# taz.de -- Aufrüstung statt Zivilschutz in Polen: Polens Bunkermentalität | |
> Die PiS-Regierung hat ihre Militärausgaben drastisch erhöht und bestellt | |
> wie wild Panzer und Raketenwerfer. Doch wo bleibt der Zivilschutz? | |
„Voller Genugtuung“ hatte Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak | |
noch Anfang der Woche auf das Angebot Deutschlands reagiert, mit | |
Eurofighter-Kampfflugzeugen und Patriot-Raketenabwehrsystemen dabei zu | |
helfen, die polnische Ostgrenze und damit auch Nato- und EU-Grenze zu | |
schützen. Vor Kurzem war eine Rakete rund sechs Kilometer hinter der Grenze | |
in einem polnischen Dorf eingeschlagen. Dabei waren zwei Männer ums Leben | |
gekommen. [1][Auch Premier Mateusz Morawiecki], der wie Blaszczak der | |
nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) | |
angehört, begrüßte die leihweise Patriot-Aufstellung. | |
Doch seit Mittwochabend ist das alles Schnee von gestern. PiS-Parteichef | |
Jarosław Kaczyński, der schon [2][seit Monaten gegen die Deutschen hetzt], | |
um damit Punkte für die Parlamentswahl 2023 zu sammeln, lehnt das Angebot | |
als „deutsche Propaganda“ ab. Lieber verzichtet er auf die Sicherheit | |
Polens und der ganzen Nato als auf seine antideutsche Wahlkampfrhetorik. | |
Noch Mitte Oktober hatte Polens Vize-Innenminister Maciej Wąsik verkündet: | |
„Wir bereiten uns auf die schwärzesten Szenarien vor.“ Gemeint war ein | |
möglicher Angriff Russlands auf Polen. Zugleich beruhigte er: „Polen | |
verfügt über 62.000 Schutzräume und Bunker.“ Doch seit dem Raketeneinschlag | |
im polnischen Dorf Przewodów, sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze | |
entfernt, fragen Polens Bürger immer lauter: „Wo sind sie eigentlich, die | |
Schutzräume für uns?“ und „Wieso haben die Sirenen nicht geheult? Wieso | |
wurden die polnischen Grenzbewohner nicht gewarnt?“ | |
Oberst Krzysztóf Przepiorka, der einst in der elitären Antiterroreinheit | |
GROM kämpfte, fordert auf der Titelseite des Boulevardblatts Fakt: „Die | |
Menschen müssen wissen, wie sie sich retten können. Wir brauchen ein | |
umfassendes Sicherheitstraining für die gesamte Zivilbevölkerung.“ | |
## Atombunker zu Diskos | |
Kleinlaut musste Wąsik bekennen, dass sein Ministerium erst jetzt an einer | |
App arbeite, die demnächst vor Bomben- und Raketendrohungen warnen und auch | |
den Weg zum nächsten Schutzraum aufzeigen solle. Das Problem ist | |
allerdings: Polen hat zurzeit keinen Zivilschutz. Kurz nach dem Überfalls | |
Putins auf die Ukraine beschloss das polnische Abgeordnetenhaus, der Sejm, | |
[3][ein neues „Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes“], strich dabei aber | |
14 Gesetze, darunter auch das über den Zivilschutz. | |
Schlimmer noch: Schon vor knapp 20 Jahren hatten die Abgeordneten bei einer | |
Gesetzesnovelle die Definition „Schutzraum“ aus dem Text entfernt. Dies | |
hatte zur Folge, dass sich ab 2004 niemand mehr für die Instandhaltung der | |
Schutzräume zuständig fühlte, die es ja offiziell nicht mehr gab. Selbst | |
die Hochsicherheits-Atombunker verfielen mit der Zeit, andere Schutzräume | |
wurden zu Diskos, Bars oder Kegelkellern umgebaut. | |
Wąsik ordnete nun eine Inspektion aller verbliebenen Bunker an. Im ganzen | |
Land sollen Feuerwehrleute nicht nur klären, in welchem Zustand die | |
Altbunker sind, sondern auch, ob sich eventuell die Metrostationen in | |
Warschau oder die überall im Lande entstandenen Tiefgaragen und Keller | |
unter den Neubauten als Schutzraum für die Zivilbevölkerung eignen könnten. | |
Obwohl die nationalpopulistische PiS, die von 2005 bis 2007 und erneut ab | |
2015 bis heute die Regierung stellt, immer wieder laut vor den Gefahren der | |
neoimperialistischen Großmacht Russland warnte, tat sie nichts für den | |
Schutz der Zivilbevölkerung. | |
Nur der umstrittene Bildungsminister Przemysław Czarnek, der vor allem für | |
seine nationalklerikalen Ansichten bekannt ist, brachte im März 2022 ein | |
Zivilschutz-Gesetzesprojekt in den Sejm ein. Die zunächst von der liberalen | |
Opposition heftig kritisierte Sicherheitserziehung von Schülern in der | |
achten Grundschulklasse und der ersten Klasse an weiterführenden Schulen | |
wurde inzwischen von allen gut angenommen. | |
## Butangas oder Kohle-Grill? | |
Die 15-Jährigen lernen vor allem Erste-Hilfe-Maßnahmen kennen, wissen, wie | |
ein zweiwöchiger Notfallvorrat für die eigene Familie auszusehen hat, | |
kennen Gefahrensignale wie auch diverse Notrufnummern und können einen | |
