# taz.de -- Sexuelle Übergriffe: Der Heimweg | |
> Nahezu jede Frau hat sexuelle Übergriffe erlebt. Wir fragten | |
> taz-KollegInnen, wie es sich anfühlt, nachts nach Hause zu gehen. Hier | |
> einige Antworten. | |
Bild: In der U-Bahn, auf der Straße, im Hellen und im Dunkeln: Sexuelle Überg… | |
Sind sexuelle Übergriffe der Normalfall? Wir baten unsere KollegInnen, von | |
ihrem Heimweg zu berichten. Fast alle Berichte erzählen von sexuellen | |
Übergriffen. Keine der Frauen ging zur Polizei. Warum nicht? Weil sexuelle | |
Übergriffe die Betroffene immer als Einzelne treffen. Und Anzeigen, das | |
zeigen die Erfahrungen betroffener Frauen, bringen oft nichts. | |
Wir veröffentlichen hier einige der Antworten und rufen Sie dazu auf, uns | |
Ihre Geschichte zu schicken, falls Sie Ähnliches erlebt haben. Schreiben | |
Sie an: [1][[email protected]]. | |
Die zuständigen Redakteurinnen Waltraud Schwab und Steffi Unsleber | |
behandeln Ihre Mails vertraulich. Auf dem taz-blog [2][Der Heimweg] | |
veröffentlichen wir weitere Berichte von KollegInnen und LeserInnen. | |
Natürlich nur, wenn Sie der Veröffentlichung zustimmen. | |
## Klar hast du Angst | |
Es war einer der ersten warmen Abende, also hatte ich das Fahrrad genommen. | |
Ich kam von einer Party und war auf dem Heimweg, kurz nach Mitternacht. Am | |
Potsdamer Platz, der zu dieser Zeit zwar hell erleuchtet, aber wenig | |
besucht ist, rollte ich an eine Ampel heran. Dort lief ein Mann über die | |
Straße. Als er mich sah, drehte er um und kam auf mich zu. Er stellte sich | |
mir in den Weg, so dass ich abspringen musste, die Fahrradstange zwischen | |
den Beinen. Er trat ganz nah an mich heran, viel zu nah. So, dass ich | |
seinen Atem riechen konnte. Alkohol. Der Mann war so groß wie ich, | |
schmächtig. „Na, hast du jetzt Angst?“, fragte er mich in perfektem | |
Deutsch. „Nein“, sagte ich mit zittriger Stimme und guckte krampfhaft | |
gerade aus. „Klar hast du Angst.“ | |
Ich bin groß, ich habe Kraft, ich kann mich wehren. Eigentlich. Nicht in | |
diesem Moment. Ich war wie erstarrt. Er griff mir zwischen die Beine, schob | |
meinen Rock hoch, hielt mich fest. „So eine Fotze wie deine, die will ich | |
ficken.“ | |
So stand ich ein paar Sekunden. Dann sprang ich auf mein Rad und raste los. | |
Kein Blick auf die Straße, keiner auf die Ampel, einfach geradeaus. Mein | |
Herz schlug schnell, in meinem Kopf hämmerte es, ich brauchte lange, um | |
mich zu beruhigen. | |
Zur Polizei ging ich nicht. Vielleicht, weil ich bei einem ähnlichen | |
Angriff, bei dem mir ein Finger gebrochen wurde, schon einmal kein Erfolg | |
mit einer Anzeige hatte. | |
Außer meinem Freund erzählte ich lange niemandem davon und auch jetzt frage | |
ich mich wieder: Will ich diesen Text unter meinem Namen veröffentlichen? | |
Eigentlich schäme ich mich. Aber wofür eigentlich? | |
Anne Fromm, 29, ist Medienredakteurin der taz | |
## Die Bewegung war rhythmisch | |
Eine Station mit der in der U-Bahn-Linie 7, irgendwann spätabends im | |
Hochsommer, vom Hermannplatz zum Rathaus Neukölln. Angemessen viel nackte | |
Haut, auch Hitze, ermattete Gesichter überall. Ich dachte nichts, als ich | |
an der Tür stehend durch die anderen Fahrgäste hindurch schaute. Ich dachte | |
nichts, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ich dachte | |
nichts, als mein Blick sich wie die Linse einer Kamera auf den Ort scharf | |
