# taz.de -- Forscher über spanisches Schulsystem: „Die Armen wiederholen hä… | |
> Im OECD-Vergleich bleiben spanische Schüler häufig sitzen. | |
> Bildungsforscher Lucas Gortazar sagt, was die Misere mit Napoléon zu tun | |
> hat. | |
Bild: In Spanien wiederholt fast jeder dritte Schüler die Klasse – hier Grun… | |
taz: Herr Gortazar, in Spanien bleiben jedes Jahr über 8 Prozent der | |
Schülerinnen und Schüler in der Mittel- und Oberstufe sitzen. Das ist | |
traurige Spitze in Europa. Wie ist das zu erklären? | |
Lucas Gortazar: Um die Ursachen für das häufige Sitzenbleiben verstehen zu | |
können, müssen wir fast 200 Jahre in der Geschichte zurückgehen und uns das | |
moderne Schulsystem in Frankreich anschauen. Von dort nämlich hat Spanien – | |
und der Rest Südeuropas – fast alles kopiert. Osteuropäische Länder | |
hingegen haben sich vor allem an Deutschland und später an der Sowjetunion | |
und Skandinavien orientiert. | |
Was bedeutet das? | |
Das französische Bildungssystem geht auf Napoléon zurück. Die grundlegende | |
Idee dabei sind nationale Prüfungen für alles: Abschluss an der Schule, | |
Aufnahme in die Universität oder den Staatsdienst. Wer besteht, hat | |
gewonnen, wer durchfällt, steht mit leeren Händen da. Dieses System hat | |
auch seine Auswirkungen auf die Schule als solches. Daher die Idee, das | |
Schuljahr zu bestehen oder eben zu wiederholen, wenn ein bestimmter Teil | |
der Fächer nicht bestanden wird. | |
Napoléon ist schuld am schlechten Abschneiden [1][spanischer Schüler]? | |
Die Quote der Sitzenbleiber ist überall dort hoch, wo Frankreich | |
kulturellen Einfluss hat: Südeuropa und Teile Afrikas. In Spanien | |
wiederholen knapp 29 Prozent der Schüler im schulpflichtigen Alter zwischen | |
6 und 16 Jahren mindestens einmal ein Schuljahr. In Europa liegt nur | |
Belgien mehr oder weniger gleichauf mit Spanien, wenn es ums Wiederholen | |
eines Schuljahres geht. Ansonsten müssen wir schon nach Lateinamerika | |
schauen, um ähnlich hohe Quoten zu finden. | |
Okay, es ist das französische System, aber warum so viele in Spanien? Die | |
Kinder sind hier doch sicher nicht dümmer als sonst wo? | |
Natürlich hat das nichts mit den Kindern zu tun, sondern mit dem | |
Bildungssystem. Die Kinder sind hier genauso lernwillig wie überall. Es | |
geht um die allgemeine kulturelle Vorstellung von Schule. Das wiederum | |
beeinflusst die Lehrkräfte und den gesamten Schulbetrieb. Ein Kind, das in | |
Sevilla zur Welt kommt und bestimmte Fähigkeiten mitbringt, hätte mehr | |
Chancen, wenn es in Deutschland zur Welt gekommen wäre. Dort hätte es das | |
Schuljahr eher nicht wiederholt, in Sevilla schon. Es ist eine | |
[2][Entscheidung des Schulsystems], wie es mit lernschwachen Kindern | |
umgeht. | |
Hat Sitzenbleiben auch was mit sozialer Ungleichheit zu tun? Knapp 29 | |
Prozent der spanischen Kinder leben in Armut oder sind armutsgefährdet. | |
Spanien ist das Land, in dem Sitzenbleiben am stärksten mit der sozialen | |
Herkunft verknüpft ist. Nehmen wir zwei Schüler mit den gleichen | |
Ergebnissen beim Lesen und Rechnen: Das Kind aus einem sozial schwachen | |
Haushalt wiederholt im Schnitt viermal so oft wie das aus einer | |
Oberschichtfamilie mit exakt den gleichen Kenntnissen. Das hat die | |
Pisa-Studie ergeben. Die Armen wiederholen sehr viel häufiger. Das führt | |
zu einer Benachteiligung bestimmter Schüler. Wer weiterkommt, hat eine | |
Zukunft vor sich. Wer sitzen bleibt, hat weniger Chancen auf späteren | |
Erfolg. | |
In Spanien schicken die wohlhabenden Familien ihre Kinder gerne auf | |
Privatschulen, der Staat subventioniert das massiv. Vermutlich wiederholen | |
dort weniger Kinder als an den öffentlichen Schulen? | |
Klar, weil mehr Kinder aus einfachen Verhältnissen auf die öffentlichen | |
Schulen gehen. Aber auf den subventionierten Privatschulen bleiben auch | |
viele Schülerinnen und Schüler sitzen. Das ist ein kulturelles Phänomen. | |
Die Schule entscheidet, dass bestimmte Schüler nicht weiterkommen. | |
Mit einem [3][neuen Bildungsgesetz] will die spanische Regierung die | |
Wiederholungsrate verringern. Künftig sollen auch diejenigen weiterkommen, | |
die in mehreren Fächern durchgefallen sind. | |
Ja, aber das genügt nicht. Das System als solches muss sich ändern. Wir | |
brauchen eine andere Herangehensweise. | |
Was meinen Sie damit? | |
Wir brauchen mehr Förderunterricht, innerhalb und außerhalb des normalen | |
Stundenplanes. Mehr Investitionen in der Unterstufe – dort wird der | |
Grundstein für den späteren Bildungsweg gelegt. Kleinere Klassen, zwei | |
Lehrkräfte pro Klasse, eine für den normalen Unterricht, eine für die | |
schwächeren Schüler. Statt mit Sitzenbleiben zu bestrafen, müssen wir | |
Kinder mit Lernproblemen fördern. Die Botschaft muss lauten: Du musst mehr | |
bringen und ich helfe dir dabei. Nicht: Ich bestrafe dich, wenn du es nicht | |
schaffst. Viele Schüler müssen wegen ganz wenig wiederholen. Sie werden aus | |
ihrem Freundeskreis herausgerissen, ein Jahr zurückgestellt. Wirklich | |
motivierend ist das nicht. | |
Nicht alle Lehrer sind mit dem neuen Gesetz einverstanden. | |
Ja, die meisten sehen das Sitzenbleiben als Problem, aber sie sehen auch, | |
dass sie mit dem neuen Gesetz alleingelassen werden. Es fehlt an all dem, | |
was ich aufgezählt habe. Das Argument der Lehrkräfte ist: Okay, ich kann | |
die Schüler nicht dazu zwingen, das Schuljahr zu wiederholen, da das nicht | |
wirklich sinnvoll ist, aber die Politik gibt mir nicht die Mittel an die | |
Hand, um das Problem wirklich zu bewältigen. | |
Das ist vermutlich eine Frage des Geldes? | |
Dass knapp 30 Prozent der Kinder irgendwann wiederholen, kostet viel Geld, | |
denn die Kinder gehen ein Jahr länger zur Schule. Spaniens Schulen sind von | |
jeher schlecht finanziert, und es fehlt an Geld für Sondermaßnahmen für die | |
Kinder, die das brauchen. Laut der NGO Save the Children kostet das 6,2 | |
Prozent des Bildungshaushalts. Dieser Betrag könnte für Fördermaßnahmen | |
sinnvoller eingesetzt werden. | |
5 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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