# taz.de -- Politik geht durch den Magen: Am besten wieder aufgewärmt | |
> Zur Landtagswahl ein Hoch auf die niedersächsische Küche. Und eine Tour | |
> d'Horizon durch ihre Niederungen im Alltag zwischen Göttingen und | |
> Friesland. | |
Bild: Grünkohl für alle! | |
Man könnte, wenn man angesichts der Wahl zum niedersächsischen Landtag über | |
die niedersächsische Küche schreiben soll, in der Kantine des Parlaments in | |
der Landeshauptstadt … äh, äh, wie heißt sie noch, ach ja, Hannover, | |
beginnen. Der Name war mir kurz entfallen, selbst als Niedersachse kennt | |
man diese Stadt nur als Bahnhof, weil man ab und zu mal durchfährt, dann | |
aber nur vom einen in den anderen Zug wechselt, „am selben Bahnsteig | |
gegenüber“. | |
Als Stadt, als Hauptstadt gar nimmt man Hannover bis auf einige | |
brutalistische Turmbauten, die am Rande der Gleise über die | |
Bahnsteigbedachungen lugen, kaum wahr, trotz der bundespolitischen | |
Bedeutung als Talentschmiede für die Berliner Republik; allen voran | |
Schröder, Wulff – verblichen in ihrer Bedeutung – und Steinmeier, jüngst | |
auch Baerbock, die aus dem kommunalen Kunstgefüge „Region Hannover“ stammt. | |
Dass eine Hauptstadt so wenig gilt in einem Bundesland, hat viel mit der | |
historisch bedingten Zerrissenheit des Landes zu tun. | |
Niedersachsen ist ein Kunstgebilde, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg | |
auf Basis der selbstständigen Entitäten Land Hannover und den Freistaaten | |
Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe; vormaligen Fürstentümern, | |
deren Kleinstaatenstolz bis heute spürbar ist. In Braunschweig etwa haben | |
sie ihr Schloss wiederaufgebaut – wenn auch als Hülle einer traurigen | |
Shopping-Mall –, [1][Schaumburg-Lippe] existiert in Klatschmagazinen noch | |
als Fürstentum, und in Oldenburg gab es noch am 19. Januar 1975 einen | |
Volksentscheid über die Wiederherstellung der Selbstständigkeit des Landes. | |
31 Prozent der Wahlberechtigten stimmten dafür, 25 Prozent wären nötig | |
gewesen. Der Deutsche Bundestag aber lehnte das Ansinnen dann doch ab. | |
## Die Landtagskantine mit desorientiertem Menü | |
Was also soll dieses Land zusammenhalten, wenn nicht eine Esskultur, die | |
sich über innere Grenzen hinweg ausgebildet hat? Es müsste die | |
[2][Landtagskantine] im Leineschloss der Ort sein, der aus verschiedenen | |
Produkten von Feld, Wald und Wiese – zumeist aber wohl aus Ställen, in | |
denen hier sehr viel Viehzeug ein trauriges Dasein fristet – das formt, was | |
Niedersachsens Leiber und Mägen füllt, vor allem die der MdLs, die zu den | |
Parlamentssitzungen aus fernen Regionen anreisen. Ostfriesland mit seinen | |
Inseln, das Emsland und Südoldenburg – kulturell beides tiefstes Bayern –, | |
die Grafschaft Bentheim und die südniedersächsischen Wälder. | |
Also, die Landtagskantine, was hat sie zu bieten? Nichts genuin | |
Niedersächsisches, das wäre irgendwas mit Fleisch und Kartoffeln, wobei am | |
Montag, 26. 9. 22, auch „Herzhafter Eintopf aus Kartoffeln und Gemüse, | |
frischer Majoran, Würstchen“ auf dem Speisenplan stand. Ansonsten: | |
„Mexikanischer Bohnen-Mais-Salat mit Nachos, Ei und Salsadressing“, „Taji… | |
mit Gewürz-Cous Cous dazu Kürbis, geschmorte Zwiebeln und Koreander“ und | |
„Boeuf la motte Wurzelgemüse Herzoginkartoffeln“, sogar DDR-Letscho. | |
Bestimmt alles sehr lecker – aber irgendwie auch desorientiert, von überall | |
etwas. Aber irgendwas Eigenständiges muss es doch geben. Also: hinaus ins | |
weite Land. | |
Was auffällt: Jeder Ort hat seinen Griechen. Das könnte daran liegen, dass | |
Göttingen, die Universitätsstadt im südöstlichen Zipfel, das Weltzentrum | |
des elektrisch betriebenen Gyros-Drehspießes ist. Panagiotis Tsolkas, ein | |
unglaublich netter, lebensfroher Grieche, betrieb dort früh zwei | |
Restaurants, die er nach seinem Vornamen benannte: [3][Potis]. Bald kam er | |
auf die Idee, Spießanlagen in Serie zu produzieren. Heute drehen sie sich | |
beinahe überall dort, wo es Gyros oder Döner gibt. Göttingen als | |
Drehspieß-Zentrale, drum herum haben sich folglich in konzentrischen | |
Kreisen griechische Restaurants ausgebreitet. Selbst im tiefsten Ammerland | |
findet jeder sein „Athen“, „Olymp“, „Zeus“. | |
## Oldenburger Grünkohl „lohnt einen Umweg“ | |
„Der Grieche“ halt, Fleisch und Kartoffeln, so was mag „der Niedersachse�… | |
Und er ist flexibel genug, es auch in anderer Form als ursprünglich zu sich | |
