| # taz.de -- Infrastruktur in Deutschland: Dezentralität schützt | |
| > Die Infrastruktur muss resilienter gegen Angriffe werden. Durch die | |
| > Digitalisierung sind die Gefahren und Schwachpunkte aber noch größer | |
| > geworden. | |
| Bild: Der Dezentralitätsgedanke wird leider häufig durch die Digitalisierung … | |
| Durch Deutschland führen über 33.000 Kilometer Schienen, und zwar in | |
| Betrieb befindliche. Zwischen Finnland und Deutschland verlaufen mehr als | |
| 1.000 Kilometer Starkstromkabel durch die Ostsee. Auf den Meeresböden | |
| dieser Welt liegen Seekabel mit einer Gesamtlänge von rund 1,3 Millionen | |
| Kilometern. Und selbst diese Schienen und Kabel sind nur ein Bruchteil | |
| dessen, was sich unter „Kritischer Infrastruktur“ zusammenfassen lässt. | |
| Es kommen Strom- und Gasleitungen dazu, Mobilfunkanlagen und Häfen, | |
| Krankenhäuser und Verwaltungen, Wasserrohre und Klärwerke. Was bei dieser | |
| notwendigerweise ebenfalls lückenhaften Aufzählung klar wird: [1][Es ist | |
| unmöglich, jedes Stück wichtiger und angreifbarer Infrastruktur so zu | |
| schützen, dass ein Ausfall ausgeschlossen ist]. Aber das ist auch nicht | |
| notwendig. Denn es gibt ein Konzept, dessen Name mit den Anschlägen auf die | |
| Gaspipeline in der Ostsee und auf neuralgische Punkte der | |
| Bahn-Infrastruktur in Deutschland die Runde gemacht hat: Resilienz. | |
| Resilienz ist ein Begriff, [2][den manche aus der Psychologie kennen]. | |
| Ursprünglich stammt er aber aus der Materialkunde und ist damit viel näher | |
| am Thema Infrastruktur, als es zunächst aussieht. Resilienz bedeutet, dass | |
| ein Material, nachdem es unter extreme Spannung gesetzt wurde, wieder in | |
| seine Ausgangsform zurückfindet. Im Alltag kennt man das von Gummi – etwa | |
| als Türdichtung oder Reifen. Es geht also um die Fähigkeit, Extremzustände | |
| – Krisen, Umbrüche, äußere Stressfaktoren – zu überstehen, ohne zerstö… | |
| werden. Und genau dieser Zustand ist es, in die Infrastruktur versetzt | |
| werden muss. | |
| Es gibt strukturelle Faktoren, die Resilienz begünstigen. Was Infrastruktur | |
| angeht, ist vor allem ein Punkt hilfreich: [3][Dezentralität.] Ein gutes | |
| Beispiel ist die Stromversorgung: Würde ein Land wie Deutschland von einem | |
| einzigen Kraftwerk versorgt und würde dieses Kraftwerk ausfallen, sei es | |
| durch Defekt, Anschlag oder Unwetter – die Folgen wären gigantisch. Basiert | |
| die Stromversorgung aber auf dezentralen Komponenten, wäre so ein Ausfall | |
| zum einen lokal und zum anderen deutlich einfacher abzufedern durch andere | |
| Erzeuger. Die Versorgung ist resilienter. Spätestens in diesem Zusammenhang | |
| wird klar, welchen Strukturvorteil die erneuerbaren Energien mitbringen, | |
| bei denen Dezentralität quasi systemimmanent ist. | |
| Nun gibt es eine Entwicklung, die den Dezentralitätsgedanken leider | |
| häufig konterkariert: die Digitalisierung. Der Befund ist erst einmal | |
| überraschend. Schließlich ist das Internet das Beispiel für Dezentralität. | |
| Nicht umsonst kommt das Wort Netz sowohl in „Internet“ als auch in „World | |
| Wide Web“ vor. Und ähnlich wie bei einem Spinnennetz, das noch | |
| funktionstüchtig ist, wenn ein Faden reißt, gilt auch beim Internet: Geht | |
| ein Kabel kaputt, ist eine Verbindung gestört, werden die Datenpakete eben | |
| über eine der unzähligen Alternativen geleitet. Im Grundgedanken des | |
| Internets ist also Dezentralität ähnlich systemimmanent wie bei | |
| erneuerbaren Energien. | |
| In der Umsetzung sieht das leider völlig anders aus. Denn politische und | |
| wirtschaftliche Interessen wirken häufig sehr erfolgreich auf | |
| Zentralisierung hin – und in der Konsequenz auf eine Schwächung der | |
| Resilienz. Ein Beispiel: Vor etwa einem Jahr fielen in Schweden praktisch | |
| sämtliche Supermarktkassen der zweitgrößten Handelskette des Landes aus. | |
| Kund:innen konnten nicht mehr bezahlen, weder bar noch mit Karte. Die | |
| Läden mussten schließen. Laut auf Cybersicherheit spezialisierten Firmen | |
