# taz.de -- Koloniale Verbrechen und Tourismus: Traum und Albtraum | |
> Hollywoodstars waren da, die Obamas auch. Die Erinnerung an die Zeit des | |
> Sklavenhandels lockt mehr Afroamerikaner:innen denn je nach Ghana. | |
Bild: Dokument der Gewalt: Eine Geheimtür führt in eine Wohnung, in der Fraue… | |
CAPE COAST taz | Mildred aus New Jersey hat gut eingekauft bei Cedi Beads. | |
Die Halsketten, Haarperlen, Fuß- und Armreifen aus Ghanas bekanntester | |
Glasperlenmanufaktur sind ein unwiderstehliches Souvenir, wenn es darum | |
geht, die Afrika-Fantasien der Daheimgebliebenen zu bedienen. „Für unsere | |
Männer. Die haben wir vorsichtshalber gar nicht erst mitgenommen“, lacht | |
Mildred. Ihre Freundinnen grinsen zustimmend. | |
Die vier Afroamerikanerinnen, Freundinnen aus Collegezeiten, leben an | |
Amerikas Ostküste in verschiedenen Städten, haben sich aber nie aus den | |
Augen verloren. „In das Land unserer Vorfahren zu reisen, war schon immer | |
ein Traum von uns. Jetzt, wo die Kinder groß sind, war endlich Zeit dazu“, | |
sagt Mildred, während der Reisebus mit laufenden Motor auf die Gruppe | |
wartet. | |
Wer auf den Spuren seiner Ahnen unterwegs sein will, hat viel zu tun in | |
[1][Ghana]: Exkursionen zu den Schauplätzen von Sklavenhandel und | |
Verschiffung, religiöse Zeremonien und Festivals für | |
Heimkehr-Interessierte, Touren durch Accras altes Kolonialviertel, | |
Shopping-Erlebnisse für den authentischen Ethno-Einkauf. Die Ergebnisse der | |
Marketingoffensive können sich sehen lassen. Nachdem die Regierung 2019 zum | |
„Jahr der Rückkehr“ deklarierte – 400 Jahre nach Ankunft der ersten | |
afrikanischen Sklavinnen in Amerika –, kamen allein aus den USA über | |
118.000 Besucherinnen – ein Rekord, den das Land noch übertreffen will. | |
Für viele afroamerikanische Gäste wird der Aufenthalt zu einer Erfahrung, | |
die an emotionale Grenzen führt. Kurz nachdem die Besuchergruppe das | |
Verlies der Festung von Cape Coast betreten hat, fließen die ersten Tränen. | |
„Die Sklaven vegetierten hier zu Hunderten auf engstem Raum und in | |
weitgehender Dunkelheit. Bevor die Verschiffung nach Amerika begann, | |
vergingen oft Monate. Das Essen wurde von oben herabgeworfen. Die Menschen | |
mussten es inmitten ihrer Exkremente zu sich nehmen“, berichtet | |
Fremdenführer Felix Nguah. | |
## Erinnerungsarbeit der Nachgeborenen | |
Cape Coast Castle zählt zum Pflichtprogramm jeder Ghana-Reise, nicht nur | |
für Afroamerikaner. Hollywood-Größen wie Samuel Jackson waren hier, Nancy | |
Pelosi hat vorbeigeschaut, an den Besuch der Obama-Familie erinnert eine | |
Gedenktafel. Die Festung diente wechselnden europäischen Mächten als | |
Umschlagplatz ihrer Gefangenen; ein massives, schmutzig-weißes Monument | |
menschlicher Enthemmung und Grausamkeit. Viele der Eingekerkerten starben, | |
bevor sie auf die Schiffe gelangten. „Alle möglichen Europäer waren hier | |
und haben sich bekämpft, alle wollten am Sklavenhandel mitverdienen. Die | |
Dänen, die Schweden, die Holländer, die Briten …“, erklärt Nguah und bli… | |
in die Runde, in der auch einige Weiße stehen. „Heute sind sie ja alle gut | |
untereinander befreundet, heute ist ja alles anders …“, fügt er süffisant | |