stellte, an dem die Bewegung stattfand: die Hosentasche eines älteren | |
Mannes, der ungefähr eine Armlänge von mir entfernt stand. | |
Dann registrierte ich, dass die Bewegung andauerte, dass sie rhythmisch | |
war, und dass sie sich eigentlich auch nicht wirklich in der Hosent asche | |
abspielte, sondern mittiger, Richtung Schritt. Dann dachte ich sehr schnell | |
sehr viel. Zum Beispiel: Der holt sich ernsthaft durch die Hosentasche | |
einen runter! | |
Ich registrierte, dass er mich dabei anschaute und grinste, weil er gesehen | |
hatte, dass ich gesehen hatte, was er da machte, und dachte an damals, als | |
mich einer ungefragt unter der Dusche in der Saunalandschaft umarmte. | |
Entschuldigung, was machen Sie da?, hatte ich gefragt, weil ich tatsächlich | |
nicht wusste, was da gerade passiert war und mir nichts besseres einfiel. | |
Bis meine Beine aufhörten zu zittern und ich den Bademeister informiert | |
hatte, war der Typ über alle Berge. | |
All das dachte ich in der U7. Und sagte nichts. Guckte weg. Stieg aus. Ging | |
etwas schneller durch die Dunkelheit und ließ die heiße Luft tief in meine | |
Lungen, als ich bemerkte, dass er mir nicht folgte. | |
Franziska Seyboldt ist Autorin der taz | |
Es sah komisch aus | |
Es war im Sommer. Ein Tag in den Ferien im italienischen Strandort, in den | |
wir so gut wie immer fuhren. Ich war vielleicht zehn. Ich langweilte mich | |
und lieh ich mir ein Fahrrad, um die Gegend zu erkunden. Laut Umgebungsplan | |
sollte irgendwo das Denkmal des großen italienischen Revolutionärs | |
Ramazzotti stehen. Irgendwo dort im Pinienwald. Falls sich wer wundert: Es | |
waren die frühen achtziger Jahre, es gab noch keine Helikoptereltern. Wir | |
waren jung und frei. An diesem Tag auch etwas einsam. | |
Ich düste mit dem bicicletta in den Pinienwald. Es ging tief hinein. Und | |
noch tiefer. Keine Menschen mehr, nur noch Bäume. Und keine Ahnung, wo das | |
Denkmal ist. | |
Irgendwann sah ich einen erwachsenen Mann, ungefähr im Alter meines Vaters, | |
der mit heruntergelassener Hose am Weg stand und seinen Schwanz | |
bearbeitete. Er sah mich und winkte mich heran. Ich hielt, im vorsichtigen | |
Abstand, vielleicht brauchte er ja Hilfe, dachte ich, denn irgendwie sah | |
das komisch aus. Sein Schwanz war so geschwollen. Dick, rot und | |
geschwollen. | |
Ich war zehn. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn nicht ein Vater mit | |
seiner Tochter auf dem Fahrrad sich in diesem Augenblick genähert hätte. | |
Der Italiener packte sofort seinen Schwanz ein, was mir signalisierte, dass | |
hier irgendwas nicht stimmte. Ich setzte mich rasch aufs Rad und fuhr | |
davon. | |
Ich war wohl etwas verstört, gesprochen habe ich mit niemandem darüber. | |
Erst viel später, als mir meine erste Freundin schilderte, wie sie als Kind | |
aus einem fahrenden Wagen heraus angemacht wurde, auch hier mit männlicher | |
Entblößung, erzählte ich diese Geschichte. | |
René Hamann, 44, ist Autor der taz | |
## Wie ein Hase | |
Ein Juliabend 2003 in Straßburg. Ich jogge in einem stadtnahen Wald. Den | |
angrenzenden Park, in dem andere Läufer und Spaziergänger unterwegs sind, | |
habe ich hinter mir gelassen. Ich fühle mich frei. Plötzlich höre ich das | |
Knirschen von Fahrradreifen. Ein Mann radelt an mir vorbei, schaut mich an. | |
Einen Tick zu lang. Im Weiterfahren dreht er sich nach mir um. Auf einmal | |
