| # taz.de -- Autobiografie von Jarvis Cocker: Eine blaue Papp-Handtasche | |
| > Der englische Musiker Jarvis Cockers hat eine Autobiografie geschrieben. | |
| > Darin fungiert Pop als Welterklärungsmaschine, auch für Thatchers | |
| > Handtasche. | |
| Bild: Jarvis Cocker auf der Frankfurter Buchmesse 2022 | |
| Oasis oder Blur? Diese Frage hat Ende des 20. Jahrhunderts den | |
| britpopinteressierten Teil der Menschheit für eine Viertelstunde | |
| beschäftigt. Die Antwort: Pulp. | |
| Warum das noch heute die richtige Antwort auf die falsche Frage ist, warum | |
| Pulp noch heute interessant sind und warum die Unterscheidung zwischen | |
| gutem und bösem Pop noch immer politisch relevant ist – solche Fragen | |
| beantwortet [1][Jarvis Cocker] in seinem Buch „Good Pop, Bad Pop. Die Dinge | |
| meines Lebens“. | |
| Die Dinge seines Lebens findet der Gründer und Erfinder von Pulp in einer | |
| Kammer auf dem Dachboden seiner Londoner Wohnung. Strickkrawatten, | |
| Kaugummipapier (Wrigleys Extra), ein Aufnäher vom Wigan Casino (Northern | |
| Soul!), ein gelb-weiß gepunktetes Acrylhemd (Goldstar), Schulhefte, | |
| Pornohefte, ein Kofferradio mit Skalenknopf (John Peel!), Einkaufstüten | |
| (Woolworth), Postkarten (Pauschalurlaub Ibiza), ein Stück Seife (Imperial | |
| Leather), Modellraumschiffe (der kleine Jarvis wollte im Weltraum leben), | |
| kaputte Brillen (Jarvis ist seeeehr kurzsichtig). | |
| Die Fundsachen aus der Rumpelkammer lässt Cocker fotografieren und sortiert | |
| sie nach der Devise „Keep or cob“. Cob heißt wegschmeißen im Slang seiner | |
| Heimat, der (Ex-)Stahlstadt Sheffield. Pulp-Fans kennen Sheffield auch als | |
| „Sex City“. | |
| ## Rhythmus der Fabrik | |
| Im gleichnamigen Song erzählen Cocker und seine Bandpartnerin Candida Doyle | |
| von massenhaften Simultan-Orgasmen in Sozialbau-Hochhäusern, ein Relikt aus | |
| dem Fordismus, als der Rhythmus der Fabrik noch das Tun, Trachten und | |
| Treiben einer lebensweltlich homogenen Working Class durchgetaktet hat, | |
| Sexleben inklusive. Alle stehen zur selben Zeit auf, alle gehen zur selben | |
| Zeit ins Bett, alle Schlafzimmerfenster gehen zum Innenhof raus und stehen | |
| nachts offen, „and sometimes in the middle of the night, in that building | |
| it sounded like a mass orgy“. | |
| Zu jedem Dachbodenfund erzählt Cocker in „Good Pop, Bad Pop“ eine | |
| Geschichte. So entsteht ein autobiografisches Wimmelbild oder, mit Cocker: | |
| eine „Eigenarchäologie“. Hat der frankophile Brite an Foucaults „Ordnung | |
| der Dinge“ gedacht, Untertitel „Une archéologie des sciences humaines“? | |
| Selbst wenn, er würde es für sich behalten, könnte ja prätentiös wirken. | |
| Schließlich soll weiter gelten, was Band-Biograf Owen Hatherley 2012 in | |
| „These Glory Days“ schrieb: „Pulp war die letzte große Band, deren | |
| Mitglieder sich ihrer Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse bewusst waren und | |
| sich gleichzeitig als Künstler verstanden.“ | |
| Mit seiner Eigenarchäologie illustriert Cocker in mitunter grotesken | |
| Anekdoten, wie kompliziert der Spagat zwischen Arbeiterklasse und Kunst in | |
| den 80er/90er Jahren war, und lässt zugleich durchblicken, dass Jahrzehnte | |
| nach Thatcher und New Labour nicht mehr so ungebrochen von der | |
| Arbeiterklasse geredet werden kann wie zu Zeiten von Sheffield Sex City. | |
| Mit den Gewerkschaften hat Thatcher auch den Fordismus pulverisiert. | |
| Eine überwiegend weiße Facharbeiterschaft, prekär beschäftigte Workers of | |
| colour, unterbezahlte Frauen im Care-Sektor, Geflüchtete aus Syrien oder | |
| der Ukraine, deren Qualifikationen in Großbritannien nichts wert sind – aus | |
| derart heterogenen gesellschaftlichen Gruppen lässt sich keine Working | |
| Class konstruieren, die Zeit der nächtlichen Massenorgien ist passé. | |
| ## Ein Fall von Klassentourismus | |
| Relativ überschaubar ist das Verhältnis von Klasse und Sex auch noch in | |
| Pulps größtem Hit von 1995. „Ich möchte mit normalen Leuten schlafen“, | |
| verkündet die blasierte Upper-Class-Protagonistin in „Common People“. Junge | |
| Frau aus besseren Kreisen gönnt sich Sexurlaub mit gewöhnlichen Proleten. | |
| Ferien in anderer Leute Armut, ein Fall von Klassentourismus. | |
| Mit Common People umgab sich auch Tony Blair gern, der pop-affine Premier | |
| von New Labour. Common People wie die Gallagher-Lads von Oasis, die bei | |
| Blairs Antrittsparty in Downing Street 10 ein paar Lines ziehen, ein | |
| Kippmoment der britischen (nicht nur Pop-)Geschichte, von Pulp festgehalten | |
