# taz.de -- Transformation und Sicherheit in der EU: Gemeinsam gegenhalten | |
> Die EU darf Putins Saat für weitere Spaltung nicht aufgehen lassen. | |
> Solidarität ist nötig und souveräne Kooperation, um die Energiekrise zu | |
> meistern. | |
Bild: Der Bundeskanzler an der frisch gewarteten Turbine der Nord Stream 1. Sou… | |
Nicht zuletzt im Zuge des G20-Gipfels diese Woche wird den Regierenden | |
Europas immer deutlicher bewusst, dass sie angesichts steigender | |
Energiepreise und Lebenshaltungskosten generell nicht in der Lage sein | |
werden, schärfere Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Auf | |
Regierungsebene wächst die Einsicht, dass das Chaos, das Putin bei der | |
europäischen Energieversorgung anrichtet, so lange nicht abklingen wird, | |
bis die EU-Staaten beginnen, gemeinsam zu reagieren und gegenzuhalten. | |
Gefragt ist nun politische Ehrlichkeit über das, womit wir in Europa | |
konfrontiert sind, über die Dimension der Krise und die Notwendigkeit, für | |
den kommenden Winter und darüber hinaus europaweit gemeinsam Vorsorge für | |
diese komplexe Sicherheitsbedrohung zu treffen. Europas Bürger*innen | |
dürfen die steigenden Energiekosten in ihren jeweiligen Ländern nicht | |
isoliert betrachten, sondern brauchen von ihren Regierenden eine | |
aufrichtige Bestandsaufnahme der Gesamtlage. | |
Europa hat gegenwärtig keine Figur im geopolitischen Spiel von Putins Krieg | |
in der Ukraine: Wir sind nur ein Spielball und lassen uns die | |
Handlungsoptionen aus der Hand nehmen. Wenn Deutschland seinen Verbündeten | |
Kanada dazu drängt, ihm beim Umgehen der Sanktionen behilflich zu sein, um | |
die Nord-Stream-1-Pipeline zu reparieren und die Versorgung mit russischem | |
Gas aufrechtzuerhalten, handelt Europa nicht souverän. | |
Wenn die europäischen Regierungen ihre gesamten Notfallfonds für die | |
Aufstockung der Versorgung mit fossilen Brennstoffen für den Winter | |
lockermachen und einfach nur eine fossile Quelle, die früher in Russland | |
lag, durch eine andere ersetzen, verhalten wir uns nicht souverän. Wenn die | |
europäischen Führungskräfte sich scheuen, strategische langfristige | |
Entscheidungen für den Ausbau einer nachhaltigen Energiesicherheit zu | |
treffen und den Sektor der erneuerbaren Energien zügig auszubauen, handeln | |
wir nicht souverän. | |
## Kollektives Sparen und Planen | |
Wenn wir uns nicht zumindest an die Verpflichtungen halten, die wir uns im | |
Rahmen des Pariser Abkommens selbst auferlegt haben, können wir nicht | |
darauf hoffen, die Vertrauenslücke zum Globalen Süden zu schließen, die | |
sich hinsichtlich der [1][Klimafinanzierung], des Schuldenerlasses und des | |
Impf-Nationalismus aufgetan hat. Und der Weg zu einer kohlenstofffreien | |
Welt wird ernsthaft auf der Kippe stehen. Die durch globale Erwärmung | |
verursachten Notfälle weltweit allein im Jahr 2022 machen deutlich, welche | |
Folgen es für die Zukunft der Menschheit hat, wenn wir nicht an unseren | |
Klimazielen festhalten. | |
Die Botschaft muss deshalb keineswegs lauten: Es ist alles zu spät. | |
Gemeinsames Planen und Sparen ist gefragt: Es soll der EU ermöglichen, sich | |
aus der Abhängigkeit von einem heimtückischen Gegner zu befreien, der | |
versucht, das internationale System weg von einer regelbasierten Ordnung | |
hin zu einer Welt zu verschieben, in der der Stärkste gewinnt. | |
