Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Statistiker zu Corona-Übersterblichkeit: „Die Diskussion ist auf…
> Knapp 20 Prozent mehr Tote als in Vorjahren – Statistiker Göran Kauermann
> beeindruckt die Übersterblichkeit im Oktober nicht. Er verweist auf
> eigene Analysen.
Bild: Zu Beginn der Pandemie: Bestatter mit Sarg im Uniklinikum Aachen im März…
taz: Herr Kauermann, was ist eigentlich Übersterblichkeit?
Göran Kauermann: Die einfachste Variante: Man schaut, ob die Anzahl der
Todesfälle in einem bestimmten Zeitraum im Vergleich zu einem anderen
Zeitraum gestiegen ist. Da fängt das Problem aber schon an.
Schon bei der Definition?
So ist es. Die Sterblichkeit richtet sich auch nach dem Alter der
Bevölkerung. In einer alternden deutschen Bevölkerung steigen die
Sterbezahlen ohne weitere Einflüsse an, aktuell jedes Jahr ungefähr um 2
Prozent. Deswegen muss man die beobachteten mit den erwarteten Sterbezahlen
vergleichen. Erst das ist die eigentliche, die alterskorrigierte
Übersterblichkeit. Das wird oft nicht berücksichtigt.
Es gibt aktuell eine große Aufregung, weil die Übersterblichkeit im Oktober
so hoch war. Stimmt das überhaupt?
Es gibt bei den Über-60-Jährigen und vor allem bei den Über-80-Jährigen
tatsächlich eine leichte Übersterblichkeit.
Knapp 20 Prozent mehr Todesfälle als im Oktober der Vorjahre. Ist das
wirklich eine leichte Übersterblichkeit?
Sie müssen sich die ganze Kurve der letzten Jahre anschauen. Dann sehen
Sie, dass es in den Vergleichszeiträumen zum Teil sogar eine
Untersterblichkeit gab – es waren also weniger Menschen als statistisch
erwartet gestorben. Womöglich weil durch die Infektionsschutzmaßnahmen
[1][eine Grippewelle ausblieb.] Wenn ich dann aber die Todeszahlen von
diesem Oktober damit vergleiche, sehe ich natürlich einen deutlichen
Anstieg.
Ich muss aber eigentlich mit der erwarteten Sterblichkeit vergleichen?
Richtig. Und da sehen wir wirklich große Ausschläge nur in den Coronawellen
Ende 2020 [2][und Ende 2021.] Den größten Peak der letzten Jahre gab es
übrigens – damals kaum beachtet – Anfang 2018. Da hatten wir eine enorme
Grippewelle.
Dann war Corona aus statistischer Sicht doch nicht schwerwiegender als eine
schlimme Grippewelle?
In Deutschland mit all den Maßnahmen: ja. In Italien, Spanien oder in den
USA sieht das ganz anders aus.
Also sehen wir im ersten Herbst fast [3][ohne Masken und
Kontaktbeschränkungen] einfach wieder mehr Grippeopfer?
Das müssen die Experten beim Robert-Koch-Institut auswerten. Ich kann nur
anekdotisch berichten, dass ich genau in dem Zeitraum selber mit einer
Grippe im Bett lag.
Ist die anekdotische Evidenz nicht der Alptraum von Statistiker*innen?
Nicht ganz. Anekdoten sind keine Beweise. Aber sie geben Hinweise darauf,
wo es sich lohnt, genauer hinzuschauen.
Jedenfalls ist der Anstieg der Übersterblichkeit im Oktober aus Ihrer Sicht
kein krasser Anstieg?
Nein. Im Gegenteil. Das war ein Phänomen von drei bis vier Wochen.
Inzwischen [4][gehen die Zahlen wieder deutlich runter.]
Trotzdem wird heftig spekuliert, woran dieser Anstieg der Todeszahlen nun
genau gelegen haben kann. Neben Grippe könne es zum Beispiel auch am
[5][Personalmangel im Gesundheitssystem] oder einer schlechteren Vorsorge
in den Coronajahren liegen.
Beteiligen Sie sich an solchen Mutmaßungen oder halten Sie sich nur an die
Zahlen?
Wir haben uns zu Beginn der Coronapandemie stark an der Auswertung der
Daten beteiligt. Wenn wieder etwas statistisch Nennenswertes passieren
würde, würden wir das sicher erneut tun. Im Moment sehen wir das aber
nicht.
Also ist die ganze aktuelle Diskussion aufgebauscht?
Ich würde das als aufgebauscht bezeichnen, ja.
Ab welcher Übersterblichkeit fangen Sie als Statistiker sich an Sorgen zu
machen?
Für uns geht es eher um bedenkliche Trends. Wir haben zum Beispiel Ende
2020 sehr explizit darauf hingewiesen, dass es ein massives Problem mit der
Übersterblichkeit bei sehr alten Menschen gibt. Die Bewohner von
Pflegeheimen mussten besser geschützt werden. So ergeben sich aus der
Statistik direkte Impulse für politisches Handeln.
