# taz.de -- Nachts in der U-Bahn: Was ist schon ein bisschen Lack? | |
> Die Bedeutung von Oberflächlichem ist nicht zu unterschätzen. Etwa in der | |
> U-Bahn, wo schon etwas Kosmetik für ein Gefühl der Sicherheit sorgen | |
> kann. | |
Bild: Nachts im Nahverkehr fühlen sich 60 Prozent der Männer sicher, bei den … | |
„Darf ich dich kurz ansprechen?“, sagt die Person mir gegenüber in der | |
U-Bahn. Ich schaue von meinem Handy hoch, auf das ich gar nicht so wirklich | |
geguckt habe. Es ist zwei Uhr morgens und ich bin verfeiert auf dem Weg | |
nach Hause, in einem fast leeren Waggon. Meine Mitfahrer*in sitzt mir | |
schon eine Weile gegenüber. Wir haben uns mehrere Male an- und dann schnell | |
wieder weggeguckt. Der Blickaustausch war ein bisschen komisch, deswegen | |
starre ich aufs Handy. Jetzt lüpft sie kurz die FFP2-Maske, das ist ja so | |
etwas wie das neue Hut-Ziehen. | |
„Ich hab gesehen, dass du ein Mann bist“, sagt sie, „also wollte ich mich | |
eigentlich von dir wegsetzen. Aber dann hab ich deine Nägel gesehen, also | |
alles gut.“ Ich habe Nagellack drauf, der ist schon weitgehend abgepittelt. | |
„Wie bitte?“, sage ich. Kein Entrüstet-Wie-bitte, mehr so ein | |
Verpeilt-Wie-bitte. Die Mitfahrer*in lächelt. „Sorry, ich hab Drogen | |
genommen, sonst hätte ich das jetzt wahrscheinlich gar nicht gesagt.“ | |
Oft vergesse ich, dass meine Default-Optik als großer, männlich aussehender | |
Typ für viele Menschen ein Warnsignal ist, vor allem spät am Abend. Schön | |
finde ich das nicht, verstehen kann ich es. Im öffentlichen Nahverkehr bei | |
Nacht fühlen sich 60 Prozent der Männer ohne Begleitung sicher, aber nur | |
etwa jede dritte Frau. Das hat erst vorige Woche [1][eine Umfrage des | |
Bundeskriminalamts ergeben]. Sexistische Übergriffe seitens Fremder und | |
Unbekannter erleben Frauen deutlich häufiger als Männer, sagt eine Studie | |
im Auftrag des Familienministeriums von 2019. Weitere Geschlechter neben | |
Frau und Mann wurden in diesen Studien nicht abgefragt, aber ich bezweifle, | |
dass nonbinäre Menschen zum Entspannen nachts U-Bahn fahren gehen. | |
## Verzicht aufs Schubladisieren kann ein Luxus sein | |
Die taz hatte mal einen [2][Blog mit dem Titel „Heimweg“], auf dem | |
Kolleg*innen und Leser*innen über Belästigung und sexuelle Übergriffe | |
in der Öffentlichkeit berichtet haben. Ein Gruselkabinett. Dass viele auf | |
den optischen Reiz „Mann + leere U-Bahn bei Nacht“ spontan reagieren mit | |
„lieber mal Abstand suchen“, ist also kein Wunder. | |
Was mich hingegen bei der Aussage der Mitfahrer*in wundert, ist, wie | |
wenig offenbar nötig war, um meine optische Bedrohlichkeit abzumildern. Ein | |
bisschen Farbe. Ich fühle mich weißgöttin nicht heldenhaft oder edgy, wenn | |
ich mir die Nägel lackiere. Ich finde es einfach hübsch, dachte aber, dass | |
davon in Berlin nun wirklich niemand groß Notiz nimmt. Nun ja, falsch | |
gedacht. | |
Weil unsere mediale Gesellschaft voll ist von Image und Inszenierung, wird | |
gerne angemahnt, dass man sich doch bitte nicht so sehr mit Äußerlichkeiten | |
aufhalten soll. Was ist schon ein bisschen Lack? Mensch, echte Werte liegen | |
innen! Und gerade aus queerer Perspektive wird das schnelle Schubladisieren | |
von Menschen nach dem ersten Eindruck gerne kritisiert. Finde ich alles | |
richtig. Richtig ist aber auch, dass für manche Menschen zu manchen | |
Tageszeiten der Verzicht aufs Schubladisieren ein Luxus ist, den sie sich | |
nicht leisten können. | |
Da fällt mir ein, dass ich ja auch von mir aus anbieten könnte, mich | |
wegzusetzen. „Nönö“, sagt die Mitfahrer*in. „Ich fühl mich ganz safe | |
jetzt.“ Schön, dass es offensichtlich so einfach sein kann, mit dem | |
bisschen Nagellack. Klar, empfundene relative Sicherheit ist nicht dasselbe | |
wie echte Sicherheit. Aber eine entspanntere Heimfahrt für eine Person mehr | |
im Berliner Untergrund ist ja nun auch nicht nichts. Es lohnt sich – bei | |
aller Suche nach Authentizität – also durchaus, die profunde Bedeutung von | |
Oberflächlichkeiten nicht aus dem Blick zu verlieren. | |
Und während ich das noch so vor mich hindenke, habe ich meine Haltestelle | |
verpasst. | |
17 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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