Fluchtrucksack für drei Tage packen. Nach Abschluss des auf ein Jahr | |
angelegten Programms sollen sie auch mit einem Kompass und einer schlichten | |
Straßenkarte zurechtkommen – für den Fall, dass das GPS-System oder | |
überhaupt der Mobilfunk ausfallen sollten. | |
Die Kritik entzündete sich vor allem am Schießtraining mit Pistolen und | |
Gewehren. Dass es sich lediglich um einen einzigen Ausflug auf einen | |
Schießstand handelte – mit gerade mal 15 Schuss pro Person –, ging in der | |
Aufregung unter. Wer einen Waffenschein erwerben will, muss die weiteren | |
Schießstunden und insbesondere die Patronen selbst bezahlen. Dafür aber | |
muss man sehr tief in die Tasche greifen und mehrere tausend Złoty auf den | |
Tisch legen, was angesichts der hohen Inflation von fast 20 Prozent nur | |
noch für die sehr gut Verdienenden erschwinglich ist. | |
Doch auch Erwachsene meiden inzwischen die Schießstände. Waren sie kurz | |
nach Beginn des Angriffskrieges Putins auf die Ukraine geradezu überlaufen, | |
herrscht dort inzwischen gähnende Leere. Stattdessen tauschen immer mehr | |
Polen Tipps aus, welche und wie viel Essensvorräte man für einen | |
Katastrophenfall im Haus haben sollte, wie viel Flaschen Mineralwasser und | |
ob es sinnvoller ist, sich einen Kohlegrill für draußen zu kaufen oder doch | |
besser einen Butangas-Campingkocher. Besorgte Bürger können sich seit April | |
auf der Webseite des polnischen Innenministeriums die Broschüre „Sei | |
bereit!“ runterladen und sich auch Videoclips zu verschiedenen | |
Notsituationen ansehen. | |
In der Öffentlichkeit aber herrschte ein anderes Thema vor: Polens massive | |
Aufrüstung und die teuren Waffenkäufe des polnischen Verteidigungsministers | |
Mariusz Blaszczak. Mit dem Gesetz zur „Verteidigung des Vaterlandes“, das | |
der PiS-Parteichef und für einige Monate auch Vizepremier Jarosław | |
Kaczyński vorbereitet hatte, wurde das Rüstungs- und Verteidigungsbudget | |
auf mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben. | |
## 213 Milliarden Euro für Rüstung | |
Die polnische Armee soll von derzeit rund 110.000 auf 250.000 | |
Berufssoldaten anwachsen, und auch die Territorialen Streitkräfte, in der | |
zurzeit 30.000 Freiwillige Dienst tun, sollen auf rund 50.000 Männer und | |
Frauen aufgestockt werden. Noch läuft die Rekrutierung nur schleppend, da | |
das Eintrittsgehalt von umgerechnet rund 855 Euro wenig attraktiv ist. Die | |
sogenannten Militär-Picknicks mit eintägigen „Schnupperkursen“ für | |
Interessierte finden daher auch vor allem entlang der polnischen Ostgrenze | |
statt, wo die Angst vor einem Übergreifen des Krieges am größten ist. | |
Kurz vor den Wahlen im Herbst 2023 soll dann allerdings wieder eine große | |
Militärparade in Warschau stattfinden. Die PiS will dann mit den neuesten | |
Panzern, Flugabwehrraketen und Jagdfliegern zeigen, dass sie die wahre | |
Verteidigerin Polens ist. So hat Blaszczak [4][in Südkorea 1000 Panzer und | |
knapp 700 unbemannte Sprengladungsträger gekauft], dazu noch 48 | |
Schulungs-Jagdflieger. In Südkorea schätzen Medien, dass der polnische | |
Auftrag über 20 Milliarden Dollar wert sein dürfte. | |
Dann wollte Blaszczak bei den US-Amerikanern 500 Raketenwerfer des Typs | |
Himars bestellen. Die freuten sich zwar über den kauffreudigen Kunden, | |
sehen sich aber nicht in der Lage, über mehrere Jahre hinweg nur für Polen | |
zu produzieren. Im April kaufte Blaszczak – ebenfalls in den USA und | |
anscheinend ohne jede Ausschreibung – 250 neue Abrams-Panzer, kurz danach | |
bei den Italienern 32 Hubschrauber des Typs AW149 und schließlich noch bei | |
der polnischen Rüstungsindustrie 600 schultergestützte | |
Boden-Luft-Flugabwehrraketensysteme des Typs Piorun samt Munition. | |
Das linksliberale Nachrichtenmagazin Polityka geht davon aus, dass Polen | |
bis 2035 über 1 Billion Złoty (umgerechnet rund 213 Milliarden Euro) für | |
Rüstung und die Armee ausgeben wird. Kosten für den Zivilschutz sind nicht | |
eingerechnet, da es diesen – zumindest zurzeit – in Polen nicht gibt. | |
24 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dw.com/de/polen-deutsche-eurofighter-und-patriots-sind-willkomm… | |
[2] /Antideutsche-Kampagne-in-Polen/!5448243 | |
[3] https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/293/die-reform-des-verteidig… | |
[4] /-Nachrichten-im-Ukrainekrieg-/!5877335 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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