# taz.de -- Bürgermeisterwahl in Tübingen: Der Überbürgermeister | |
> Am Sonntag wird in Tübingen gewählt. Der umstrittene Boris Palmer tritt | |
> wieder an, aber nicht mehr für die Grünen. Kommt es zum Showdown? | |
Bild: Behält Boris Palmer die Oberbürgermeisterhand über Tübingen | |
Auf den letzten Metern wird Boris Palmer noch tüchtig ausgebremst. Nicht | |
von einem fahrlässigen Facebook-Eintrag und auch nicht von irgendwelchen | |
Enthüllungen oder Vorwürfen der Herausforderinnen. Es ist das Coronavirus, | |
das den Tübinger Oberbürgermeister im Wahlkampffinale aus dem Rennen nimmt. | |
Statt auf der Straße und auf Podiumsdiskussionen Wahlkampf zu machen, sitzt | |
er nun mit seinem kleinen Sohn zu Hause und baut eine Legobahn, deren Foto | |
er bei Facebook postet. Die Zeit mit den Kindern sei schön, „aber für den | |
Wahlkampf ist es halt Kacke“, sagt Palmer am Telefon. Wie sich die | |
Isolation aufs Ergebnis auswirke? „Keine Ahnung.“ | |
Palmer ist jetzt 16 Jahre im Amt. Zweimal wurde er im ersten Wahlgang | |
gewählt, 2006 mit 50,4 Prozent, 2014 waren es sogar 61,7 Prozent. Aber | |
diesmal ist alles anders. Gegen den Grünen Palmer [1][läuft ein | |
Parteiausschlussverfahren], in Tübingen tritt er deswegen als unabhängiger | |
Kandidat an. Der Wahlkampf gegen zwei Frauen ist unübersichtlich und auch | |
ein bisschen holprig. | |
Zehn Tage vor dem positiven PCR-Test sitzt der Amtsinhaber noch mit Maske | |
und der bekannten Palmerschen Selbstgewissheit unter dem bunten Transparent | |
von Fridays For Future und streitet ungeduldig mit seiner grünen | |
Herausforderin Ulrike Baumgärtner über den schnelleren Weg zu neuen | |
Windrädern. Die SPD-Kandidatin Sofie Geisel sitzt dazwischen und sagt: „Da | |
fühl ich mich wie die Tante in der Mitte, während Cousin und Cousine | |
streiten.“ | |
Es ist ein Wahlkampf, in dem politischer Stil eine große Rolle spielt, und | |
bei dem es nicht zuletzt um die Frage geht, wer am grünsten ist. Ist es | |
Palmer mit seiner Erfahrung und der forschen städtischen Klimapolitik? Ist | |
es die offizielle grüne Kandidatin, die gendert, sich für mehr | |
Bürgerbeteiligung einsetzt und plakatiert „Weniger Rambo, mehr Wir“? | |
Oder ist es gar Sofie Geisel, die patente Schwäbin mit SPD-Parteibuch und | |
langjährigem Kirchenengagement, die den Ausgleich zwischen Klimapolitik und | |
Sozialem sucht. | |
Unter normalen Umständen würde sich schon im nächsten Landkreis kaum jemand | |
dafür interessieren, wer in einer schwäbischen Universitätsstadt mit 90.000 | |
Einwohnern neuer Oberbürgermeister wird. Aber es geht eben nicht um einen | |
x-beliebigen Oberbürgermeister, eher schon um einen Überbürgermeister. Es | |
geht um Boris Palmer. | |
Der hat eine blitzsaubere Regierungsbilanz vorzuweisen, was Arbeitsplätze | |
und Klimapolitik angeht. Nicht wegen solcher Leistungen jedoch, sondern | |
wegen seiner oft ressentimentgeladenen Interventionen wird er in Berlin | |
oder Hamburg auf der Straße erkannt. Palmers Ein- und Ausfälle, etwa zu | |
Flüchtlingen, zu [2][Menschen mit Migrationshintergrund in der | |
Bahnwerbung], über [3][vulnerable Gruppen in der Coronazeit], sind so | |
bekannt wie zahllos und können hier wie das Was-bisher-geschah einer | |
Netflixserie überspult werden. Der vorläufige Schlusspunkt im zerrütteten | |
Verhältnis zu seiner Partei: der nach eigenen Angaben ironisch gemeinte | |
[4][Facebook-Post mit dem N-Wort] über den Fußballspieler Dennis Aogo im | |
Frühjahr 2021. Der hatte das Parteiausschlussverfahren gegen ihn ausgelöst | |
und führt jetzt dazu, dass Palmer als Amtsinhaber im blassgrünen Anzug | |
(„ruhendes Grün“) und als unabhängiger Kandidat gegen eine grüne | |
Herausforderin antritt und erstmals um sein Amt bangen muss. | |
Bei den Grünen hoffen nicht wenige auf Palmers politisches Ende. Das | |
Parteiausschlussverfahren hatte nicht zuletzt Annalena Baerbock | |
vorangetrieben, die damalige Kanzlerkandidatin. Denn Palmer war ihr mit | |
seinem Post mitten in den Auftakt zum Bundestagswahlkampf geplatzt. Auch im | |
Landesverband ist die Liste der Palmer-Freunde arg überschaubar. Immerhin | |
Winfried Kretschmann, lange ein Förderer, lässt offen, wem er bei der Wahl | |
in Tübingen die Daumen drückt. Das habe ja eh keinen Einfluss, sagt | |
Kretschmann, deshalb wolle er die Frage auch nicht beantworten. | |
## Schadensbegrenzung oder Schadenfreude | |
Eine Niederlage Palmers würde das Problem der Partei mit ihrem Enfant | |
terrible elegant erledigen. Verlöre er, daran lässt Boris Palmer keinen | |