ist das Gefühl der Freiheit, der Stärke weg. | |
Mein Bauch funkt Alarm. Ich kehre um, will dorthin zurück, wo Leute sind. | |
Einen halben Kilometer muss ich schaffen. Ich ziehe das Tempo an. Jetzt | |
bloß kein Seitenstechen kriegen. Ich werfe einen Blick über die Schulter. | |
Der Mann wendet in diesem Augenblick und fährt auf mich zu. Er ist nicht | |
sportlich, eher übergewichtig, aber mit dem Rad kann er mich leicht | |
einholen. Ich denke nicht mehr, ich funktioniere. Starte durch. Eine | |
leichte Biegung der sonst schnurgeraden Forststraße bringt mich für einige | |
Sekunden außer Sicht. Meine Beine springen über einen kleinen Graben, | |
tragen mich nach rechts in den Wald hinein. Schnell, schneller, hinein ins | |
Unterholz. Tief, tiefer, da wo es dunkel ist. Junge Fichten bilden einen | |
Sichtschutz, ich kauere hinter ihnen zusammen. O Gott, wie meine | |
türkisfarbene Jacke leuchtet. Ich ziehe sie aus, verstecke sie im Laub. | |
Da taucht schon der Mann auf. Sein Benehmen gibt meinem Bauchgefühl recht. | |
Langsam, suchend, fährt er an den Baumreihen vorbei, starrt links und | |
rechts in den Wald. Einmal steigt er vom Rad, blickt in meine Richtung. | |
Mein Herz hämmert. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Er kehrt um, fährt | |
die Straße erneut ab. Hin und her. Er sucht mich, ich weiß es. Hass steigt | |
in mir auf. Ich hasse ihn, dass ich mich verstecken muss wie ein Hase. | |
Bittere Demütigung steigt in mir auf, spült Erinnerungsfetzen an die | |
Oberfläche: eine Münchner U-Bahn-Station. Ein Mann starrt mich an und macht | |
obszöne Bewegungen mit seiner Zunge. In der Nähe warten zwei, drei weitere | |
Fahrgäste. Ich traue mich zu sagen: „Glotz mich nicht so an!“ Er antwortet | |
mir: „Ich kann dich ficken, wann ich will!“ Die Anwesenden schauen weg. | |
Das Münchner Oktoberfest. Ich schlendere mit einer Freundin zwischen den | |
Fahrgeschäften umher. Auf einmal spüre ich fremde Finger zwischen meinen | |
Beinen. Eine widerliche Kraulbewegung. Ich drehe mich um, sehe hinter mir | |
vier, fünf Männer, die in der Menge verschwinden. Einer von ihnen war es. | |
Wer? „Du Schwein!“, schreie ich wütend hinterher. Ein paar Jahre später, … | |
London: Ich tanze mit einem Mann in einem Club. Mitten auf der Tanzfläche | |
greift er mit beiden Händen meinen Busen. Ich sage, dass ich das nicht mag. | |
Er beschimpft mich: „Deutsche Nazischlampe!“ | |
Und jetzt hocke ich hier in diesem Wald. Allein. Ich weiß nicht, wie lange. | |
Fünf, zehn Minuten? Hinter den schwarzen Gitterstäben der Bäume sehe ich, | |
wie der Mann endlich wegfährt. Ich knülle meine Jacke unters T-Shirt und | |
husche geduckt einige hundert Meter durch den Wald, parallel zur Straße, | |
ehe ich mich auf diese zurückwage. Noch einmal renne ich, wie um mein | |
Leben. Endlich, die ersten Spaziergänger tauchen auf. | |
Da höre ich in meinem Rücken Reifenknirschen und eine Stimme. Jemand sagt: | |
„Guten Abend, die Dame!“, die Worte übertrieben freundlich gesprochen. Es | |
ist der Typ auf dem Fahrrad. Er fährt an mir vorbei und grinst mich ölig | |
an. Er weiß, dass er mir Angst gemacht hat und freut sich. „Drecksau!“, | |
brülle ich. Die Leute drehen sich um. Den Mann festhalten und die Polizei | |
zu rufen, darauf komme ich nicht. Was könnte ich beweisen? | |
Margarete Moulin, 43, ist Bayern-Korrespondentin der taz | |
