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# taz.de -- Parlamentswahl in Lettland: Sieg, aber keine Mehrheit
> Das liberal-zentristische Bündnis von Regierungschef Krišjānis Kariņš
> wird stärkste Kraft. Aber für eine Koalition braucht es Partner.
Bild: Krišjānis Kariņš hat gute Chancen, Lettland auch weiterhin zu regieren
Berlin taz | Lettlands Regierungschef Krišjānis Kariņš hat gute Chancen,
seine Regierungsarbeit fortzusetzen: Bei der Parlamentswahl am Samstag kam
sein liberal-zentristisches Wahlbündnis „Neue Einigkeit/Einheit“ (JV) auf
18,9 Prozent der Stimmen. Zweitstärkste Kraft wird die Union der Grünen und
Bauern, (12,6 Prozent), gefolgt von dem neuen Wahlbündnis „Vereinigte
Liste“ mit 11 Prozent.
Die nationalkonservative Nationale Allianz landete bei 9,3 Prozent. Auch
eine linke Kraft wird im Parlament vertreten sein: die „Progressiven“
erreichten 6,16 Prozent der Stimmen. Die erst 2021 gegründete
euroskeptische Partei Für Stabilität (S!), die sich als
Interessenvertreterin der russischen Minderheiten versteht, holte auf
Anhieb 6,8 Prozent der Stimmen. Auch die konservative Gruppierung „Lettland
an erster Stelle“ (6,24 Prozent) nahm die Fünfprozenthürde und zieht ins
Parlament ein.
Insgesamt hatten sich 19 Parteien bzw. Bündnisse um die 100 Sitze in der
Saeima beworben. Die Wahlbeteiligung in dem baltischen Staat mit knapp zwei
Millionen Einwohner*innen – ein Viertel davon ist russischstämmig – lag
mit 59 Prozent um 5,4 Prozent höher als im Jahr 2018. „Mit Kariņš verbinden
die Lett*innen Stabilität und Sicherheit“, kommentierte die Politologin
Lelde Metla-Rozentāle den Wahlsieg in Lettland gegenüber dem baltischen
Nachrichtenportal Delfi.
Der große Verlierer dieser Wahl ist die pro-russische sozialdemokratische
Partei „Harmonie“ (SDPS). Die Partei, die bei der Wahl 2018 mit 19,9
Prozent stärkste Kraft geworden war und Russlands Angriffskrieg gegen die
Ukraine als völkerrechtswidrig verurteilt hatte, scheiterte mit 4,8 Prozent
an der Fünfprozenthürde.
## Krieg als Wendepunkt
Das schlechte Abschneiden der SDPS dürfte vor allem mit dem Ukraine-Krieg
zu tun haben – neben der Energiekrise und einer Inflation von 21,5 Prozent
eines der zentralen Themen dieses Wahlkampfes. Laut Martinscha Kapransa,
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Soziologie
der Lettischen Universität, sei der Ukraine-Krieg für die russischsprachige
Wähler*innenschaft zu einem Wendepunkt geworden.
Der Krieg habe zu einer Fragmentierung und nicht zu einer Konsolidierung
dieser Gruppe geführt. „Die SDPS hat die russischsprachigen Lett*innen
immer konsolidiert. Doch in diesem Jahr haben wir zum ersten Mal gesehen,
dass dieses Auditorium ein unterschiedliches politisches Verhalten an den
Tag legt“, sagte sie gegenüber Delfi.
Der lettische Politikwissenschaftler Janis Ikstens glaubt eine
Radikalisierung innerhalb des russischsprachigen Teils der lettischen
Gesellschaft zu beobachten. Das sei ein ernsthaftes Problem. „Hier wäre
eine aktive Integrationspolitik vonnöten, aber der gegenwärtige
Kulturminister ist dazu nicht in der Lage“, zitiert ihn das
Nachrichtenportal Delfi.
Diese Radikalisierung dürfte auch durch die Politik von Regierungschef
Krišjānis Kariņš befördert worden sein. Kariņš, der die lettische und
US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, und seine Koalitionspartner
positionieren sich eindeutig an der Seite der Ukraine. Riga unterstützt
Kiew mit Waffen, trägt die EU-Sanktionen gegen Russland mit und hat über
40.000 ukrainische Geflüchtete aufgenommen.
## Wehrpflicht wieder eingeführt
Zudem hat die Regierung die Ausgaben für die Verteidigung erhöht und ab
2023 die Wehrpflicht wieder eingeführt. Tausende Russen, die seit der von
Präsident Wladimir Putin am 21. September verkündeten Teilmobilmachung ihre
Heimat fluchtartig verlassen, erhalten in Lettland kein politisches Asyl.
Seit mehreren Monaten sind alle russischen TV-Sender in Lettland gesperrt.
Auch um die Erinnerungskultur ist ein Kampf entbrannt. Im August wurde ein
sowjetisches Denkmalensemble mit einem 79 Meter hohen Obelisken in Riga
abgebaut. Die Gedenkstätte war 1985 zum 40. Jahrestag des Sieges der UdSSR
über Nazideutschland errichtet worden. Alljährlich hatten sich hier am 9.
Mai, dem Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, tausende
Russ*innen zu einer Gedenkveranstaltung eingefunden.
Bereits in der Wahlnacht hatte Krišjānis Kariņš klare Ansagen gemacht. Er
schließe jede Zusammenarbeit mit pro-russischen Parteien aus, sagte Kariņš.
Expert*innen gehen davon aus, dass die drei politischen Kräfte JV, die
Nationale Allianz und das Wahlbündnis Vereinigte Liste eine Koalition
bilden werden. Jedoch braucht es einen vierten Partner, um die nötige
Regierungsmehrheit zu erreichen. Die Verhandlungen dürften schwierig
werden, heißt es in Riga.
2 Oct 2022
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
## TAGS
Lettland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Riga
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Baltikum
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