hinzu. Der Subtext ist unüberhörbar. Offenbar traut man solchen | |
Freundschaftsbündnissen aus afrikanischer Perspektive noch heute kaum. | |
Schmerz und Tränen für die einen, Scham und Verlegenheit für die anderen, | |
sortiert nach Herkunft und Hautfarbe. Die Erinnerungsarbeit der | |
Nachgeborenen bedarf robuster Kondition. Entlang Ghanas Goldküste finden | |
sich dutzende Kolonialbauten, die einst dem Sklavenhandel dienten und heute | |
als Unesco-Weltkulturerbe wirken. Neben Cape Coast gehört dazu die einst | |
von niederländischen Besatzern betriebene Festung in Elmina 20 Kilometer | |
weiter westlich. Beim Eintritt in das labyrinthische Gemäuer geht die | |
Höllenfahrt durch die Vergangenheit in die nächste Runde. | |
Weil nicht viele Bilddokumente und Zeitzeugenberichte existieren, bleibt es | |
dem Talent der Guides überlassen, die Epoche zu veranschaulichen. | |
Fremdenführerin Freda Agyei-Obessey berichtet von den Frauen, die im | |
Innenhof Aufstellung nehmen mussten, um vom Balkon des Gouverneurs zum | |
Zweck der Vergewaltigung begutachtet zu werden. Der Weg führt über eigens | |
für die Unglücklichen errichtete Geheimstiege in eine Wohnung, deren | |
Panoramablick von den Privilegien der Herrschenden kündet. Der Rest des | |
Bauwerks erzählt von Unterwerfung und Kontrolle: ein Totenkopf über einer | |
Zelle für den Hungertod, eine Kanonenkugel als Strafgepäck für ungehorsame | |
Frauen, schließlich das berüchtigte „Tor ohne Wiederkehr“ – ein schmaler | |
Durchbruch, durch den die Angeketteten den Schiffen entgegenstolperten. Die | |
Requisiten des christlichen Abendlandes fügen sich ein. An der Wand der | |
Sklavenauktionshalle ein holländischer Psalm, auf dem Hauptplatz ein | |
Gebetshaus für die Protestanten. | |
## Investitionen in ghanaische Wirtschaft | |
Ob denn, nachdem die Obamas in Ghana waren, vielleicht auch das | |
niederländische Königspaar der Anlage schon einen Besuch abgestattet hätte, | |
möchte ein Besucher wissen. Frau Agyei-Obessey wird schmallippig: | |
„Zumindest in unseren Unterlagen ist darüber nichts zu finden.“ | |
Die Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel – eine Epoche, die im | |
Westen gern als „dunkel“ bezeichnet wird – ist immer noch etwas, das | |
weitgehend den Schwarzen überlassen bleibt. In den Metropolen der weißen | |
Profiteure, in Amsterdam, London, Bristol oder Hamburg, finden sich | |
allenfalls Fußnoten. Im Gegensatz dazu hat Ghana viel unternommen, das Erbe | |
der Epoche im Dialog zwischen Afrika und „Neuer Welt“ zu beleben. Die | |
Regierung verfolgt dabei nicht nur kulturelle Ziele. Das „Jahr der | |
Rückkehr“ 2019 wie auch die Nachfolgekampagne sollen nicht nur zum | |
Kultururlaub, sondern zu Investitionen in die ghanaische Wirtschaft und zur | |
Rückkehr nach Ghana animieren. Der erstarkende Rassismus in den USA führt | |
zwar bei manch vermögenden Afroamerikanern zu einer solchen Überlegung, | |
aber die Erfahrungen von Umsiedlern sind oft ernüchternd. Zwar entgehen die | |
Neuankömmlinge in Ghana der rassistischen Diskriminierung einer weißen | |
Übermacht, jedoch begegnen sie sich den Widrigkeiten eines wenig | |
entwickelten Staates und einer anderen Kultur. | |
