| # taz.de -- Russischsprachige Community in Berlin: Fantastische Mythen | |
| > Die russische Propaganda malt Berlin in düstersten Farben: Energie sei | |
| > knapp, Toilettenpapier auch. Wie reagiert die Community in der Stadt | |
| > darauf? | |
| Bild: Nur noch selten zu sehen: Autokorso von Putin-Fans in Berlin | |
| Berlin taz | Noch stehen alle Bäume im Tiergarten. Glaubt man russischen | |
| Medien wie beispielsweise der staatlich zensierten auflagenstarken Zeitung | |
| Komsomolskaja Pravda, dann hätten wir BerlinerInnen bereits die meisten | |
| Bäume dort abgeholzt und verheizt. Wir würden am Zoo nach Elefantenmist | |
| anstehen, weil auch der sich gut verheizen ließe. Darüber hinaus sei nicht | |
| nur Energie in der Stadt knapp, sondern auch Toilettenpapier. Diese | |
| Behauptung wurde in russischen Medien mit Fotos von 2020 – dem ersten Jahr | |
| der Coronapandemie – illustriert. | |
| Aber wie gehen RussInnen in Berlin mit solchen Meldungen um, deren | |
| Wahrheitsgehalt sich ja hier problemlos überprüfen lässt? „Das ist ein | |
| Glaubenskrieg“, sagt die Russlanddeutsche Dara Kossok-Spieß, grüne | |
| Bezirkspolitikerin in Spandau. „Wer ohnehin nichts von Putins Propaganda | |
| hält, der lacht darüber. Die Putinanhänger tun das damit ab, dass man sich | |
| da geirrt hätte, oder auch, dass es ein Zukunftsszenario für den | |
| bevorstehenden Winter sei.“ | |
| Soja Tulburg aus Kreuzberg hat die Meldung vom angeblich fast abgeholzten | |
| Tiergarten gar nicht wahrgenommen. „Die Komsomolskaja Pravda ist | |
| Propaganda. Das lese ich nicht“, sagt sie der taz. „Leuten, die russische | |
| Propaganda vertreten, rate ich, zurück nach Russland zu gehen.“ Den Rat | |
| hätte sie in diesem Jahr schon vielen Landsleuten erteilt, berichtet | |
| Tulburg. „Leider hat es keiner getan, dort droht ja die Einberufung.“ | |
| Dara Kossok-Spieß beobachtet, dass die Aktivitäten der militanten | |
| Putinanhänger in Berlin zurückgehen: „Nicht, weil die Leute aufgewacht | |
| sind, sondern weil sie mit ihren Alltagsproblemen ausgelastet sind und sich | |
| so ein Aktionismus wie im Mai nicht ewig durchhalten lässt.“ | |
| Damals fuhren Autokorsos mit hunderten AnhängerInnen dekoriert mit | |
| Russlandfahnen durch Berlin – als Zeichen der Unterstützung für Putin. | |
| Heute ist es eine kleine, treue Anhängerschaft mit vielleicht noch 20 | |
| Autos, die sich jeden Sonntag von Ahrensfelde aus auf den Weg in die | |
| Berliner Innenstadt macht und ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine | |
| und die Öffnung von Nord Stream 2 fordert. | |
| ## Tiefe Spaltung der Community | |
| „Was bleibt, ist die tiefe Spaltung und Skepsis innerhalb der | |
| russischsprachigen Community“, berichtet Kossok-Spieß. Wer beispielsweise | |
| eine russischsprachige Ärztin, Friseurin oder Nageldesignerin aufsucht, | |
| will jetzt wissen, wie die zum Krieg und zu den russischen | |
| Gebietsansprüchen in der Ukraine steht. Andere wollen es besser nicht so | |
| genau wissen, weil man sonst nicht mehr guten Gewissens dort hingehen kann. | |
| „Das Leben wird zugleich politischer und unpolitischer“, sagt sie. | |
| Kaum nachgelassen haben die Hilfsaktivitäten für die Ukraine und für | |
| ukrainische Flüchtlinge, die auch von einem großen Teil der | |
| russischsprachigen Gemeinde in Berlin getragen werden. Der | |
| Integrationsverein Vision aus Marzahn, der sich normalerweise um | |
| Russlanddeutsche kümmert, ist beispielsweise so stark mit der Betreuung | |
| Geflüchteter aus der Ukraine beschäftigt, dass laut Website „unser übliches | |
| Programm nicht so stattfinden kann wie ursprünglich geplant“. Denn: „Diese | |
| Arbeit geht vor.“ | |
| In Spandau aquirieren bisher nicht in Vereinen organisierte | |
| Russlanddeutsche und KasachInnen Spendengelder für Autos, die UkrainerInnen | |
| aus den von Russland besetzten Gebieten herausholen, oder auch für | |
| medizinische Hilfsgüter für die Ukraine. | |
| Die Friedrichshainerin Irina, die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung | |
| lesen möchte, bezeichnet sich selbst als unpolitisch. Kulturell ist die | |
| Betriebswirtschaftlerin in der russischen Kultur zu Hause: Am Abend läuft | |
| bei ihr das russische Fernsehen; ihren Einkauf erledigt sie im russischen | |
| Supermarkt, „weil das Essen dort gesünder ist“. | |
| Und mit Ausnahme des Kinderarztes geht die Familie ausschließlich zu | |
| russischen Ärzten. Nicht der Sprache wegen, wie die Frau sagt, die | |
| hervorragend Deutsch spricht, sondern „weil die deutschen Ärzte arrogant | |
| und schlecht ausgebildet sind. Sie hören mir ja noch nicht mal richtig zu.“ | |
| Putin ist in ihren Augen jemand, der sich für sein Volk aufopfert. Dann | |
| fügt sie hinzu: „Aber wie gesagt, für Politik interessiere ich mich | |
| eigentlich nicht.“ | |
| ## Tee im Russischen Haus | |
| Gern hätte Irina ihre Kinder auch auf eine deutsch-russische Europaschule | |
| geschickt, aber der Weg ist der allein erziehenden Mutter zu weit. So | |
| besuchen sie Russischkurse im Russischen Haus in der Friedrichstraße. | |
| Dieses Haus, das von einer im russischen Außenministerium angesiedelten | |
| Agentur betrieben wird, hat derzeit seine Türen für frierende BerlinerInnen | |
| geöffnet. Da es in Berlin ja angeblich bitterkalt und der Tiergarten schon | |
| fast abgeholzt ist, lädt es zum Aufwärmen ein. Wer will, kann auch das | |
| Handy laden, einen heißen Tee trinken und Zeichentrickfilme schauen. | |
| Doch der Andrang hält sich in Grenzen. Es kommen überwiegend solche | |
| russischsprachigen BerlinerInnen, die die kulturellen Angebote und die | |
| Sprachkurse ohnehin nutzen. Das auszuprobieren könnte indes auch | |
| Nebenwirkungen haben: Man riskiert, für das russischen Fernsehen gefilmt zu | |
| werden und Mitleid in Russland zu erregen. | |
| 8 Nov 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Russland | |
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| Serie Flucht aus der Ukraine | |
| Queer | |
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