# taz.de -- Umgang mit explodierenden Strompreisen: Weg mit den Übergewinnen | |
> Die exorbitanten Strompreise bescheren den Energieunternehmen | |
> leistungslose Extraprofite. Dieses Marktversagen ist seit 200 Jahren | |
> bekannt. | |
Bild: Autofreier Sonntag in den Niederlanden 1973 | |
Die aktuellen Extrempreise beim Strom wirken völlig neu, doch tatsächlich | |
ist das Grundprinzip schon seit 200 Jahren bekannt. Allerdings ging es | |
damals nicht um Elektrizität, sondern um Lebensmittel. | |
Anfang des 19. Jahrhunderts überlegten die beiden englischen Ökonomen | |
Thomas Malthus und David Ricardo, was wohl passieren würde, wenn die | |
britische Bevölkerung ständig anwüchse. Der Ausblick des Freundespaares war | |
düster. Malthus hatte nämlich beobachtet, dass sich die vielen Menschen nur | |
ernähren ließen, wenn auch schlechte Böden bewirtschaftet wurden. Diese | |
minderwertigen Felder erforderten jedoch mehr Arbeit und erbrachten eine | |
geringere Ernte, weswegen der Getreidepreis deutlich steigen musste, damit | |
sich der Anbau lohnte. | |
Die Nahrungsmittel wurden also für alle Kunden teurer, während gleichzeitig | |
jeder Landbesitzer diesen erhöhten Getreidepreis kassierte – auch die | |
Eigentümer der besten Böden, die mit wenig Aufwand große Ernten einfahren | |
konnten. Die Besitzer dieser produktiven Felder erhielten also ein | |
leistungsloses Zusatzeinkommen, das Malthus „Grundrente“ nannte. | |
Genau diese Art der „Rente“ kassieren jetzt viele Stromanbieter. Der Preis | |
für Elektrizität klettert in bisher unbekannte Höhen, weil ein Teil des | |
Stroms mit Gaskraftwerken produziert wird. Gas aber ist sehr teuer, seitdem | |
Russland seine Pipelines geschlossen hat. Also laufen die Gaskraftwerke | |
nur, wenn der Strompreis noch höher liegt. Von diesen hohen Preisen | |
profitieren aber auch Kohlekraftwerke oder Windparkbesitzer, obwohl ihre | |
Kosten viel niedriger liegen. Wie einst die Bauern in Großbritannien fahren | |
sie ein leistungsloses Einkommen ein. | |
Für die beiden erzliberalen Ökonomen Malthus und Ricardo war es völlig | |
undenkbar[1][, dass der Staat in den Markt eingreifen] und die | |
leistungslosen Einkommen wieder absaugen könnte. Stattdessen ging Ricardo | |
so weit, dass er den baldigen Untergang des Kapitalismus vorhersagte. Er | |
erwartete, dass der Feudalismus zurückkehren würde, weil durch die | |
Nahrungsknappheit sämtliches Geld an den landbesitzenden Hochadel fließen | |
würde. | |
Diese Prognose erwies sich als falsch. Die Industrialisierung setzte sich | |
ungebremst fort, und zugleich blieben die Preise der Grundnahrungsmittel | |
stabil, obwohl sich die britische Bevölkerung zwischen 1811 und 1841 von | |
12,5 auf 26,7 Millionen verdoppelte. Malthus und Ricardo hatten die | |
Leistungsfähigkeit der britischen Landwirtschaft unterschätzt, die | |
permanent produktiver wurde. | |
Trotzdem sollte man sich nicht über Malthus und Ricardo lustig machen. Denn | |
als Erste haben sie akkurat beschrieben, dass Märkte versagen, sobald es zu | |
Knappheiten bei existenziellen Gütern kommt. Menschen müssen essen – sodass | |
jeder Preis gezahlt wird, wenn Nahrungsmittel rar werden. Gleiches gilt für | |
Energie. Natürlich lässt sich Strom sparen, aber ganz ohne Strom geht es | |
nicht, weswegen er jetzt absurd teuer wird. | |
Daher führt es in die Irre, das Geschehen auf den Energiemärkten mit Ebay | |
zu vergleichen. Niemand ist gezwungen, eine Schrankwand oder eine Jeans bei | |
den Online-Auktionen zu ersteigern. Aber eine Gasheizung muss im Winter | |
laufen. | |
Auch bringt es nicht weiter, darauf zu verweisen, dass immer gewisse | |
„Renten“ zu verzeichnen sind. Zum Beispiel gibt es sehr ertragreiche | |
Ölfelder, vor allem im Nahen Osten, während Fracking ziemlich aufwendig ist | |
– weswegen die Saudis an einem Barrel Öl mehr verdienen als ihre | |
US-amerikanischen Konkurrenten. | |
Diese kleinen Unterschiede stören nicht weiter und gehören zum normalen | |
Marktgeschehen. Aber dieser Normalzustand ist derzeit vorbei: Im | |
vergangenen Monat haben sich die Preise an der Strombörse verdreifacht. Das | |
ist völlig neu, zumindest in Friedenszeiten. | |
Wie ungewöhnlich die jetzige Gas- und Stromnot ist, macht ein Vergleich mit | |
der Ölkrise 1973 deutlich. In die kollektive Erinnerung hat sich ein | |
markantes Bild eingebrannt: die leeren Autobahnen. An vier Sonntagen vor | |
Weihnachten galt ein generelles Fahrverbot, um Erdöl einzusparen. In einer | |
Fernsehansprache hatte Kanzler Brandt die Nation auf diese drastische | |
Maßnahme eingestimmt: „Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wird sich … | |
unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln … Die junge Generation erlebt | |
zum ersten Mal, was ein gewisser Mangel bedeuten kann.“ | |
Nicht nur in Westdeutschland standen die Autos still; auch in Belgien, | |
Dänemark, Italien, den Niederlanden und Norwegen wurden generelle | |
Fahrverbote verhängt. Die Medien fragten alarmiert: „Gehen in Europa die | |
Lichter aus?“ | |
Doch in Wahrheit war es gar nicht so schlimm. Die arabischen Ölländer | |
hatten zwar offiziell angekündigt, dass sie ihre Förderung verknappen | |
würden, um den Westen zu zwingen, im Jom-Kippur-Krieg seine | |
„israelfreundliche“ Politik aufzugeben. Aber tatsächlich wurden die | |
Öllieferungen sogar erhöht. Während in Westeuropa die Autos sonntags in den | |
Garagen bleiben mussten, wurden in den arabischen Häfen bis zu 44 Prozent | |
mehr Rohöl verschifft als noch im Vorjahr. | |
Das ist heute anders. Erstmals sinken die verfügbaren Energiemengen, weil | |
Russland als Lieferant weitgehend ausfällt. Dafür gibt es kein Vorbild in | |
Friedenszeiten, was auch erklärt, warum die Debatten in Deutschland und in | |
der EU so chaotisch sind. | |
Aber klar ist: Leistungslose „Renten“ sind nicht zu tolerieren. Es geht | |
nicht, dass die Stromanbieter gigantisch profitieren, [2][während der Rest | |
des Landes in Not gerät]. Elegant wäre [3][eine Übergewinnsteuer], die die | |
Renten wieder abschöpft – und an die Bedürftigen umverteilt. Die beiden | |
Erzliberalen Malthus und Ricardo hätten sich eine solche Lösung niemals | |
vorstellen können, und dennoch haben sie vor 200 Jahren die theoretische | |
Analyse dafür geliefert. | |
2 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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