| # taz.de -- Stichwahl ums Präsidentenamt: Brasilien vor dem Showdown | |
| > Bolsonaro oder Lula? Der rechte Amtsinhaber liegt in den Umfragen hinten. | |
| > Aber was heißt das schon: Auch ohne ihn dürfte der Bolsonarismus | |
| > weiterleben. | |
| Bild: So hätten es Bolsonaros Fans gerne: Präsident am Steuer und der linke H… | |
| Rio de Janeiro taz | 156 Millionen Brasilianer*innen sind am Sonntag | |
| dazu aufgerufen, in der Stichwahl zwischen zwei Kandidaten auszuwählen: dem | |
| rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz | |
| Inácio „Lula“ da Silva. Mit den beiden stehen sich nicht nur zwei Personen, | |
| sondern auch zwei politische Projekte gegenüber, die über die Zukunft des | |
| Landes entscheiden werden: Autoritarismus oder Demokratie. | |
| In den letzten Umfragen liegt der Sozialdemokrat Lula vorne, doch Bolsonaro | |
| hat leicht aufgeholt. Mehrfach erklärte er außerdem, die Ergebnisse nur im | |
| Falle seines eigenen Sieges anerkennen zu wollen. Viele rechnen deshalb mit | |
| Gewalt, einige befürchten sogar einen Putschversuch. Was steht bei der Wahl | |
| am Sonntag auf dem Spiel? Und wo befindet Brasilien nach knapp vier Jahren | |
| unter Bolsonaro? | |
| Bereits bei der Amtsübergabe am Neujahrstag 2019 ließ der rechtsradikale | |
| Rüpel keinen Zweifel daran, wohin die Reise mit ihm gehen würde. In einer | |
| flammenden Rede auf dem Praça dos Três Poderes, dem Platz der Drei Gewalten | |
| in der Hauptstadt Brasília wetterte er gegen „Sozialismus, politische | |
| Korrektheit und die Umkehrung der Werte“. Und in der Tat begann er ab Tag | |
| eins, sein rechtsautoritäres Projekt umzusetzen. | |
| Allerdings kann Bolsonaro nicht durchregieren. Im Parlament erreicht er | |
| kaum Mehrheiten, er regiert per Dekret, und viele seiner Gesetzesprojekte | |
| sind gescheitert. Einige vertreten deshalb die Auffassung, Bolsonaro habe | |
| auf ganzer Linie versagt, er sei eigentlich ein schwacher Präsident, nichts | |
| mehr als ein zahnloser Tiger. Es stimmt zwar, dass ihm gerade der Oberste | |
| Gerichtshof immer wieder Grenzen aufzeigt. Doch in vielen Punkten war | |
| Bolsonaro extrem erfolgreich. | |
| ## Bolsonarismus ist treu | |
| Soziale und gesellschaftliche Errungenschaften, die nach der | |
| Militärdiktatur mühsam errungen wurden, sind bereits systematisch | |
| zurückgedreht. Mit Bolsonaros Segen konnten sich fundamentalistische | |
| Christ*innen in den politischen Institutionen festsetzen, während | |
| Goldgräber*innen und Holzfäller*innen ganze Landstriche in | |
| Amazonien erobert haben, und immer mehr Waffen im Umlauf sind. | |
| Mit seiner unkonventionellen Art untergrub Bolsonaro zudem viele Grundsätze | |
| des politischen Systems oder höhlte sie aus. Die Inszenierung als | |
| Anti-Politiker hat er perfektioniert und die sozialen Medien setzt er als | |
| Waffe ein. Brasiliens Präsident steht für eine neue Art des | |
| Rechtsradikalismus, die keine Panzer mehr auf den Straßen braucht, und in | |
| einer Allianz aus Neoliberalen, Militärs und Fundamentalist*innen das | |
| Land nach ganz rechts zu drehen versucht. | |
| ## Brasilien kurz vor dem Kollaps | |
| Bolsonaro hat das größte Land Lateinamerikas an den Rand des Kollapses | |
| geführt: traumatisiert durch die Pandemie, als Aussätziger im Ausland | |
