# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie hat zwei Leben in einem | |
> Meera Ramesh wächst in Indien auf, sieht nach der Heirat die halbe Welt. | |
> Erst in Deutschland aber kann sie ihren Traum leben: Medizin studieren | |
Bild: Die Psychiaterin Meera Ramesh in ihrem Hamburger Wohnzimmer | |
Sie lebe immer noch ein bisschen wie eine Studentin, sagt die Psychiaterin | |
Meera Ramesh, als sie in ihrer kleinen Küche in Hamburg Kaffee aufbrüht. | |
„Aber es gefällt mir hier eben immer noch.“ | |
Draußen: Veilchenweg heißt die Bushaltestelle direkt vor dem Haus. Der Name | |
ist irreführend, denn Meera Ramesh wohnt an einer vielbefahrenen Straße in | |
Hamburgs Bezirk Eimsbüttel. Vor ihrem Küchenfenster ein Fußballplatz, | |
hinter Bäumen das Universitätsklinikum Eppendorf. Der Lärm störe sie nicht. | |
„Ich schlafe nach hinten raus“, sagt die 62-Jährige. Seit 2005 wohnt sie in | |
der Genossenschaftswohnung. | |
Drinnen: Zwei Zimmer bewohnt sie. Fotos von ihrer Familie, wohin man | |
blickt, Andenken aus aller Welt, auf einem kleinen buddhistischen Schrein | |
brennen Kerzen. Zeitungsausschnitte zeugen von ihrem alten Leben, mit | |
Chauffeur und mehreren Hausangestellten: sie im bunten Sari, als Frau des | |
indischen [1][Generalkonsuls in Hamburg]. Heute, 30 Jahre später, trägt sie | |
ein blaues Etuikleid und das schwarze, dicke und mit grauen Strähnen | |
durchzogene Haar als Zopf. | |
Herkunft: Sie wächst in [2][Kerala], einem Bundesstaat im Südwesten | |
Indiens, als älteste von drei Geschwistern auf. Die Kindheit beschreibt | |
Meera Ramesh als behütet, die Eltern als konservativ. Ihr Vater hat eine | |
Baufirma, die Mutter ist Hausfrau. Der größte Wunsch des Vaters: Eines der | |
Kinder soll Medizin studieren, ob Sohn oder Tochter, das ist ihm gleich. | |
Ärztin zu werden, das ist auch ihr Traum. Doch als sie 1975 im Alter von | |
fünfzehn Jahren die Schule beendet, entscheidet sie sich wegen der | |
Zulassungsbeschränkung für ein Bachelorstudium in Physik. „Ich habe das | |
gemacht, um möglichst viele Punkte zu holen für Medizin.“ Sie will in | |
Zukunft vor allem eins sein: selbstständig und unabhängig. | |
Die Ehe: Sie ist zwanzig, als ihre Mutter ihr sagt, dass ein junger Mann um | |
sie werbe. Sie wusste, dass die Eltern den Ehemann auswählen, doch sie | |
hatte gehofft, dass es noch dauert. Er ist zehn Jahre älter und Diplomat in | |
Portugal. „Meine Eltern wollten unbedingt, dass es klappt, für sie hat | |
alles gepasst, Familie, Bildung und Religion.“ Sie indes hofft, dass er | |
sagt, sie sei nicht gut genug. | |
Alles geht schnell: Ende April 1980 ist ihre letzte Prüfung an der Uni, im | |
Juni besuchen er und seine Familie die ihre – und willigen in die | |
Verbindung ein. Eine Woche später, am 23. Juni, heiratet das „Paar“. Der | |
Vater macht Druck, Verwandte sind gerade zu Besuch. Sie habe den Mann nett | |
gefunden, erinnert sie sich. „Er war sehr belesen. Damals habe ich mich ein | |
bisschen dumm gefühlt neben ihm.“ Sie will die Welt sehen, andere Kulturen | |
kennenlernen, in der Hochzeit mit einem Diplomaten sieht sie ihre Chance. | |