## Einer dieser Kiezgänger | |
Es muss Ende der neunziger Jahre gewesen sein. Ich war mit einigen Freunden | |
im Hamburger Stadtteil Sankt Pauli unterwegs. Weil sich ein Freund von uns | |
an der Hand verletzt hatte, standen wir direkt vor der Polizeistation | |
Davidwache und warteten. Er wollte sich kurz ein Pflaster holen. | |
Wir unterhielten uns, als mir jemand seine Hand von hinten in den Schritt | |
schob. Als ich mich umdrehte und vielleicht gerade noch einen empörten Laut | |
rausbrachte, sah ich einen Typ im Vorbeigehen. Er war recht jung, | |
alkoholisiert, hatte blonde Haare. Einer dieser Kiezgängertypen, die Frauen | |
wie Ware behandeln. Einer meiner Freunde reagierte schnell und ging hinter | |
ihm her – das habe ich ihm hoch angerechnet. | |
Lena Kaiser, 33, ist Redakteurin und Chefin von Dienst bei der taz Nord in | |
Hamburg | |
## Wir haben dich gesehen | |
Es ist nicht spät, aber dunkel. Jeden Abend antizipiere ich die beiden | |
Möglichkeiten, die ich habe: Gehe ich den Weg vorbei am Bauschutt, im | |
gelben Licht der Straßenlaternen, schlängele mich um die tiefen Pfützen | |
herum, lasse Autos an mir vorbeibrausen? Oder nehme ich den Weg entlang am | |
Spreeufer: Ich kann das Wasser riechen, die Wellen ans Ufer plätschern | |
hören. Klar: Wasser riechen, Wellen lauschen! | |
Es gibt kein Licht, man kann die Bäume erahnen, und oft sitzen da Männer, | |
die die Angeln bewachen, die sie ins Wasser halten. Man bemerkt sie erst | |
beim Vorbeigehen, so finster ist es. Tagsüber grüßt hier niemand. Aber die | |
Angler im Dunkeln schaufen den Rauch ihrer Zigarette aus. Sagen „Hallo“. | |
Hallo, wir haben dich gesehen. Hallo, hier sind wir. Klingt das wie eine | |
Warnung? | |
Am nächsten Abend stehe ich wieder an der Treppe. Geradeaus zur Spree, | |
links zum Bauschutt. Mein Kopf diktiert die Frage: In welchem Jahrhundert, | |
in welchem Land leben wir? Also gehe ich geradeaus, entlang der Spree. Ich | |
gehe schnell. Ich höre die Wellen nicht, sondern nur mein Blut im Ohr | |
rauschen. | |
Carolin Pirich ist Autorin der taz | |
## Immer gute Manieren | |
In Erlangen konnte ich mir kein Zimmer leisten, also fuhr ich jeden Abend | |
nach der Uni mit der Regionalbahn ins billigere Nürnberg, Aussteigen, nach | |
Hause laufen, das dauerte zwei Zigarettenlängen. Als die Kälte einmal nicht | |
auszuhalten war, nahm ich die U-Bahn. Außer mir warteten nur zwei junge | |
Typen, dann kam ein älterer Herr angetippelt, er trug eine feine Anzughose | |
und ging am Stock. Er setze sich zu mir und wir redeten über das Wetter. Er | |
schlug mir vor, noch einen Kaffee zu trinken. Es war schon nach 22 Uhr. Als | |
ich absagte, wirkte er pikiert. | |
Dann streckte er sich plötzlich nach mir und umgriff mich, ich sah einen | |
glänzenden Tropfen Rotz in seinen Nasenhaaren. Wie windet man sich aus | |
einer Umklammerung? Dass so ein kleiner alter Mann viel stärker ist als | |
ich, wusste ich nicht. Soll ich um Hilfe rufen? Ist das nicht hysterisch? | |
Und was, wenn die beiden jungen Typen dann mitmachen? | |
„Täter nicht duzen“, fiel mir ein, also sagte ich: „Lassen Sie mich los!… | |
Er richtete sich wieder auf. Ich versuchte, zu erklären: „Das können Sie | |
doch nicht machen, damit erschrecken Sie doch die anderen.“ Ich wusste | |
nicht, wie ich die Situation zu einem angenehmen Ende bringen konnte, | |
nachdem ich laut geworden war. | |