| gehandelt, [1][zernagt durch die Wirtschaftskrise]. Er hat alte Wunden | |
| aufgerissen, neue hinzugefügt. Dennoch kann sich der Rechtsradikale auf den | |
| harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Mit dem Bolsonarismus | |
| gibt es eine [2][schlagkräftige Bewegung, die treu hinter ihrem Idol] | |
| steht. | |
| Der Blick in andere Länder lohnt, um mögliche Szenarien für die Zukunft | |
| Brasiliens zu skizzieren: In den USA ist der Trumpismus trotz Donald Trumps | |
| Abwahl weiterhin stark, die Gesellschaft tief gespalten. Bei der nächsten | |
| Wahl könnte ein*e Kandidat*in aus dem Trump-Lager mit derzeit | |
| erschreckend guten Aussichten in den Wahlkampf ziehen – oder im schlimmsten | |
| Fall sogar Trump selbst. | |
| Man sollte nicht den Fehler machen, autoritäre Staatschefs als individuelle | |
| Phänomene und nur im Rahmen ihrer Amtszeiten zu betrachten. Ihr Ziel war | |
| nie, einfach nur Wahlen zu gewinnen. Es geht darum, Gesellschaften zu | |
| verändern. Und damit sind sie bisweilen erschreckend erfolgreich. | |
| Bolsonarismus repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen | |
| – und das nicht nur auf der großen Bühne der brasilianischen Bundespolitik. | |
| In den Parlamenten im ganzen Land sitzen Tausende ultrarechte | |
| Ex-Polizist*innen und bibelschwingende Gotteskrieger*innen, die die Politik | |
| bereits nach ihren Grundsätzen mitgestalten. Bei der ersten Wahlrunde am 2. | |
| Oktober schafften etliche bolsonaronahe Politiker*innen den Einzug in | |
| die Parlamente. Das heißt: Es ist einfacher, Bolsonaro abzuwählen, als den | |
| Geist des Bolsonarismus aus der Politik zu entfernen. | |
| ## Die zweite Amtszeit ist schlimmer | |
| Bisher steckt der brasilianische „Autoritarismus durch Wahlen“ noch in den | |
| Kinderschuhen. Aber gewinnt Bolsonaro die Wahl, steht nichts weniger als | |
| die Demokratie auf dem Spiel. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass | |
| autokratische Staatschefs Zeit brauchen, um demokratische Systeme | |
| auszuhebeln. Eine Wiederwahl gibt sie ihnen. | |
| Die erste Wahl eines „Anti-Establishment-Kandidaten“ wie Bolsonaro ist oft | |
| die Folge schwerer gesellschaftlicher Krisen. In solchen Zeiten floriert | |
| der Hass auf vermeintliche Eliten, es gibt Feindbilder und den Wunsch nach | |
| dem radikalen Neustart. | |
| Manche Wähler*innen mögen nicht mit allen Positionen eines Bewerbers | |
| übereinstimmen, sehen in ihm jedoch die Alternative zum Status quo. In | |
| vielen Fällen folgt die Desillusionierung auf dem Fuß: Nach ihrem | |
| Amtsantritt büßen die gewählten Autoritären zumeist an Zuspruch ein, ihre | |
| Umfragewerte fallen, Wähler*innen schämen sich für ihre Entscheidung. | |
| In anderen Fällen bauen die unbequemen Regierenden ihre Beliebtheit aus. | |
| Kommt es zu einer Wiederwahl, steht das Tor zum autoritär gefärbten | |
| Staatsumbau weit offen. | |
| In der zweiten Amtszeit beginnen autoritäre Machthaber damit, demokratische | |
| Institutionen zu schwächen und Gerichte zu kontrollieren. In Staaten wie | |
| Ungarn oder Venezuela waren Eingriffe in das Justizsystem der erste Schritt | |
| des autoritären Staatsumbaus. | |
| Auch Bolsonaro hat in den letzten Wochen mehrfach angedeutet, den | |