Nur so können die ehrgeizigen Ziele des „[2][European Green Deal]“ | |
aufrechterhalten werden, und es bleibt Raum für Investitionen nicht nur in | |
„schmutzige“ Übergangskraftstoffe, sondern auch für einen zügigen Ausbau | |
der EU-Kapazitäten für erneuerbare Energien. Zur Stärkung der | |
EU-Energiesouveränität sollten die Regierungsvertreter*innen der EU | |
drei Dinge anstreben: | |
An erster Stelle brauchen wir eine einheitliche Auffassung von der | |
Notwendigkeit von [3][Dekarbonisierung] und Energieeffizienz als Kernstück | |
unserer Energiewende in ganz Europa, gemeinsam getragen von Regierungen, | |
Industrie und Verbraucher*innen. Innerhalb der EU dürfen nicht | |
unterschiedliche Botschaften kollidieren; die Regierenden müssen sich | |
darüber im Klaren sein, dass wir ohne Maßnahmen in allen Teilen der | |
europäischen Gesellschaft nicht weiterkommen werden. | |
## Die Vorräte teilen | |
Es braucht die Bereitschaft, die politischen Kosten dieser Botschaft mit | |
den Regierungskoalitionen in den einzelnen Ländern und in der EU zu teilen. | |
Zweitens ist für den kommenden Winter ein gemeinschaftlicher | |
Energieresilienzplan nötig, den die Mitgliedstaaten kooperativ ausarbeiten | |
und nach dem sie Vorräte miteinander teilen. | |
Das Ziel des Europäischen Rats vom Juli dieses Jahres, die Gasnachfrage in | |
diesem Winter um 15 Prozent zu senken, und damit verbundene Maßnahmen im | |
Stromsektor, waren positive Schritte, doch die verschiedenen nationalen | |
Bemühungen in der Folgezeit deuten darauf hin, dass ein schrittweiser | |
Kurswechsel vonnöten ist. | |
Die EU muss sich rechtzeitig um gemeinschaftliche europäische Ressourcen | |
für diesen Winter bemühen, bevor nun [4][die Temperaturen endgültig fallen] | |
und es zu Engpässen kommt, um zu vermeiden, dass portionsweise Gesuche um | |
wohlwollende Unterstützung von einem Mitgliedstaat zum anderen politisiert | |
werden und die Saat für weitere Spaltungen legen. | |
Dieses Szenario gehört zu Moskaus Kalkül, die Gaslieferungen an die | |
EU-Staaten gezielt zu unterbrechen, weshalb sich die EU durch | |
gemeinschaftliche Planung gegen eine solche Strategie wappnen muss. | |
Drittens werden die derzeitigen beträchtlichen Gewinne aus der | |
Stromerzeugung aus sauberen Energiequellen in der EU aufgrund von | |
Genehmigungsverzögerungen und unzureichenden Anreizen nicht in den Ausbau | |
der Kapazitäten in den Bereichen Wind, Solar und Wasserstoff investiert. | |
Die EU-Regierungsvertreter*innen müssen in ihren nationalen Plänen das in | |
der „[5][RePowerEU]“-Strategie formulierte Ziel eines umfangreichen – und | |
zügigen – Ausbaus erneuerbarer Energien mit Nachdruck weiterverfolgen. Die | |
Investitionen und die Planung müssen dem Ausmaß der aktuellen Krise | |
angemessen sein. Die EU steht angesichts der Energiekrise nun an einem | |
Scheideweg. Glücklicherweise ist der Weg nach vorn klar – die | |
EU-Regierungen müssen jetzt den politischen Mut aufbringen, ihn zu gehen. | |
Aus dem Englischen von Ingo J. Biermann | |
16 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Entschaedigungsdebatte-auf-COP27/!5890392 | |
[2] https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal… | |
[3] /Dekarbonisierung/!t5261089 | |
[4] /Sorge-vor-Engpaessen-im-Winter/!5859342 | |
[5] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_22_3131 | |
## AUTOREN | |
Susi Dennison | |
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