Dann fuhr die U-Bahn ein, er blieb sitzen. „Ich muss jetzt los“, sagte ich. | |
Dann gab ich ihm die Hand. „Einen schönen Abend noch“, wünschte ich ihm. … | |
lächelte. Manieren. Immer gut benehmen. | |
Ich hätte ihn beschimpfen sollen, anbrüllen, mich wehren. An dem Abend rief | |
ich erst die Polizei und dann meine Mutter an. Ich habe jüngere | |
Geschwister, die genau so erzogen wurden wie ich. Wir werden lernen müssen, | |
„Fuck off!“ zu brüllen. | |
Donata Kindesperk, 31, arbeitet als Illustratorin und betreut | |
bewegung.taz.de | |
Wie ferngesteuert | |
Es war nicht einmal der Heimweg. Es war nicht dunkel, nicht Nacht, sondern | |
morgens, Berufsverkehrszeit, auf dem Weg zu einem Arzttermin. Ich laufe zur | |
Bushaltestelle, eine Linie, die ich sonst nie nehme, will auf den Fahrplan | |
schauen. Der Typ, der schon an der Haltestelle steht, kommt mir entgegen, | |
bleibt neben mir stehen. Hält meinen freien Arm fest, fasst mir an die | |
Brust, versucht, sich an mich zu drücken, sagt: „I want to fuck you.“ | |
Ich stoße ihn weg, wobei ich gar nicht weiß, ob ich das tatsächlich tue | |
oder ob er sowieso schon von mir abgelassen hat, denn das alles kann nur | |
wenige Sekunden gedauert haben. Dann ist er weg und ich stehe da, | |
paralysiert. Schaue mich um. Hier ist wirklich kein Mensch, niemand, der | |
etwas gesehen hat oder ihn gesehen hat, oder – ich weiß nicht, was sollte | |
das überhaupt bringen? Der Bus kommt. Ich steige nicht ein, brauche Luft. | |
Laufe. Gehe wie ferngesteuert zu dem Termin. Frage mich, warum ich es nicht | |
geschafft habe, ihm eine runterzuhauen, mich zu wehren. Und habe zum ersten | |
Mal eine Ahnung davon, warum Frauen nach Übergriffen nicht zur Polizei | |
gehen. | |
Die Autorin ist Redakteurin der taz | |
Ist der nicht süß? | |
Ich bin 1968 geboren. In den siebziger und achtziger Jahren gab es viele | |
Verhaltensregeln für Frauen: nicht trampen, keine kurzen Röcke anziehen, | |
nachts nicht alleine herumlaufen, der ganze Scheiß. Als ich 15 war, bin ich | |
auf eine Jugendfreizeit gefahren. Wir waren gerade auf dem Weg zurück zum | |
Campingplatz, ich und eine Freundin. Es war Sommer: supergeiles Wetter, | |
blauer Himmel und Sonnenschein. Ich hatte ein rosa Frottee-Minikleid an. | |
Wir sind an einem Spielplatz vorbeigekommen. Drei Typen liefen uns | |
entgegen, einen davon fand ich gut. Ich sagte noch zu meiner Freundin: | |
Schau mal, sieht der nicht süß aus? | |
Sie kamen näher und dann ist passiert, was nicht passieren kann. Wofür es | |
keine Worte gibt. Alle drei haben mich vergewaltigt. Meine Freundin haben | |
sie währenddessen festgehalten. In welchem Zustand ich danach war, weiß ich | |
nicht mehr. Wir haben eine Abkürzung genommen, um schneller zum | |
Campingplatz zu kommen. Und plötzlich kamen uns die Typen wieder entgegen. | |
Diesmal bin ich ausgeflippt, habe geschrien und bin zu einem älteren | |
Ehepaar geflüchtet. Es war der letzte Tag auf der Ferienfreizeit. Als ich | |
wieder zu Hause war und mich meine Mutter und meine Oma fragten, wie es | |
war, ist alles aus mir herausgesprudelt. Als ich fertig war, haben sie | |
danach weiter über ihr voriges Thema gesprochen, als wäre nichts passiert. | |
Erst Jahre später wurde mir klar, dass die Situation sie überfordert hat | |
und sie mein Erlebnis verdrängt haben – wie ich, um weiterleben zu können. | |
Unterstützung hatte ich keine. | |
Ich habe die Täter nicht angezeigt. Ich habe mich immer gefragt: Wenn ich | |