Die US-Bürgerrechtsikone Maya Angelou beschreibt in ihrem Erinnerungsbuch | |
„Ich kenne einen Ort weit weg von hier“ ihre Enttäuschung, als sie 1962 | |
nach Ghana übersiedelte. Der Eindruck, dass sich kein Afrikaner für die | |
Heimkehr der Sklavennachfahren auch nur die Bohne interessiere, der eklige | |
Gestank offener Abwasserkanäle, die sozialen Stopp-Schilder einer | |
stammesbasierten Gesellschaft sowie vier schwer erlernbare Landessprachen | |
vermittelten ihr das Gefühl, womöglich doch nicht am richtigen Ort zu sein. | |
## Eigene Wurzeln kennenlernen | |
Aufgewogen wurde Angelous Frustration allein durch ihre Hoffnung auf die | |
noch unschuldigen Unabhängigkeitsbewegungen und einen Pan-Afrikanismus, bei | |
dessen Aufbau das junge Ghana und sein charismatischer Präsident Kwame | |
Nkrumah als zentral galt. Sechzig Jahre später haben sich die | |
hochfliegenden Träume in Luft aufgelöst. Im schwierigen Umfeld Westafrikas | |
gilt Ghana zwar aufgrund von Parlamentarismus und gesicherter | |
Ernährungslage als politisch stabil, doch die Abwasserkanäle stinken noch | |
immer. | |
Niemand weiß das besser als die Einheimischen. „Die Allermeisten von uns | |
leben prekär, Alltag ist Kampf. Kaputte Straßen, Wasserversorgung, | |
Stromausfälle, die elenden Krankenhäuser, die Schulen, die miesen Behörden | |
… Nichts ist verlässlich, niemand ist zuständig. Welche Partei regiert, ist | |
egal, jede wirtschaftet nur in die eigene Tasche“, sagt Evan Eghan. Wir | |
sitzen in einem Fast-Food-Lokal an der Oxford Street, Accras Vorzeigemeile | |
aus Bars, Hotels und prätentiösen Luxushochhäusern, an der sich abends die | |
Prostituierten aufreihen. Es sei schon okay, dass die Nachfahren der | |
Sklaven nach Ghana reisen, um ihre Wurzeln kennenzulernen, findet der | |
Dreißigjährige, der mal Schauspieler war und heute Accras Kurzfilmfestival | |
managt. | |
Westafrikas Filmszene, die mutigen Regisseure, die Tabus, die sie | |
aufgreifen, der Kampf um Fördergelder und Öffentlichkeit – je länger Eghan | |
darüber redet, desto begeisterter wird er. „Geld verdienen wir noch nicht | |
damit. Aber viel wichtiger ist es derzeit, international bekannter zu | |
werden.“ Eghan hat Kontakte zu Filmakademien in den USA, kennt Produzenten | |
in Burkina Faso und in Cannes, will aber unbedingt noch professioneller | |
werden. Mit Afrikas Vergangenheit und den darin eingeschlossenen Albträumen | |
hat Eghan nicht mehr viel am Hut. Die Zukunft scheint so viel mehr im | |
Angebot zu halten. Eghan weiß, wie man Social-Media-Kampagnen steuert, | |
Förderanträge an internationale Stiftungen formuliert, Kontakte auf anderen | |
Kontinenten anbahnt. Ein Netzwerker des 21. Jahrhunderts. | |
Aber was ist mit den alten Albträumen? | |
„Es wird Zeit für ein neues Kapitel“, sagt der Festivalgründer zum | |
Abschied. „Schau doch mal, ob du daheim einen Kontakt bei der Berlinale für | |
uns hast. Mit denen würden wir gern was zusammen machen …“ | |
Die Ghana-Reise des Autors wurde durch den Leipziger | |
Afrika-Reiseveranstalter Akwaba unterstützt. | |
20 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Martin Jahrfeld | |
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