zu nehmen. Deftig muss es zugehen, die Kartoffel wird geschätzt, manchmal | |
fehlen Alternativen, und dann beneidet man Leute im Süden, die Spätzle mit | |
Linsen und Bockwurst kombinieren. | |
Am ehesten läßt sich Niedersachsen essensmäßig als Buffet beschreiben. | |
Lauter lokale Gerichte, liebevoll arrangiert. Bestes Beispiel: Oldenburger | |
Grünkohl. Der Baedeker-Reiseführerverlag würde ihn mit der Kategorie „Lohnt | |
einen Umweg“ oder gar „Ist eine Reise wert“ klassifizieren. Gerupft, mit | |
Schmalz, Salz, Pfeffer, Muskat, Hafergrütze und dem Inhalt einer Wurst | |
namens Pinkel gekocht, am besten noch mal aufgewärmt, dazu gibt es noch | |
mehr Pinkel, Kochwurst, Kassler-Senf und natürlich Kartoffeln. Dass es | |
dieses Gericht nur im Nordwesten gibt, ist der Beweis für die | |
Wirkmächtigkeit alter Grenzen, die in Niedersachsen immer noch verlaufen – | |
mitunter findet man [4][noch alte Steine,] die die Grenze zwischen dem | |
Königreich Hannover und dem Großherzogtum Oldenburg kennzeichnen. | |
Weitere Buffet-Elemente: Zungenragout aus Hannover, ein Gericht, das aus | |
Fleisch, anderem Fleisch und noch anderem Fleisch besteht: Rinderzunge, | |
Fleischbällchen, Wurststückchen („Saucischen“). Krabben auf Schwarzbrot u… | |
Matjes im Brötchen an der Küste. Pökelfleisch in Ostfriesland, das ist in | |
Salz haltbar gemachtes Rindfleisch, langsam gekocht, serviert mit | |
Buttersauce und Dittjes un Dattjes, kalten Beilagen wie eingelegtem Kürbis, | |
Roter Beete, Bohnen gibt es dazu (und Kartoffeln). Lamm aus der Lüneburger | |
Heide. Als Getränke Bier, Korn (der überall getrunken wird), Schwarzer Tee | |
wie in Ostfriesland mit Sahne und dicken Kandiszuckerstücken. | |
Ein wirklich entsetzliches Kapitel niedersächsischer Lebensmittelkultur | |
darf hier nicht unerwähnt bleiben. Wo Fleisch gegessen wird, wird auch | |
Fleisch hergestellt. In Niedersachsen besonders viel. Auf jeden der 8 | |
Millionen Einwohner kommt ein Schwein, nur dass die Tiere nicht als | |
Familie in Häusern auf großzügigen Einfamilienweiden leben, sondern | |
eingepfercht in Ställen stehen, bevor sie geschlachtet, zerlegt und | |
weltweit verkauft werden. Hühner gibt es sogar 80 Millionen, ihnen geht es | |
nicht besser. Weite Teile vor allem im Südwesten des Landes sind | |
gülleverseucht; der Wasserverband ringt um Landwirte, die anders arbeiten | |
und die Frischwasserbrunnen nicht unbrauchbar machen; der BUND will den | |
Tierbestand um 50 Prozent reduzieren, alles andere sei dauerhaft nicht | |
weiter zu verantworten. Irgendwo ist immer Schweinepest in Niedersachsen. | |
Vielleicht wendet sich das Land eines Tages ja ab von fleischigen | |
Mahlzeiten, entdeckt andere Gerichte wieder. Auf dem Wochenmarkt türmen | |
sich zum Beispiel oft dicke, gelblich-lilane Knollen, angepriesen werden | |
sie als „Oldenburger Ananas“. Das sind Steckrüben, die immer noch als | |
wirkliches Arme-Leute-Essen gelten. Die kamen auf den Tisch, als kaum | |
jemand etwas anderes hatte. 1916/17 im Steckrübenwinter und nach dem | |
Zweiten Weltkrieg, als die Menschen hungerten. | |
Heute wandert die Knolle oft in Eintöpfe, wird unter Kartoffeln gemischt | |
als Stampf. Sie versteckt sich; vielleicht, weil sie traumatische | |
Erinnerungen weckt. | |
Zeit, sie neu zu definieren. Mir begegnete [5][einst eine ambitionierte | |
Vorspeise]: Die Knolle in Scheiben schneiden, in Honig und Orangensaft | |
langsam weich kochen, etwas Ingwer darüber reiben und Rosmarinnadeln | |
einstreuen. Herbes und Frisches und Süßes und Scharfes vermischen sich ganz | |
wunderbar. Es könnte, führt man sich die Zerrissenheit des Landes vor Augen | |
– die vier alten Fürstentümer und ihre Eigenheiten –, das niedersächsisc… | |
Gericht schlechthin werden. Verschiedene Charaktere vereint auf einem | |
Teller, vielleicht wäre das auch etwas für die Kantine im Landtag. Als | |
niedersächsisches Stammessen. Gibt es immer. Und wer mag: Gyros passt | |
bestimmt dazu. | |
9 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bunte.de/royals/royals-weltweit/deutscher-adel/alexander-zu-sch… | |
[2] https://leineschloss.de/kantinenplan/ | |
[3] https://www.potis.com/Startseite-0104073043.html | |
[4] https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/metadata/35951113/1/-/ | |
[5] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/nimm-3/rosmarin-steckruebe-orangensaft-7… | |
## AUTOREN | |
Felix Zimmermann | |
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