„Für mich wäre das als indische Frau alleine nie möglich gewesen.“ | |
In die Welt: Ihr Mann wird an die indische Botschaft in Brasilien versetzt, | |
sie ziehen in die Hauptstadt Brasilia. Ein Jahr später ist sie schwanger. | |
„Ich hatte furchtbares Heimweh und habe mich sehr verloren gefühlt, ich | |
sprach kein Wort Portugiesisch. Dauernd sollten wir Leute nach Hause | |
einladen, dabei hatte ich null Ahnung, wie man kocht, es war die Hölle.“ | |
Nach Hause telefonieren ist zu teuer, Briefe dauern zu lange. Als sie im | |
sechsten Monat ist, kehrt sie zu ihrer Familie zurück, allein. Ende Oktober | |
1981 kommt ihr Sohn zur Welt, bei ihren Eltern lernt sie Autofahren und | |
Kochen. „Ich war damals so unendlich glücklich, wieder zu Hause zu sein.“ | |
Wiedersehen: Als ihr Mann nach Indien kommt, hat sie ihn ein ganzes Jahr | |
nicht gesehen, seinen Sohn kennt er nur von Fotos. „Das war eine | |
finanzielle Sache, in drei Jahren stand Diplomaten nur eine Reise in die | |
Heimat zu.“ Ihr Mann hat Sorge, dass sie es nicht alleine schaffen mit dem | |
Kind in der Fremde, deshalb bleibt auch er von 1982 bis 1984 in Neu-Delhi. | |
Meera Ramesh denkt gerne an die Zeit zurück, ihre Eltern kommen oft, sie | |
beginnt, in einer Grundschule zu unterrichten. | |
Auf Reisen: Weil ihr Mann in Indien wenig verdient, gehen sie wieder auf | |
diplomatische Mission ins Ausland. Zuerst nach Mosambik. Dort lernt sie | |
Bridge spielen und reist viel, besonders Swasiland hat es ihr angetan. | |
„Alle anderen machten Urlaub in Südafrika, das war uns wegen der Apartheid | |
verboten.“ Wieder wird sie schwanger und auch ihr zweites Kind, ein | |
Mädchen, kommt in Indien zur Welt. Die nächste Station, auf die ihr Mann | |
geschickt wird, ist die österreichische Hauptstadt Wien. „Was für eine | |
prachtvolle Stadt, was für eine Kultur“, schwärmt Meera Ramesh. Sie | |
versucht in Kontakt zu kommen mit den Österreicher:innen. „Ich habe sogar | |
angefangen, Deutsch zu lernen, aber ich hatte das Gefühl, dass niemand mit | |
mir sprechen will.“ Was sie aber vom Leben eigentlich will, gerät | |
allmählich in Vergessenheit. „Ich war mit den Kindern beschäftigt, und | |
damit, Menschen zu treffen und Partys zu organisieren.“ | |
Konflikt: Als ihr Mann nach Bagdad versetzt wird, lehnt sie sich erstmals | |
auf. Damals ist der Krieg zwischen dem Irak und Iran gerade erst vorbei. | |
„Mit zwei Kindern gehe ich nicht dahin, habe ich zu ihm gesagt.“ Es sei der | |
erste große Streit des Paares gewesen, sagt sie. „Ich war wirklich dagegen. | |
Er hätte nein sagen können, aber er hat es nicht getan.“ Schließlich fügt | |
sie sich, ist vom Land und den Leuten positiv überrascht. „Wir wurden von | |
den Einheimischen sehr freundlich empfangen.“ | |
Krisen: 1990 stirbt ihr Vater. Nur drei Wochen nach der Hochzeit des | |
Bruders, der sich als Erster in der Familie die Frau selbst ausgesucht | |
hatte. Wenige Tage später greift der Irak Kuwait an, Inder:innen werden | |
evakuiert. Für die Trauerfeier ist sie mit den Kindern bei der Familie, | |
trotz der Golfkrise will sie zurück nach Bagdad. Das ist im August. Im | |