der Polizei die Wahrheit erzähle, was soll ich denn dann sagen? | |
Mit 40 habe ich eine Therapie gemacht und viel verstanden: Warum keine | |
Beziehung halten konnte, zum Beispiel. Wenn mich danach ein fremder Typ | |
angefasst hat, habe ich mich immer gewehrt. Ich glaube, einem habe ich den | |
Arm gebrochen, es klang zumindest so. Das war mir scheißegal. Seit das | |
passiert ist, habe ich auch keine Angst mehr: Weil es keinen wirklichen | |
Schutz gibt. Wenn es nachmittags um halb fünf neben einem Spielplatz | |
passieren kann. Die einzige Chance ist, Frauen stark zu machen. Körperlich | |
und psychisch, damit sie sich wehren können. | |
Die Autorin, 47, arbeitet im taz-Verlag | |
Möglichst unauffällig | |
Wenn ich nachts mit der U-Bahn nach Hause fahre, ziehe ich mir die Kapuze | |
über den Kopf, bevor ich den Waggon verlasse. Im Sommer binde ich meine | |
Haare zusammen und stecke sie in den Kragen. Ich versuche, so unauffällig | |
wie möglich zu sein. Ist es sehr spät, rufe ich manchmal Freunde an und | |
bitte sie, am Apparat zu bleiben, bis ich in meiner Wohnung bin. Es läuft | |
sich dann ruhiger durch die dunklen Straßen am Rande des Industriegebiets | |
in Berlin-Neukölln. | |
Ich bin blond, meine Haare sind lang. Als ich neu in Berlin war, habe ich | |
sie auch auf dem Nachhauseweg offen getragen. Und bin stehen geblieben, | |
wenn mich jemand angesprochen hat. Heute mache ich das nicht mehr. Ich gehe | |
schnell, ignoriere alle Männer und schaue ihnen nicht in die Augen. Selbst | |
wenn ich mir etwas in einem Imbiss kaufe, lächle ich nie, bin knapp und | |
sachlich. | |
Als ich das noch nicht getan habe, sind mir oft Männer gefolgt. Sie | |
starren. Lehnen sich an mich. Rufen: „Hey Süße!“ Sie pfeifen hinter mir | |
her, zischen: „ssss“. Einmal versperrte mir einer den Weg, fragte: „Wollen | |
wir ficken?“ Ich schob ihn weg, ging weiter, immer die Spät-Shops und | |
Kneipen im Blick, in denen ich notfalls verschwinden könnte. | |
Meist sind es arabisch oder türkisch aussehende Männer, deren Blicke an mir | |
kleben. Ich bin durch viele arabische Länder gereist, durch Marokko, | |
Ägypten, Syrien, Jordanien, Palästina, und oft war ich alleine. Unter den | |
reisenden Frauen war die Belästigung durch Männer oft ein Thema. Ich kenne | |
keine Frau, die dort war, und das nicht erlebt hat. | |
Als ich in Fès, in Marokko, eine Marktstraße entlangging, griff eine Hand | |
in meinem Po, brutal, drängend. Es tat weh. Als ich mich umdrehte, sah ich | |
das Gesicht des Mannes. Seine Augen waren hart, seine Miene starr. | |
Oft, wenn mich die Blicke der Männer in Neukölln verfolgen, erinnere ich | |
mich daran. | |
Klar ist: Es gibt sexuelle Gewalt in allen Ländern dieser Welt. Wie oft | |
wurde ich schon von Deutschen belästigt, selbst als Journalistin. Oft ist | |
das auf Dörfern in Süddeutschland passiert. Da waren Männer, die ihre | |
Körper an mich pressten. Männer, die mich baten, bei ihnen zu übernachten. | |
Männer, die mir nach einem Interview ihre Liebe gestanden. Es macht mich | |
wütend, wenn gesagt wird, dass Herkunft bei den Männern, die sexualisierte | |
Gewalt anwenden, keine Rolle spielt. Marokko oder die bayerische Provinz – | |
es sind Männer aus Milieus, in denen Frauen weniger zählen. | |
Wie ich auch weniger zähle, wenn ich nachts durch Neuköllner Straßen gehe, | |