| [3][Obersten Gerichtshof umbauen zu wollen]. Ähnlich wie in den USA, wo der | |
| Supreme Court unlängst das Recht auf Abtreibung kassierte, stünden auch in | |
| Brasilien viele Grundsatzurteile auf dem Spiel. | |
| Außerdem würde Bolsonaro in einer zweiten Amtszeit erfahrener agieren. In | |
| den letzten dreieinhalb Jahren hat er viel verbockt, teils aus Unvermögen, | |
| teils aus ideologischer Verbohrtheit: Um sich als Anti-System-Politiker zu | |
| inszenieren, befand er sich anfangs auf Kriegsfuß mit dem Kongress. Doch | |
| bald lernte er, Arrangements zu suchen und Stimmen für Gesetze einzukaufen. | |
| Diese Erfahrung käme ihm zugute, um in einer zweiten Amtszeit etwa die | |
| gefürchtete Reform des Antiterrorgesetzes durchzubringen. | |
| ## Gemeinsam gegen Bolsonoaro | |
| Heute werden demokratische Prozesse zumeist nicht mehr über den klassischen | |
| Staatsstreich torpediert, sondern durch systematische Attacken. In | |
| Brasilien galten die unter Bolsonaro der Pressefreiheit, dem Respekt vor | |
| politischen Gegner*innen und einer zivilisierten öffentlichen Debatte. | |
| Solche Erosionen erreichen irgendwann einen Wendepunkt, der vieles kippen | |
| lässt. | |
| Bolsonaro hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er ist und wofür steht: Er | |
| ist ein notorischer Antidemokrat und ein Bewunderer von Militärdiktaturen. | |
| Dennoch hielten Brasiliens demokratische Institutionen bisher stand, und es | |
| gelang dem Präsidenten nicht, einen offenen Bruch zu provozieren – auch | |
| weil ihm dafür die nötige Rückendeckung fehlt. | |
| Medien berichten kritisch, es gibt eine aktive Zivilgesellschaft und auch | |
| im Ausland setzen viele auf seine Abwahl. Deshalb ist es recht | |
| unwahrscheinlich, dass es einen klassischen Putsch geben wird. Dennoch: | |
| Dass Bolsonaro einfach so abtreten wird, gilt als so gut wie | |
| ausgeschlossen. | |
| Viele setzen ihre ganze Hoffnung auf Bolsonaros großen Widersacher: | |
| Ex-Präsident Lula. Und der 77-jährige Ex-Gewerkschafter scheint tatsächlich | |
| die einzige Person zu sein, die es vermag, Bolsonaro in der Wahl zu | |
| schlagen. L[4][ula wird nicht müde zu betonen, das tief gespaltene Land | |
| wieder zusammenbringen] zu wollen. | |
| Doch wie er das genau machen will, sagt er nicht. Es ist eine Illusion zu | |
| glauben, dass er im Fall eines Wahlsieges daran anknüpfen kann, wo am Ende | |
| seiner letzten Amtszeit 2011 aufgehört hat. Der Politiker der | |
| Arbeiterpartei PT wird viele Zugeständnisse an seine konservativen | |
| Partner*innen machen müssen, würde im völlig zersplitterten Parlament | |
| hart um Mehrheiten kämpfen und einem völlig radikalisierten Bolsonarismus | |
| gegenüberstehen. | |
| Der alte Fuchs Lula ist sich der Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich | |
| merklich zur Mitte. Zuletzt erklärte Lula, gegen Abtreibungen zu sein, | |
| polemisierte gegen Uni-Sex-Toiletten an Schulen. An der linken Basis löste | |
| das Unmut aus. Doch allzu große Kritik wird im Wahlkampf zurückgehalten. Es | |
| müsse erst einmal darum gehen, Bolsonaro zu schlagen, sagen viele. Dann | |
| könne man weiter schauen. | |
| 27 Oct 2022 | |
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| Niklas Franzen | |
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