# taz.de -- Theaterstück in Göttingen: So viel Spaß macht Integrieren | |
> Abdul Abassi hat mit Komödienautor Philipp Löhle seine eigene Flucht- und | |
> Migrationsgeschichte dramatisiert. Die „Bombe“ zündet, aber | |
> zeitverzögert. | |
Göttingen liebt seinen Vorzeige-Migranten, findet ihn echt „Bombe!“ und | |
holt unter dieser Überschrift seine Biografie [1][auf die Bühne des | |
Deutschen Theaters]. Abdul Abbasi, Jahrgang 1994, hat aber auch fast immer | |
alles freundlich richtig gemacht von der Ankunft bis zur Einbürgerung in | |
Deutschland – und sich doch sein Schalk-Naturell nicht verbiegen lassen. Im | |
nordsyrischen Aleppo aufgewachsen, wo seit 2011 Krieg herrscht, war er mit | |
seiner Familie über Ägypten und Libyen in die Türkei geflüchtet. | |
Mit einem Studentenvisum kam er nach Deutschland, lernte die Sprache und | |
studierte Zahnmedizin an der Uni Göttingen. Öffentlichkeitswirksam | |
[2][begleitete er als Comedian seine Assimilation] und karikierte mit | |
Freund Allaa Faham auf einem Youtube-Kanal das gegenseitige Missverstehen, | |
also die Vorurteile und Zuschreibungen, die Deutsche und Syrer voneinander | |
haben: Hier leben mittlerweile annähernd 900.000 Syrer:innen, die nach | |
Türk:innen die größte Zuwanderergruppe aus Nicht-EU-Ländern bilden. | |
Abassi und Faham fassten ihre Erfahrungen in dem Buch „Eingedeutscht“ | |
zusammen. Bald wurde Abbasi für Talk-Shows und die Sendung „extra 3“ | |
gebucht und mit Integrationspreisen geschmückt. Heute ist er | |
praktizierender Zahnarzt in Göttingen. Nachvollziehbar also der Wunsch, | |
diese als authentische Migrationsgeschichte mit Lokalkolorit vertheatern zu | |
wollen. | |
[3][Komödienautor und Regisseur Philipp Löhle] wurde dem multitalentierten | |
Abbasi an die Seite gestellt, so dass definitiv kein Uraufführungsgebäck | |
mit Betroffenheitszuckerguss oder Mitleidssahnefüllung zu erwarten war, | |
sondern ein herzlich lustiger Satire-Abend, der als Anspielung aufs | |
explosive Verhältnis von Neu- und Altbürgern eben „Bombe!“ betitelt wurde. | |
Aber nicht richtig einschlagen konnte: Premiere hatte das Stück am 13. März | |
2020, dem letzten Abend vor dem Lockdown. Eine zweite Aufführung gab es | |
nicht. Erst jetzt, zweieinhalb Jahre später, kommt das Stück endlich im | |
großen Haus heraus – fluktuationsbedingt komplett neu besetzt. Florian | |
Donath, Roman Majewski, Gaia Vogel und Jenny Weichert durften zwei Wochen | |
lang an dem Text arbeiten. | |
An dem wirkt einiges inzwischen etwas historisch – etwa die chronische | |
Terrorangst und die betüdelnden Wir-schaffen-das-Deutschen, die | |
„Willkommen!“-Girlanden aufhängen und Geflüchtete mit Kuscheltier-Präsen… | |
fast ersticken. Zum gegenseitigen Wohlfühlen üben die | |
Schauspieler:innen mit dem Publikum ein paar Brocken Arabisch ein: | |
„Yalla Yalla!! Salamaleikum! Allhamdulillaah!!!! Es lebe Syrien! Nieder mit | |
Assad!“ | |
Geschickt wechselt Löhle zwischen Comedy-Sketchen, ulkig servierten | |
Infoblöcken – etwa zur Unterscheidung von Sunniten und Schiiten – und | |
reflexiver Einkehr, lässt also immer wieder auch nachdenklichere Töne zu: | |
Abbasis Wiedergänger im Stück heißt Nasim, und dessen Erstbegegnung mit dem | |
BAMF kommt als grelle Bürokratie-Groteske daher. Dann aber streitet er mit | |
einem Freund über die ernste Frage, ob man bis zu Assads Sturz das Land | |
verlassen oder märtyrerhaft gegen die Schergen der Diktatur kämpfen sollte. | |
Erfrischend derb gerät das Spiel mit Erwartungshaltungen. | |
Gerade befürchtet das Publikum, die Aufführung würde versuchen, brutalen | |
Kriegsalltag auf der Bühne nachzustellen. Da wird klar, dass Nasim nur beim | |
Spielen von „Counterstrike“ zu erleben ist. Das Publikum zuckt auch | |
zusammen, als davon gesprochen wird, die Deutschen hätten „das größte | |
Verbrechen, das es jemals gab“ zu verantworten, aber es statt um den | |
Holocaust um Spezi geht, also den Mix aus Cola und Fanta. Es ist dieser | |
Spaßfuror, mit dem Löhle/Abbasi sich auch über Islam predigende „religiöse | |
Fuzzis“ arabischen Antisemitismus und Homophobie lustig machen, ebenso aber | |
über positiven Rassismus im öffentlich-rechtlichen TV und die Pöbelei | |
rechter Dumpfbacken. Provoziert wird zudem die Arroganz der Göttinger. | |
Jedenfalls lachen die Bürger der Universitäts-Stadt lauthals beim Bashing | |
der kleinen TU Clausthal-Zellerfeld. Zwischendrin explodiert Nasims Hass | |
auf „Kartoffeldeutsche“, weil er so aussichtslos lange auf sein Visum | |
warten muss. Dann aber glücksstrahlend in Berlin landet und sagt: „Das ist | |
also Freiheit, Farid. Schau. So fühlt sich das an.“ Farid: „Bist du am | |
Wichsen, oder was?“ Bei seiner ersten Silvester-Feier verzweifelt Nasim, | |
traumatisiert von Kriegslärm sinkt er beim Mitternachtsgeböller in sich | |
zusammen. | |
Dieses Hin und Her im offensiven Spiel mit Klischees zeichnet den Abend | |
genauso aus wie der fröhlich-ironische Löhle-Ton, den das Ensemble sehr gut | |
beherrscht. Die Inszenierung überschreitet allerdings nie die Schwelle zu | |
einer tiefer gehenden Auseinandersetzung mit den angerissenen Themen. | |
Die locker chronologisch an den Lebensstationen Abbasis aufgereihte | |
Szenen-Revue führt hingegen Wokeness-befreit in unbehauene Humorzonen, in | |
denen zugespitzte Widersprüche, kulturelle Unterschiede, unangenehme | |
Wahrheiten und Absurditäten des Geflüchteten-Alltags nicht Angst oder | |
wütend, sondern Spaß machen und so wohl auf viel offenere Publikumsohren | |
treffen als das mit einem griesgrämigen Anklagewerk deutscher | |
Migrationspolitik möglich wäre. | |
20 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dt-goettingen.de/stueck/bombe | |
[2] https://www.spiegel.de/panorama/abdul-abbasi-warum-er-keine-lust-mehr-auf-i… | |
[3] https://www.dt-goettingen.de/menschen/philipp-loehle | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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