Inwiefern sind die Daten zur Übersterblichkeit international vergleichbar?
Es gibt bereits einen Vergleich der WHO, aber der war methodisch absolut
falsch. Wir haben uns klar dagegen positioniert. Da wurde zum Beispiel die
Übersterblichkeit eben nicht alterskorrigiert. Das ist für Länder wie die
USA mit einer idealen Altersverteilung nicht relevant. Aber bei den
europäischen Ländern kommt man so auf ganz andere Ergebnisse und erst die
lassen sich vergleichen. Wir arbeiten selbst gerade an einer
Veröffentlichung, da wird es in drei bis vier Wochen interessante
Erkenntnisse geben.
Manche haben aus den bereits verfügbaren Daten herausgelesen, dass die
Übersterblichkeit mit den Impfquoten zusammenhängen könnte.
Aus dem Thema habe ich mich bewusst herausgehalten. In der Statistik nennen
wir das einen ökologischen Fehlschluss. Nur weil zwei Sachen korrelieren,
heißt das nicht, dass da ein kausaler Zusammenhang besteht. Wenn man das
wirklich analysieren will, braucht man viel genauere Daten, da ist eine
sehr umfangreiche Recherche nötig. Da werden sich die
Public-Health-Experten sicher noch dransetzen.
Warum sind eigentlich bei [6][den Sterblichkeitszahlen] nicht einfach
zusätzliche Daten wie die Todesursache hinterlegt? Dann müsste man gar
nicht weiter spekulieren.
Es gibt tatsächlich auf die Schnelle keine Daten, die sich verknüpfen
lassen. Das ist in anderen Ländern anders. In Skandinavien zum Beispiel
gibt es quasi den gläsernen Bürger, da kriegen Sie solche Daten auf
Knopfdruck. Aber in Deutschland steht der Datenschutz stärker im
Vordergrund. Die Angst, dass Daten irgendwie rückverfolgt werden, ist viel
größer als das Bewusstsein, dass aus Daten relevante Informationen gezogen
werden können, die dem Gemeinwohl dienen.
Sie wünschen sich also auch den gläsernen Bürger?
Das ist in der Breite gar nicht unbedingt notwendig. Wir haben in der
Coronapandemie zum Beispiel in Großbritannien gesehen, wie viele
Informationen man aus Stichproben gewinnen kann. Das haben die Deutschen
kaum realisiert. Da braucht man natürlich auch Bürger, die sagen: Ich mach
da mit. Als Statistiker würde ich mir wünschen, dass es mehr aufgeklärte
Menschen gibt, die sehen, dass Statistik nicht dazu dient, Informationen
über einen Einzelnen zu bekommen, sondern über eine Population.
Und das sehen Sie als Privatmensch auch so?
Als Privatbürger halte ich es tatsächlich auch so, dass ich bei seriösen
Umfragen nicht den Hab-keine-Zeit-Knopf drücke, sondern den Kolleginnen und
Kollegen die benötigten Informationen zur Verfügung stelle.
24 Nov 2022
## LINKS
[1] /Knappe-Impfstoffe-gegen-Grippewelle/!5717323
[2] /Uebersterblichkeit-in-Deutschland/!5817051
[3] /Isolationspflicht-bei-Corona/!5892274
[4] /Coronapandemie-in-Deutschland/!5897794
[5] /Personalmangel-in-Kliniken/!5865787
[6] /Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5853018
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Karl Lauterbach
Pandemie
Übersterblichkeit
Tod
Zukunft
Grippe
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Übersterblichkeit in Deutschland: Extrem hohe Sterbezahl im Dezember
In der Woche vor Weihnachten sind rund 7.000 Menschen mehr als erwartbar
verstorben. Ein Grund könnte die Grippewelle sein.
Übersterblichkeit in der Pandemie: Wie Staaten ihre Coronatoten zählen
Länder berechnen die Zahl ihrer Toten unterschiedlich. Die WHO hat die
Zahlen vergleichbar gemacht. Das zeigt das Ausmaß der Pandemie.
Grippewelle setzt Kleinkindern zu: Richtig rotziges Virus
Eine Grippewelle grassiert, und besonders Kinder erkanken schwer. Bei
Charité und Vivantes sind die Kinderkliniken voll.
Coronapandemie in Deutschland: Lauterbach warnt vor Winterwelle
Die Coronazahlen sinken gerade. Doch der Gesundheitsminister erwartet, dass
sich das bald wieder ändert. Von Lockerungen hält er nichts.
Null-Covid-Politik in China: Der Coronafrust steigt
Auf die steigenden Coronazahlen reagiert der Staat mit bekannten Mitteln:
Lockdowns. Viele verängstigt das – doch manche haben genug davon.
Coronazahlen vom 18.11.2022: Niedrigster Stand seit einem Jahr
Die Zahl der Corona-Infektionen ist so niedrig wie seit November 2021 nicht
mehr. Auch die Patient:innen- und die Totenzahl sinken, aber langsamer.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.