September gibt es eine klare Ansage der UN: Alle Familien müssen zurück. | |
Sie schickt die Kinder nach Indien und bleibt. Warum? „Ich wollte an der | |
Seite meines Mannes sein.“ Tagsüber kann man sich frei bewegen, nachts gibt | |
es Bombenalarm. Die Frage, ob sie Angst gehabt habe, verneint sie. „Ich war | |
immer ein mutiger Mensch, mein Mann war ängstlich, deshalb musste ich mutig | |
sein.“ Die Kinder kommen in Indien auf ein Internat. Dann stirbt Rameshs | |
Bruder bei einem Verkehrsunfall. „Das war absurd. Wir überleben den Krieg | |
und dann das. Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen.“ | |
Glücklich in Indien: Sie kehrt nach Neu-Delhi zurück, will bei ihrer Mutter | |
und ihrer Familie sein. Sie beginnt ein Fernstudium für Lehramt, macht ein | |
Praktikum ganz in der Nähe der Schule. „Damals waren wir alle zusammen, | |
meine Mutter war oft bei uns, das war ein gutes Leben.“ Drei Jahre bleibt | |
sie. „Damals habe ich meine Wurzeln gespürt, ich war so glücklich in | |
Indien.“ | |
Erneuter Aufbruch: Im Jahr 1996 zieht die Familie weiter, nach Deutschland, | |
Hamburg. „Ich fand Hamburg schon von oben wunderschön.“ Sie leben luxuriös | |
an der Außenalster. Sie ist 36 und hat endlich wieder etwas Zeit für sich, | |
fährt fort, Deutsch zu lernen, freundet sich mit anderen Inderinnen an. | |
Eine ist noch nach der Geburt des Sohnes Ärztin geworden. Alter spiele in | |
Deutschland keine Rolle, sagt die Freundin, sie solle sich bewerben, habe | |
nichts zu verlieren. Heimlich bewirbt sie sich für einen | |
Medizinstudienplatz – und bekommt ihn. Sie zweifelt, doch ihre damals | |
dreizehnjährige Tochter bestärkt sie, auch ihr Mann ist einverstanden. 440 | |
Stunden Deutschunterricht sind Voraussetzung für das Studium, sie büffelt | |
wie verrückt. Im Jahr 1999 kann sie das Studium beginnen; 2000 geht ihr | |
Mann mit der Tochter nach Tripolis in Libyen, seine nächste Stelle. In den | |
Semesterferien besucht sie die beiden. Der Sohn studiert inzwischen in | |
Australien. | |
Lehrjahre: Auf ihrem Schreibtisch steht ein Foto ihrer verstorbenen | |
Freundin Emma Erbst. Die ältere Dame lernt sie in dem Seniorenheim kennen, | |
in dem sie sich ehrenamtlich engagiert. „Sie war die Erste, der ich vom | |
Studienplatz erzählt habe. Sie hat sich riesig gefreut.“ Die ehemalige | |
Biologielehrerin beschafft ihr die Genossenschaftswohnung, unterstützt sie. | |
Als Meera Ramesh das Physikum besteht, weiß sie: Es soll so sein. Auch das | |
zweite Staatsexamen besteht sie. Sie entscheidet sich, in Deutschland zu | |
bleiben. „In Indien wäre ich belächelt worden, in meinem Alter, das wollte | |
ich mir nicht antun. Und an der Seite meines Mannes hätte ich nicht als | |
Ärztin arbeiten können.“ Ärztin zu sein, das erfülle sie mit Glück. | |
Ausblick: Ihre Kinder leben mittlerweile in den USA. Ihr Mann ist an Krebs | |
gestorben. Neben Indien sei Hamburg jetzt für sie eine Heimat geworden. | |
„Hier habe ich sogar Fahrradfahren gelernt“, sagt sie lachend. | |
19 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lea Schulze | |
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