Zweifel, ist es vorbei mit der Politik. Und sollte er nicht den ersten | |
Wahlgang zumindest mit relativer Mehrheit für sich entscheidet, lässt | |
Palmer mitteilen, trete er zum zweiten Wahlgang erst gar nicht mehr an. | |
Dann sei er halt Pensionär mit voller Bürgermeisterrente. | |
Mit gerade einmal 50 mag ihm das glauben, wer will. Ist es Trotz oder | |
Überlegenheitsgehabe? „Nein, das ist nüchterne Empirie“, sagt Palmer nach | |
dem Podiumsabend bei Fridays For Future in der Hotelbar gegenüber, und | |
nippt an einer Piña Colada. Weder Dieter Salomon in Freiburg noch andere | |
Amtsinhaber in Baden-Württemberg hätten es je geschafft, einen Gegentrend | |
aus dem ersten Wahlgang im zweiten zu drehen. Erster oder nichts! | |
Früher hätte Palmer so ein Setting zur Höchstform auflaufen lassen. Jetzt | |
aber wirkt er vom Wahlkampf genervt. Nein, es mache ihm diesmal keinen | |
Spaß, sagt er. „Ich diskutiere lieber mit Leuten, die Alternativen zu | |
bieten haben.“ Bei seinen Herausforderinnen fehle ihm der politische | |
Inhalt. Er war es, der die Arbeitsplätze von Amazon in die Stadt geholt und | |
als erster Oberbürgermeister die Photovoltaikpflicht für Neubauten | |
eingeführt hat. Mit den Protesten von Fridays For Future im Rücken hat er | |
zudem den Gemeinderatsbeschluss zur Klimaneutralität bis 2030 durchgesetzt. | |
Jetzt machen Sofie Geisel und Ulrike Baumgärtner Wahlkampf mit einem | |
forschen „Weiter so!“ – nur halt ohne Palmer. Oder wie es das Wahlplakat | |
des Spaßkandidaten von Die Partei auf den Punkt bringt: „So wie Palmer. Nur | |
ohne Rassismus.“ | |
Der schnaubt: „Nicht die Woken sind die echten Grünen“, er sei es, das sehe | |
man schon an seinen vielen Unterstützern aus der grünen Gründergeneration. | |
Wenn es aber nur noch um Stil und Formulierungen gehe und nicht mehr um | |
politische Ziele und Leistungen, dann sei er halt „ein alter weißer Mann“ | |
und Vergangenheit, meint Palmer und macht sich über seine | |
frittiertenZwiebelringe her. | |
Die Preisfrage lautet: Haben auch Tübingerinnen und Tübinger genug von der | |
One-Man-Show und von Palmers Eskapaden? Möglicherweise ist die Stadt | |
darüber genauso gespalten wie die Grünen vor Ort. Denn mit gerade einmal 55 | |
Prozent hatte der grüne Stadtverband die langjährige Kommunalpolitikerin | |
Ulrike Baumgärtner zur Kandidatin gewählt. Palmer war mit dem Verweis auf | |
das laufende Parteiausschlussverfahren gar nicht erst zur Urwahl | |
angetreten. | |
Große Teile der grünen Gemeinderatsfraktion wie auch die Alternative Liste | |
– eine grüne Besonderheit in Tübingen – unterstützen den Amtsinhaber. Bo… | |
Palmer konnte für den Wahlkampf in kürzester Zeit mehr als 100.000 Euro | |
Kleinspenden einsammeln, davon können Geisel und Baumgärtner nur träumen. | |
Und viel Stadtprominenz wirbt auf den Plakaten für Palmer, darunter auch | |
die Notärztin Lisa Federle, [5][seit Corona der zweite Talkshowstar aus | |
Tübingen]. | |
## Alte Freundschaft, neue Konkurrenz | |
Andererseits hat nach einer so langen Amtszeit so mancher mit Palmer seine | |
Geschichte – auch Sofie Geisel, die SPD-Herausforderin, die mit ihm | |
befreundet ist, oder vielleicht eher war. Die beiden kennen sich seit | |
Geisels Studienzeit in Tübingen, als Palmer 1998 für den grünen | |
Bürgermeisterkandidaten Wahlkampf machte und sie für die SPD-Kandidatin, | |
die dann gewann. Palmer sagt, er hätte sich nie vorstellen können, gegen | |
eine Freundin anzutreten. Geisel sagt, ein Problem an Boris sei, dass er | |
nicht zwischen Persönlichem und Politik trenne. | |
„Palmer geht es am Ende immer nur um sich“, sagt einer am Wahlkampfstand | |
von Sofie Geisel, der mit Palmer für das Stadtbahnprojekt gekämpft hat. Mit | |
der neuen Straßenbahntrasse sollte der Pendelverkehr aus den | |
Umlandgemeinden zu den Arbeitsplätzen auf den Hügeln über Tübingen | |
verringert werden, doch die Schienen sollten mitten durch die historische | |
Altstadt führen. Der Unmut im Tübinger Bürgertum war groß, der | |
Bürgerentscheid ging verloren. | |
Es war Palmers größte kommunalpolitische Niederlage und wenn man ihm | |
glaubt, auch seine einzige. Nicht ohne seine eigene Schuld, sagen | |
Mitstreiter. Statt bis zur letzten Minute zu kämpfen, habe der | |
Oberbürgermeister zwei Wochen vor der Abstimmung öffentlich gesagt, der | |
Volksentscheid sei nicht mehr zu gewinnen. Palmer verlor, behielt aber | |
recht. Der Mann schüttelt den Kopf: „Am Ende geht es ihm halt immer ums | |
Rechthaben.“ | |
21 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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