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# taz.de -- Die Kunst der Woche in Berlin: Wo die Natur zum Kriegsgebiet wird
> Explodierende Palmen von Erik Schmidt, politische Zeugnisse der 90er mit
> dem Künstlerinnenkollektiv fierce pussy und textile Bildräume von Anna
> Virnich.
Bild: Erik Schmidt, „No Crisis“, Series of drawings on Newspaper 2022
Eine Explosion folgt auf die andere und am Boden liegen die Geschosse, die
nicht hoch gegangen sind. Freilich, bei genauerem Hinsehen entpuppen sie
sich als mit Farbe überzogene Kokosnüsse. Ich bin in der großen lichten
Ausstellungshalle des [1][Kunstraums Potsdam – Waschhaus] am Boden, wo zur
Zeit die Einzelausstellung „Retreat“ von Erik Schmidt läuft. Was der Maler
explodieren zu sehen meint, sind entsprechend die Kronen der Palmen, in die
ich als Besucherin von unten den Stamm entlang hoch blicke.
Die großformatigen Gemälde haben ihren Ursprung in Sri Lanka, wohin Erik
Schmidt auf Einladung der [2][one world foundation] im Frühjahr 2022
reiste. Zurück in Berlin druckte er die Fotos der Palmen, die er dort
aufgenommen hatte, auf die Leinwand, wo er sie anschließend in seinem
Atelier übermalte. Und zwar in Impasto-Technik, wie man es von ihm kennt.
Indem er also die Farben teils extrem dick aufträgt, erzielt Schmidt mit
diesen, mit aggressivem Pinselstrich über die Leinwand versprengten
Farbbrocken, direkt den Eindruck der Explosion.
Dass der Künstler in der Natur das Kriegsgebiet sieht und in ihren Früchten
„Palm Bombs“, hat seinen Grund in den uns bekannten Zeitläuften. Nicht nur
erfolgte am 24. Februar der russische Einmarsch in die Ukraine, im März
begannen auch in Sri Lanka die Massenproteste aufgrund der katastrophalen
Wirtschaftslage, die sich über das ganze Land ausbreiteten. Für die Serie
der „No Crisis“-Zeichnungen löst [3][Erik Schmidt] einzelne Personen aus
der Menschenmenge heraus, die er in den Straßen begleitet und aufgenommen
hat, und porträtiert sie auf den Seiten der Zeitungen, die er täglich
liest.
Er entreißt die Menschen also nicht dem politischen Kontext, in dem sie
auftreten, sondern stellt sie direkt inmitten des aktuellen
Nachrichtenflusses. Diese politische Geistesgegenwärtigkeit ist ebenso
Charakteristikum von Erik Schmidts Werk wie seine Impasto-Signatur. Von
Retreat, also Rückzug und Ruhe, keine Spur. Auch nicht in Italien, im
Garten der Villa Massimo und im Bergdorf Olevano Romano, wo Schmidt in zwei
Videos, „Fine“ und „Inizio“, die Suche nach dem Paradies und dem Scheit…
thematisiert.
## Politik des Benennens und Benannt-Werdens
So sehr der Kunstraum Potsdam durch die wuchtige Pracht der Farben
definiert ist – der Versuchung, die Palmen in verfremdenden Farbtönen wie
Lila oder Pink zu malen widerstand Erik Schmidt, weil dann, wie er sagt,
vor allem Fragen der Malerei im Vordergrund gestanden hätten, der Verweis
auf die Pop art etwa – so karg, aber gleichermaßen durchschlagend ist die
Installation von fierce pussy bei [4][Between Bridges]. Das Künstlerinnen-
und Aktivistinnenkollektivs hat sich 1991 in New York gegründet, zu
Hoch-Zeiten der AIDS-Krise, inmitten eines Klimas der Homophobie, um der
Nichtsichtbarkeit lesbischen Begehrens und Lebens entgegen zu treten.
Mit Low-Tech-Mitteln wie Fotokopieren und Kleistern wandten sie sich nicht
nur an ihr eigenen lesbischen und queeren Communities, sondern an die
breite Öffentlichkeit und adressierten mit ihren Aktionen auch direkt
frauenfeindliche und homophobe Regierungs-/Politiker und Personen des
öffentlichen Lebens. Vier Gründungsmitglieder, Nancy Brook Brody, Joy
Episalla, Zoe Leonard und Carrie Yamaoka, arbeiten weiterhin zusammen und
sie haben für die Ausstellung zwei frühe Kampagnen, „List Posters“ und
„Family Pictures and Found Photos“, wieder aufgegriffen, beides
Auseinandersetzungen mit der Politik des Benennens und Benannt-Werdens.
