# taz.de -- Energiekrise: Die Fracking-Frage, zweite Runde | |
> Eigentlich schien die Sache erledigt, doch plötzlich fällt auch in | |
> Deutschland das Wort Fracking wieder auffallend häufig. Vor allem bei der | |
> FDP. | |
Bild: Eingang der stillgelegten Anlage: Die Frackingbohrungen in Little Plumpto… | |
BERLIN/LITTLE PLUMPTON taz | Wie die Frackingindustrie in Großbritannien | |
erst aufstieg und dann verschwand, das konnte Susan Holliday quasi von | |
ihrem Wohnzimmerfenster aus beobachten – und spüren. Wenige Hundert Meter | |
von ihrem Haus im nordwestenglischen Dorf Little Plumpton entfernt ragt | |
heute die letzte betriebsbereite britische Frackingbohrstelle aus dem | |
Boden. | |
Als sie und ihr Mann Mitte der nuller Jahre nach Lancashire zogen, hätten | |
sie sich auf den Ruhestand und unaufregende Zeiten gefreut, erzählt die | |
frühere Versicherungsmaklerin. Doch die Ruhe hielt nur wenige Jahre, dann | |
musste sie zusehen, wie Arbeiter auf eine Wiese gegenüber ihrem Haus einen | |
Bohrturm und eine Gasfackel bauten. | |
Was dann geschah, bezeichnet Holliday heute als Albtraum: Die | |
Frackingbohrungen lösten in den Jahren 2018 und 2019 Hunderte kleinere | |
Erdbeben in Little Plumpton aus. „Wir waren in unserer Küche und hörten | |
plötzlich, wie in den Schränken die Töpfe und Gläser hin und her | |
klapperten. Das war ziemlich beängstigend“, erzählt sie. Die Messgeräte des | |
Britischen Geologischen Dienstes zeichneten schließlich ein Beben der | |
Stärke 2,9 auf. Es war so heftig, dass die britische Regierung beschloss, | |
nach mehr als einem Jahrzehnt das Fracking im gesamten Land einzustellen. | |
Zur Methode: Beim [1][Fracking] wird mit hohem Druck ein Cocktail aus | |
Wasser und Chemikalien in den Boden gepresst. Aus den entstehenden Rissen | |
im Stein soll das Gas entweichen. Das Verfahren kann, abgesehen von | |
Erdbeben, weitere schwerwiegende Folgen haben. Unlängst dokumentierte eine | |
Studie, dass Menschen in der Nähe von Frackingbohrstellen einem höheren | |
Risiko ausgesetzt sind, an schweren Krankheiten wie etwa Leukämie zu | |
erkranken. Ein Report aus dem Jahr 2019 stellt zudem fest, dass Fracking in | |
Nordamerika in den vergangenen zehn Jahren „zu mehr als der Hälfte aller | |
weltweit gestiegenen Emissionen aus fossilen Brennstoffen beigetragen haben | |
könnte“. | |
## Russlands Angriffskrieg eröffnet neue Frackingdebatte | |
Nach und nach verbannten europäische Staaten diese Gasförder-Methode: | |
Frankreich (2011), Bulgarien und Dänemark (2012), Niederlande (2015), | |
Deutschland (2017) sowie Großbritannien im Jahr 2019. Fracking war | |
gescheitert. | |
Doch plötzlich rückt die Technologie wieder in die Debatten um Gasgewinnung | |
– angesichts der akuten Energiekrise in Europa. Im Boden der europäischen | |
Staaten sollen nach Schätzungen etwa 14 Billionen Kubikmeter Schiefergas | |
ruhen. In Deutschland fällt die FDP mit Forderungen zur Förderung auf – | |
deren Vorsitzender Christian Lindner sagte zuletzt, Gasvorkommen in | |
Deutschland „müssen erschlossen werden“, auch mittels Fracking. „Da, wo … | |
vertretbar ist“, schränkt er ein – doch wo ist das? Der energiepolitische | |
Sprecher der FDP, Michael Kruse, äußerte sich im Gespräch mit Investigate | |
Europe überzeugt: „Mit Schiefergasförderung in Deutschland könnten wir | |
unsere Energiesouveränität steigern.“ | |
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar | |
sind die russischen Gaslieferungen um 75 Prozent zurückgegangen. | |
Stattdessen importieren europäische Staaten nun dreimal so viel Gas aus den | |
USA wie vor Kriegsbeginn – darunter auch solches, das per Fracking gewonnen | |
wurde. [2][Gas auf diese Weise in Deutschland zu fördern], sei 20 Prozent | |
sauberer, als es aus den USA zu importieren, argumentiert Kruse. „Wenn wir | |
dieses Erdgas mit möglichst geringen Umwelt- und Klimaauswirkungen in | |
Deutschland fördern können, dann besteht darin sogar eine Chance, die | |
Klimabilanz des verwendeten Erdgases in Deutschland zu verbessern.“ | |
Diese Behauptung weist Werner Zittel klar zurück. Der Energieexperte, der | |
2016 ein umfassendes Buch zu Fracking veröffentlichte, ist sich sicher: | |
Würde in Deutschland gefrackt, drohe „die Verwüstung ganzer Landstriche“. | |
Denn, so rechnet Zittel in einer E-Mail an Investigate Europe vor: Um nur 1 | |
Prozent des deutschen Gasbedarfs mit Fracking in Deutschland zu decken, | |
müssten jedes Jahr zwischen 180 und 240 neue Bohrungen durchgeführt werden. | |
Unter dem „ginge die Fördermenge sofort zurück“, schreibt Zittel. Im dicht | |
besiedelten Deutschland sei industrielles Fracking daher „Unsinn“. | |
Auch die Koalitionspartner der frackingbegeisterten FDP haben andere | |