das Handy in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand. Es geht um | |
Macht, wenn ich in diesen Straßen meine Haare verstecken muss. Auf ihren | |
Heimwegen haben Frauen oft keine. | |
Steffi Unsleber, 28, ist Redakteurin der taz.am wochenende | |
Nimm bitte ein Taxi | |
Ich lebe seit elf Jahren in Köln und habe mich zu keinem Zeitpunkt unsicher | |
gefühlt. Nicht in den Industriebrachen der Stadt, nicht unter schlecht | |
beleuchteten S-Bahn-Bögen, nicht auf dem Fahrrad nachts um zwei. Ich habe | |
lange in Berlin gelebt, eine Weile in Istanbul und Paris, und ich kenne die | |
Situationen, in denen es unangenehm ist, als Frau in der Öffentlichkeit | |
unterwegs zu sein. | |
In Köln dagegen habe ich mich immer sicher gefühlt. Seit Silvester ist das | |
anders. Wenn ich jetzt abends weggehe, sagt mein Mann: Nimm bitte ein Taxi. | |
Im Bekanntenkreis ist es genauso. Ich kann mir das leisten. Andere nicht. | |
In Köln werden Zugezogene wie ich liebevoll „Immis“ genannt. Das erzählt | |
viel. Köln, das war für mich immer eine Stadt der Weltoffenheit und | |
Toleranz. Dass dieses Bild beschädigt wurde, tut mir weh. Und dass mir | |
meine Unbeschwertheit geraubt wurde, macht mich wütend. | |
Claudia Hennen, 40, ist taz-Korrespondentin für Nordrhein- Westfalen | |
Wasch dich mal | |
„Lonsdale“ steht auf seiner schwarzen Jacke. Sein aschbraunes Haar hängt in | |
Strähnen bis zum Kinn. Schwarze Schuhe. Weiße Schuhbänder. Ein Donnerstag, | |
kurz vor Mitternacht, in Berlin. Ich stehe in der U6 Richtung | |
Alt-Mariendorf und halte den Atem an. Er steht zwei Meter von mir entfernt, | |
ist größer, breiter als ich und mit seinem Handy beschäftigt. Ich ziehe den | |
Schal hoch, bis er meine Nase verdeckt. Ich drehe mich weg. Den weißen | |
Schriftzug seiner Jacke sehe ich trotzdem, er spiegelt sich in der | |
U-Bahn-Tür. Außer uns sind nur zwei Teenager und eine alte Frau im Waggon. | |
Ich sollte aussteigen, denke ich. Dann, als die U-Bahn hält, steigt er aus. | |
Ich atme auf. Es dauert noch zwei Stationen, bis sich meine Anspannung | |
löst. | |
Ich weiß ja, dass sich von Klamotten nicht zuverlässig auf Gesinnung | |
schließen lässt. Aber für mich sind es kleine Hinweise, die mich achtsam | |
sein lassen, weil sie schon oft zutrafen. Meistens gibt es jedoch gar keine | |
Hinweise und ich stolpere unvorbereitet in diese Situationen. | |
Ich war 12, als mich ein weißer Mann um die vierzig, ein Anzugträger mit | |
Aktentasche, auf der Straße auf meine „Mandelaugen“ ansprach und sagte, er | |
wolle Sex mit mir. Ich war 15, als mich vier Neonazis eines Nachmittags auf | |
der Straße einkreisten, mich „Negerschlampe“ nannten und mich zwischen sich | |
hin und her schubsten. Ich war 17, als mich der rothaarige muskelbepackte | |
Typ aus der Nachbarschaft nachts bis vor die Haustür verfolgte und | |
versuchte, mich mit seinen „Du willst es doch auch“-Sprüchen und seinem | |
riesigen Körper einzuschüchtern. Und ich war 25, als mir in einer Bar ein | |
gut gekleideter, blonder junger Mann, nachdem ich seine Avancen abgelehnt | |
hatte, sagte, ich solle mich „mal mit Seife waschen, dann geht der | |
restliche Dreck auch noch weg“. | |
Man nennt es Intersektionalität, wenn in einer Situation der | |
Diskriminierung etwa Sexismus und Rassismus gleichzeitig auftreten. | |
Intersektionelle Diskriminierung liegt etwa vor, wenn Männer ein | |
