgebungen und heftigen Krawallen. Die | |
Roma, in Griechenland weiter eine soziale Randgruppe, die oftmals gemieden, | |
ausgegrenzt, diskriminiert und benachteiligt wird, fühlen sich inzwischen | |
als offene Zielscheibe der Polizei. | |
Bonuszahlung für die Polizei | |
[3][Premier Mitsotakis] ging an beiden Unruhetagen demonstrativ seinen | |
Amtsgeschäften nach, so als gäbe es keinen Kopfschuss, keine Demos, keine | |
Ausschreitungen, keinen Gedenktag an Alexandros Grigoropoulos. | |
Der Regierungschef ließ den ungeheuerlichen Vorfall um den Roma Kostas | |
Frangoulis einfach an sich abperlen. Doch damit nicht genug. Am Montag, nur | |
wenige Stunden nach den Schüssen in Thessaloniki, verkündete Mitsotakis bei | |
einer Veranstaltung seiner konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia | |
(ND) in der Stadt Tripolis auf der Halbinsel Peloponnes mit strahlender | |
Miene: „In Anbetracht der verstärkten Arbeit der Polizei, die 24 Stunden im | |
Einsatz ist, und der erfolgreichen Bewältigung der Migrationsströme | |
gewähren wir allen Beamten der griechischen Polizei und der Küstenwache | |
eine einmalige Unterstützung. Alle Mitarbeiter werden im Dezember eine | |
Sonderzahlung in Höhe von 600 Euro pro Mitarbeiter erhalten.“ | |
Von Feingefühl keine Spur. Dafür, ganz unverblümt, ein Wahlgeschenk. Denn | |
spätestens im Frühjahr stehen Neuwahlen in Griechenland an. Die | |
versammelten ND-Leute brachen jedenfalls in tosenden Applaus aus, während | |
650 Kilometer weiter nördlich der Roma Kostas Frangoulis mit dem Tod rang. | |
Nicht nur in den Ohren seiner Angehörigen und Freunde klangen Mitsotakis' | |
Worte wie Hohn. | |
7 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ferry Batzoglou | |
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