| wurden bei dem Angriff mit Ransomware – Erpressersoftware – weltweit um die | |
| 1.000 Unternehmen lahmgelegt. | |
| Das grundsätzliche Problem: Viele Unternehmen greifen auf den gleichen | |
| IT-Dienstleister, die gleiche Software oder andere Komponenten digitaler | |
| Infrastruktur zurück. Für die Unternehmen ist das meist billiger, als | |
| eigene Lösungen zu entwickeln – und bequemer. Doch billiger, bequemer und | |
| vor allem lohnender kann es damit auch für Angreifer:innen sein, gerade | |
| wenn sie Zugriff auf eine ungestopfte Sicherheitslücke haben. Einmal | |
| angegriffen, sind viele Ziele getroffen. Es ist eine Zentralisierung, die | |
| in der Regel unsichtbar ist. Die aber, wenn etwas schiefgeht, die Folgen | |
| gleich mitskaliert. | |
| Ein Bereich, der bei der Diskussion in Deutschland zwischen Pipelines, Bahn | |
| und Stromversorgung bislang vernachlässigt wurde, ist der | |
| Gesundheitssektor. Grundsätzlich ist hier etwa die Versorgung durch die | |
| niedergelassenen Ärzt:innen dezentral: Fällt eine Praxis aus, sollten | |
| zumindest dringende Fälle bei anderen Ärzt:innen unterkommen. Nun wird | |
| diese Dezentralität aber von mehreren zentralen Ebenen überlagert – durch | |
| die Digitalisierung. | |
| ## Gefahr für die Gesundheitsversorgung | |
| Aktuelles Beispiel: das elektronische Rezept. Perspektivisch soll das für | |
| mehr Komfort für Ärztinnen, Apotheker und Patient:innen sorgen. Was es | |
| aber schon zu Beginn bietet: ein echtes Angriffsrisiko. Denn die | |
| elektronischen Rezepte werden zentral gespeichert. Bequem für | |
| Forscher:innen, denen der Chef der „Gematik“, der Gesellschaft, die hinter | |
| der Digitalisierung des Gesundheitssystems in Deutschland steckt, gerne | |
| Zugriff darauf geben möchte. | |
| Aber das ist schlecht in Sachen Resilienz: Gibt es Ausfälle in der | |
| IT-Infrastruktur, was durchaus schon passiert ist, und geschieht so ein | |
| Ausfall vielleicht während einer Pandemie, in der viele Patient:innen | |
| schnell Medikamente für die Behandlung benötigen – die Folgen wären | |
| drastisch. Resilienz wurde hier offensichtlich von Anfang an nur | |
| unzureichend berücksichtigt. | |
| Im Gesundheitssystem, wo die Digitalisierung noch verhältnismäßig am Anfang | |
| steht, ist es daher wichtig, schnell umzudenken – und umzuplanen. In | |
| anderen Bereichen wird angesichts der neu bewerteten Gefahrensituation nun | |
| mühevoll umgesteuert werden müssen. Denn es ist deutlich schwieriger, ein | |
| nicht resilientes System im Nachhinein auf Resilienz zu trimmen, als das | |
| Thema von vornherein mitzudenken. | |
| 21 Oct 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sabotage-im-Krieg/!5884176 | |
| [2] /Glueck-als-Ideologie/!5821920 | |
| [3] /Haftung-fuer-Rechtsverletzung-im-Internet/!5376346 | |
| ## AUTOREN | |
| Svenja Bergt | |
| ## TAGS | |
| Netzsicherheit | |
| Infrastruktur | |
| Banken | |
| Internet | |
| Infrastruktur | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Datensicherheit in der Finanzindustrie: Bafin warnt vor IT-Risiken | |
| Was könnte die Finanzbranche ins Wanken bringen? Die zuständige | |
| Aufsichtsbehörde setzt einen neuen Fokus. | |
| Netflix, Youtube, Amazon und Co: Wer zahlt fürs Netz? | |
| Videostreaming beansprucht viel Bandbreite. Sollen die Anbieter deshalb für | |
| den Netzausbau zahlen? Diese Debatte steht nun in der EU an. | |
| Von Notz zur kritischen Infrastruktur: „Wir haben ein Sicherheitsproblem“ | |
| Konstantin von Notz sorgt sich um die kritische Infrastruktur in | |
| Deutschland. Der Grüne fordert massive Investitionen in die | |
| Sicherheitsarchitektur. | |
| Sabotage im Krieg: Kritische Infrastruktur gefährdet? | |
| Der russische Invasionskrieg in der Ukraine trifft auch unsere | |
| Versorgungswege. Wie angreifbar sie sind? Die wichtigsten Fragen und | |
| Antworten. | |
| Öl- und Gasembargo gegen Russland: Nichts in der Pipeline | |
| Welche Folgen hätte ein Gasembargo für Russland? Laut Experten ist das | |
| sibirische Gas zumindest mittelfristig kaum auf anderen Märkten zu | |
| verkaufen. |