| in „Cocaine Socialism“, ein historischer Augenblick, in dem Good Pop zu Bad | |
| Pop kippt. | |
| Cocker inszeniert sich als enthusiastischer Pop-Liebhaber, der seine | |
| Lebenszeit am größten Pop-Phänomen ever bemisst: „Natürlich bin ich nicht | |
| der Einzige aus meiner Generation, der als Kind von den Beatles besessen | |
| war – keine Beatles, kein Br*tp*p. Wie hätte ich auch nicht von ihnen | |
| besessen sein können? ‚She Loves You‘ stand am Tag meiner Geburt auf Platz | |
| eins der Charts. Mein Vater zog 1970 bei uns aus, im selben Jahr, als sich | |
| die Beatles auflösten. In der Zeit dazwischen waren sie in meinem Leben | |
| präsent wie ein wohlmeinender Schatten. Um ein echter Fan zu sein, war ich | |
| noch zu jung – aber GESPÜRT habe ich sie trotzdem. Vielleicht wirkte der | |
| Zauber, den sie auf mich ausübten, dadurch noch stärker.“ | |
| ## Kribbeln erzeugen | |
| Bei Cocker wird Pop wieder zu Kinderkram, im besten Sinn. Er erinnert sich, | |
| wie er 1969 zum ersten Mal „Where do you go to“ im Radio hört, einen Song | |
| des One-Hit-Wonders Peter Sarstedt. „Im Alter von fünf Jahren verstand ich | |
| nicht annähernd, was der Text von ‚Where Do You Go To, My Lovely?‘ | |
| bedeutete. Wer waren Marlene Dietrich & Zizi Jeanmaire? Wo war der | |
| Boulevard St. Michel oder Juan-les-Pins? & wie nippte man am Napoleon | |
| Brandy, ohne sich die Lippen nass zu machen? Aber auch wenn ich keine | |
| Ahnung hatte, worüber Peter Sarstedt da eigentlich sang, begriff ich doch | |
| etwas ganz Wichtiges an seinem Song: Er erzeugte das Kribbeln.“ | |
| Vermutlich keimt in diesem Kribbel-Moment in Klein-Jarvis der Wunsch, eine | |
| Band zu haben, Popstar zu werden. Fast von Geburt an sei er Popfan gewesen, | |
| als Teenager wollte er dann mitspielen. So erleben wir The Making Of Pulp. | |
| Jarvis erfindet buchstäblich die Band, lange bevor er ein Instrument | |
| besitzt, geschweige denn spielen kann. | |
| In seinen Notizen entwirft er zunächst den Pulp-Look, er soll „Abscheu | |
| ausdrücken gegen die normale Welt“. Trashige Second-Hand-Klamotten, | |
| billiges Kunststoffzeug. „Die Pulp-Philosophie: Aus dem, was andere | |
| wegwerfen, etwas Neues machen. Heute nennt man das ‚Upcycling‘. Damals | |
| nannte man es ‚was Besseres können wir uns nicht leisten‘.“ | |
| ## Aus populär wird populistisch | |
| Es folgt „The Pulp Masterplan“: mit konventionellen Songs Erfolge feiern, | |
| dann die Musikindustrie unterwandern. In Cockers Kopf nimmt also das | |
| Konzept Subversive Affirmation Gestalt an, bevor er auch nur einen Akkord | |
| hinkriegt. Und das Märchen vom Pop als Welterschließungs- & | |
| -erklärungsmaschine funktioniert. Bis der Bad Pop sein hässliches Haupt | |
| erhebt, als Cocker in der Rumpelkammer eine blaue Papp-Handtasche entdeckt. | |
| Die Nachbildung der Handtasche von Margaret Thatcher, „der Beginn des | |
| Zeitalters des Bad Pop“. Politiker missbrauchen Pop für ihre Zwecke, aus | |
| populär wird populistisch. | |
| Mit „Good Pop, Bad Pop“ konserviert Cocker ein übersichtliches Weltbild: | |
| Wir gegen die. Er klammert sich an seinen fast kindlichen Glauben an die | |
| heilenden Kräfte des Pop. „Für mich bedeutet Pop, dass Kultur einem | |
| breiteren Publikum zugänglich gemacht wird. Nehmen wir die Penguin Books, | |
| Taschenbücher, man konnte sich ein literarisches Werk kaufen für wenig | |
| Geld, Six Pence oder so. Das war eine Demokratisierung, eine Öffnung der | |
| Kultur für die Menschen. Heute passiert das Gegenteil. Der Zugang zur | |
| Kultur wird wieder erschwert.“ | |
| Gute Zeiten für bösen Pop also. Aber Jarvis Cocker lässt sich seinen | |
| Glauben an den guten Pop nicht nehmen und bewahrt Haltung. Eine Haltung, | |
| die man vielleicht nennen könnte: reflektierte Naivität. Nein, das ist kein | |
| Widerspruch. | |
| Reflektiert naiv hält der bald Sechzigjährige hinter den dicken Gläsern die | |
| Augen offen für Good-Pop-Phänomene, Inputfutter für diverse Aktivitäten | |
| (Radio, Film, Soloplatten). Das Buch, die Eigenarchäologie auf dem | |
| Dachboden, endet mit den ersten kleinen Pulp-Erfolgen – und Thatcher. Somit | |
| bleiben uns andere, womöglich perfidere Inkarnationen des Bad Pop erspart. | |
| Schade eigentlich, gern hätte man gewusst, was Cocker heute zum | |
| Kokain-Sozialismus von New Labour zu sagen hat (den er anfangs | |
| unterstützte). Oder zum Kokain-Brexitismus der Smiths hörenden Eton-Bubis | |
| von Cameron über Johnson bis Rees-Mogg. Fortsetzung please. | |
| 6 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Walter | |
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