animalisches, hypersexuelles Bild von Women of Color haben. Oder bei | |
Männern, die denken, eine Schwarze Frau müsse dankbar sein, dass sich ein | |
Weißer überhaupt mit ihr abgibt. Und auch bei Rechten ist Sexismus im | |
Spiel, wenn sie eine Frau als vermeintlich wehrloses Opfer aussuchen. | |
Als ich in Tempelhof aus der U-Bahn steige, fühle ich mich etwas besser. In | |
Berlin scheint dieser Bezirk das geringere Übel zu sein. Denn während | |
Frauen zwar auch hier wie selbstverständlich nach Einbruch der Dämmerung | |
nicht durch Parks gehen, dunkle Ecken meiden und Gruppen von Männern oder | |
Jugendlichen schon mal als Veranlassung sehen, die Straßenseite zu | |
wechseln, scheint es abgesehen davon für Women of Color einigermaßen sicher | |
zu sein. Vor meinem Umzug habe ich bei jeder Wohnung, die mir gefiel, nach | |
rassistischen Übergriffen in der Umgebung gegoogelt. | |
In östliche Stadtteile wie Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf oder | |
Treptow-Köpenick fahre ich nicht. | |
Saskia Hödl, 30, ist Redakteurin der taz | |
Ein weißer Zorn | |
Es ist fast 40 Jahre her, dass ich mit einer Freundin in der Münchner | |
Innenstadt auf dem Weg ins Kino war, Sonntagnachmittag gegen 16 Uhr. Ein | |
angetrunkener Mann packte meine Freundin plötzlich am Arm und machte | |
anzügliche Bemerkungen, an die ich mich im Detail nicht mehr erinnern kann. | |
Meine Freundin war völlig verwirrt und verblüfft und hat nicht reagiert. In | |
mir schoss plötzlich ein weißer Zorn hoch, den ich extrem selten empfinde. | |
Und der bedeutete: Es kann nicht wahr sein, dass zwei zwanzigjährige Frauen | |
sich am Sonntagnachmittag um 16 Uhr im öffentlichen Raum nicht sicher | |
fühlen können. Ich neige überhaupt nicht zur Gewalttätigkeit, auch weil ich | |
weiß, dass ich in 99,9 Prozent der Fälle verlieren würde. Aber ich habe mir | |
gar keinen Kopf mehr darüber gemacht. Ich bin auf diesen Mann zugegangen, | |
jenseits der Komfortzone, war fünf Zentimeter vor seinem Gesicht und habe | |
gesagt: Sie lassen sie jetzt los, sonst wird es ganz, ganz schwierig. | |
Er war völlig verdattert, stolperte zurück, murmelte etwas, drehte sich um | |
und ging weg. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben sehr viel häufiger | |
ein solches Gefühl der Befriedigung und des Triumphs empfunden habe wie | |
damals. Weil ich das Gefühl hatte, dass ich unseren Raum verteidigt habe. | |
Mir ist klar, dass das nicht in jeder Situation funktioniert. Meine Moral | |
aus der Geschichte ist nicht: Wehrt euch halt, dann passiert euch nichts. | |
Ich weiß, dass ich Glück hatte. Ich wollte diese Geschichte aus einem | |
anderen Grund erzählen: Für mich war es ein prägendes Erlebnis. Man nimmt | |
das immer so hin: Du wirst mit 17 in der Disco angemacht, du wirst mit 18 | |
auf dem Bahnhof angemacht, du wirst immer angemacht und niemand nimmt es | |
zur Kenntnis. Und das ist das erste Mal, dass ich mich erinnern kann, als | |
sehr junge Frau einfach Stopp gesagt zu haben. | |
Sexuelle Übergriffe gibt es seit Jahrzehnten. Niemand hat es wirklich | |
interessiert, jenseits von Augenzwinkern und Altherrenwitzen. Und das | |
Bedürfnis, den öffentlichen Raum zu verteidigen, das gibt es auch schon | |
länger als die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht. | |
Bettina Gaus ist politische Korrespondentin der taz | |
18 Jan 2016 | |
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