Und so hängt nun ein großer „Lover of women“ überschriebener
Schwarzweißdruck an der Wand, der das Foto eines Kindes in gestreiften
Hosen und karierter Jacke zeigt, das einen Fotoapparat in Händen hält.
Ansonsten dominiert der grün glänzende Boden den Raum, in dem normierte
Transportkisten aus Plastik aufeinander gestapelt und verstreut sind. Sie
dienen als Sockel der 15 Multiples aus den letzten drei Jahrzehnten, mit
Schrift und/oder Fotos bedruckten Postern im Format Din A 3. „I am a lezzie
butch pervert girlfriend bulldagger sister dyke and proud!“ ist zu lesen
oder „I am a mannish muffdiver amazon feminist queer lesbian femme and
proud!“ oder „I am a stone butch androgyne femme tomboy girlfriend sapphic
deviant and proud!“
Für die Fensterfront konzipierte [5][fierce pussy] eine ortsspezifische
Installation, indem sie die Fenster mit einer deutschen Version der „List
Posters“ zusammen mit der englischen verkleisterten. Dass die Poster
mitgenommen, vervielfältigt und verbreitet werden können und sollen, ist
wesentlicher Zug dieser unangestrengten, dabei äußerst eindrücklichen
Wiederbegegnung mit dem Kunstaktivismus der 1990er Jahre.
Und nicht zuletzt der Erkenntnis, dass der Kampf längst nicht ausgefochten
ist, was es verständlich macht, dass die Ausstellung im größeren Rahmen der
von Viktor Neumann kuratierten fortlaufenden Serie „Theses On Hope“ steht.
Basierend auf der Auseinandersetzung des Performance-Künstlers José Esteban
Muñoz mit Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“, wird Hoffnung in der Reihe
als kritischer Affekt gesehen, gleichermaßen wie als Methode die Stimmung
eines politischen Pessimismus’ zu überwinden.
## Erweiterte Bildfindung
Vielleicht liegt es daran, dass ich zuletzt viel über Secondhandkleider und
Fast Fashion nachgedacht habe, plötzlich stoße ich im Kunstraum immer
wieder auf Textilien, und zwar gebrauchte, wobei deren Herkunft durchaus
ein wesentliches Moment des Werkes und seiner Narration ist. Jetzt ist es
also Anna Virnich bei [6][Robert Grunenberg]. Die neuen großformatigen
Arbeiten, die sie zeigt, argumentieren freilich ganz aus dem Material und
seiner Beschaffenheit heraus. Es interessiert nicht die Vorgeschichte,
sondern allein das so entstehende Bild.
Die Art der Textilien lädt den Bildraum emotional auf, wenn glänzende Seide
auf verblichenem Baumwollstoff und vergilbte Stockflecken trifft, oder
glattes monochromes Leder mit floralen Ornamenten kontrastiert während sich
gerüschter Taft über das Raster eines Karostoffes bauscht. [7][Virnich]
montiert, das heißt konkret näht die Stoffe ähnlich den Bildausschnitten in
einer Fotomontage zusammen, wobei ihr die Beschaffenheit der Stoffe ganz
andere Überlagerungen ermöglicht. Sie weisen ins Skulpturale und
Dreidimensionale, wenn unter Transparentstoff opakes Trikot Palimpsest
artig durchscheint.
Bislang waren diese Kompositionen abstrakter Natur. Doch ähnlich wie Erik
Schmidt, der lange nach Fotografien malte, bis er dann entschied auf
Fotografien zu malen, malt nun auch Anna Virnich mit Ölpastell auf den
Stoff, der ihr bislang ja die Malerfarbe und – im Fall der per Hand
geschaffenen Naht – den Zeichenstift ersetzte. Und so winden sich jetzt
auch mal Blütenranken über den Stoff. Die Figuration hält in den abstrakten
Bildraum Einzug und erweitert sehr reizvoll, materiell wie visuell, die
Möglichkeiten der Bildfindung.
20 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.waschhaus.de/kunstraum-potsdam/
[2] https://www.owf.at/
[3] https://www.erikschmidt.info/de/
[4] https://www.betweenbridges.net/
[5] https://fiercepussy.org/
[6] https://robertgrunenberg.com/exhibitions/
[7] https://drei.cologne/artists/anna-virnich/
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
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