Vorstellungen: „Eine Aufhebung des Frackingverbots kommt nicht in | |
Betracht“, sagt die energiepolitische Sprecherin der | |
SPD-Bundestagsfraktion, Nina Scheer, auf Anfrage. Klimaschutz und der | |
Aufbau neuer Technologien „verlangen, Investitionen in den Ausbau | |
erneuerbarer Energien zu konzentrieren“. Ähnlich kritisch äußern sich die | |
Grünen. Das im vergangenen Jahr verabschiedete Klimaschutzgesetz sieht vor, | |
dass Deutschland bis 2045 klimaneutral werden muss. „Investitionen in neue | |
Frackingbohrungen, die Investoren dann viele Jahre lang nutzen wollen, | |
erschweren das Erreichen dieser Ziele“, sagt die stellvertretende | |
Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Ingrid Nestle. | |
Um die Chancen und Gefahren der Frackingtechnologie einschätzen zu können, | |
hatte die Bundesregierung eine Expertenkommission eingesetzt. Deren | |
Leiterin, die Potsdamer Geophysikerin Charlotte Krawczyk, sagt mit Bezug | |
auf die jüngste Entwicklung: „Fracking kann keine kurzfristige Lösung für | |
die Energiekrise sein.“ Bevor Deutschland mit dem Fracking beginnen könne, | |
würde es drei Jahre dauern. Denn: „Wir müssten die Wassergesetze ändern, | |
den Unternehmen die Möglichkeit geben, Konzessionen zu beantragen sowie | |
alle öffentlichen und nichtstaatlichen Stellen einbeziehen.“ Da Deutschland | |
dichter besiedelt ist als die USA, gebe es zudem weniger Gebiete, in denen | |
Bohrungen durchgeführt werden könnten. Auch müsste genau überwacht werden, | |
ob Fracking Wasser verschmutze oder das stark klimawirksame Methan | |
austrete. | |
Die Frackingrufe der Liberalen stoßen in Deutschland also auf breite | |
Ablehnung von Experten und Koalitionspartnern. In Großbritannien hingegen | |
kündigte die neue Premierministerin Liz Truss kurz nach Amtsantritt an, das | |
Verbot dieser Art der Gasgewinnung aufzuheben. Dadurch könne „schon in | |
sechs Monaten Gas gefördert werden“, sagte Truss. Damit widersprach sie der | |
Einschätzung ihres Vorgängers Boris Johnson, dass ein solcher Schritt die | |
Energiekrise nicht lösen würde. | |
Britische Behörden beginnen nun, eine mögliche Fracking-Renaissance | |
vorzubereiten. Eigentlich hätte das Bohrloch vor Susan Hollidays Haus in | |
diesem Sommer verschlossen werden müssen, da es jahrelang nicht genutzt | |
wurde. Doch jetzt warfen örtliche Behörden ihre Pläne um. Der frühere | |
Betreiber der Bohrlöcher, Cuadrilla Resources, müsse zudem keine neue | |
Umweltverträglichkeitsprüfung vorlegen, wenn der Betrieb wieder aufgenommen | |
wird. Geschäftsführer Francis Eagan frohlockt in einem Statement: „Es gibt | |
Billionen Kubikmeter Schiefergas unter unseren Füßen, hier in | |
Großbritannien, die nur darauf warten, angezapft und von britischen | |
Haushalten genutzt zu werden. Wenn wir die Erlaubnis bekämen, es zu | |
fördern, könnten wir sicherstellen, dass Großbritannien für Jahrzehnte | |
Energiesicherheit hat.“ | |
Um Anwohner für seine Pläne zu gewinnen, bietet Eagan betroffenen Gemeinden | |
an, ihnen Dividenden zu zahlen, in Höhe von 285 Millionen Pfund (335 | |
Millionen Euro). „Das ist reine Bestechung“, sagt Holliday. „Gesundheit u… | |
Seelenfrieden kann man nicht kaufen.“ Sie wolle sich weiterhin gegen das | |
Unternehmen stellen. | |
Auch die britische Aktivistin Claire Stephenson will gegen Cuadrilla | |
kämpfen. „Ich finde es widerlich, dass die Leute die Ukrainekrise als | |
Sprungbrett benutzt haben, um Fracking wieder auf die Tagesordnung zu | |
setzen“, sagt Stephenson. Die zahlreichen Versuche von Cuadrilla, in Little | |
Plumpton Fracking zu betreiben, seien allesamt gescheitert. „Sie haben Geld | |
in ein dreckiges Loch gesteckt und nicht einmal genug Gas gefördert, um | |
einen Grill anzuzünden, geschweige denn eine Gemeinde mit Strom zu | |
versorgen.“ | |
Ungarn: „Investition mit hoher Priorität“ | |
Erster Frackingkandidat in Europa könnte übrigens noch jemand anderes | |
werden: Die ungarische Regierung hat weitgehend unbeachtet bereits eigene | |
Förderpläne verabschiedet – nicht ohne Seitenhieb gegen die EU. Im Sommer | |
präsentierte Premier Viktor Orbán ein Paket, um in seinem Land mehr Gas zu | |
produzieren und die „durch die fehlgeleiteten Sanktionen Brüssels | |
verursachte Energiekrise zu mildern“. | |
Teil des Pakets ist eine Frackingstrategie, mit der schon bald in der | |
östlichen Region Békés Gas aus dem Gestein gesprengt und gefördert werden | |
soll. Das Projekt bekam unmittelbar den Status einer „Investition mit hoher | |
Priorität“. Im Schnellverfahren soll es genehmigt werden, damit, so die | |
Hoffnung der Orbán-Regierung, bereits ab Januar 2023 Gas gefrackt werden | |
könnte. | |
10 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Nico Schmidt | |
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