| # taz.de -- Teilweiser Rückzug russischer Truppen: Glücksgefühl trotz Rakete… | |
| > Mit ungläubigem Staunen verfolgen die Ukrainer die militärischen Erfolge | |
| > in der Region Charkiw. Gleichzeitig feuert Russland verstärkt | |
| > Marschflugkörper. | |
| Bild: Feuerwehrleute löschen ein in Brand geratenes Gebäude in Charkiw nach e… | |
| Charkiw taz | Eine nach der anderen: Die Einwohner*innen Charkiws haben | |
| seit der vergangenen Woche nicht einmal mehr Zeit, sich die Namen der | |
| Siedlungen zu merken, die die ukrainischen Verteidigungskräfte jeden Tag | |
| befreien – denn so schnell schreitet die Zerstörung russischer | |
| Verteidigungsstellungen voran. | |
| Am Abend des 12. Septembers erreichten Einheiten der ukrainischen Armee in | |
| einigen Gebieten im Norden der [1][Region Charkiw] die Grenze zu Russland, | |
| befreiten die strategisch wichtigen Siedlungen Weliky Burluk und | |
| Dworitschna im Nordosten sowie die ehemaligen regionalen Zentren von Izjum, | |
| Balaklija und Kupjansk. | |
| Zudem stießen sie zum Fluss Oskol vor, der an der östlichsten Grenze der | |
| Region liegt. So wurde das Territorium, das russische Truppen etwa zwei | |
| Monate lang mit blutigen Kämpfen besetzt und dort ihre Stellungen mehr als | |
| vier Monate lang gehalten hatten, in nur einer Woche befreit. | |
| Gründe für diesen Erfolg, so sehen es Analyst*innen, gibt es mehrere: Die | |
| große Motivation der ukrainischen Soldaten, die Hilfe der lokalen | |
| Bevölkerung bei der Identifizierung feindlicher Stellungen, moderne Waffen, | |
| die die Ukraine von ihren Unterstützern erhalten hat, die Ausbildung, die | |
| die Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte in westlichen Ländern | |
| genossen haben. Und last, but not least: eine völlig neue Technik in Form | |
| eines „Kaskadenangriffs“. Hierbei rücken ukrainische Bodentruppen mit | |
| großer Geschwindigkeit vor und schaffen es, die Russen daran zu hindern, | |
| sich einzugraben. | |
| Dank dieser Taktik ist der ukrainischen Armee auch eine große Anzahl von | |
| „Trophäen“ in die Hände gefallen: Die Russen haben schwer gepanzerte | |
| Fahrzeuge auf Raupenketten zurückgelassen, weil diese zu langsam waren und | |
| es unmöglich war, mit ihnen zu entkommen. Aber auch ohne die gepanzerten | |
| Fahrzeuge gelang es nicht allen russischen Soldaten, die Beine in die Hand | |
| zu nehmen. | |
| ## „Russischer Kriegs-Triathlon“ | |
| Im Netz zirkulieren viele Videos, wie Soldaten der angeblich | |
| „zweitstärksten Armee der Welt“, wie die russische Propaganda die | |
| Streitkräfte der Russischen Föderation nennt, Anwohner*innen | |
| Zivilkleidung und Fahrräder wegnehmen. Damit versuchen sie vorzutäuschen, | |
| zur lokalen Bevölkerung zu gehören – mit dem Ziel, sich vor den | |
| Verteidigungskräften der Ukraine zu verstecken. Die Russen müssten laufen, | |
| durch einen Fluss schwimmen und Fahrrad fahren – „russischer | |
| Kriegs-Triathlon“ lästern User*innen im Netz. | |
| Außer den Besatzern versuchen auch Kollaborateure, das Charkiwer Gebiet zu | |
| verlassen, also diejenigen, die die Ukraine verraten und sich freiwillig in | |
| den Verwaltungen der Besatzer und der sogenannten Volksmiliz engagiert | |
| haben. Auf solche Menschen verweisen die Ukrainer*innen mit | |
| sichtlicher Genugtuung, während sie mit Tränen in den Augen die | |
| ukrainischen Soldaten begrüßen. | |
| Um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, fliehen die | |
| Kollaborateure nach Russland oder in die noch besetzten Gebiete der Region | |
| Luhansk. Auch unter der Zivilbevölkerung im Osten der Ukraine gibt es | |
| Absetzbewegungen in Richtung Russland, des Landes, in dem sie von nun an | |
| leben wollen. | |
| [2][Die militärischen Erfolge in der Region Charkiw] – die Menschen in der | |
| Ukraine verfolgen sie mit Freude und ungläubigem Staunen. Das betrifft vor | |
| allem Bewohner*innen der besetzten Gebiete, die mit der Ankunft der | |
| Russen aus ihren Häusern fliehen mussten. Tatsächlich ist es derzeit noch | |
| kaum zu glauben, dass viele Menschen bald wieder in ihre Städte | |
| zurückkehren können. Vor sechs Monaten schien die russische Besatzung | |
| unerschütterlich und für immer zu sein. | |
| Am 12. September hatte der russische Sänger Oleg Gazmanow in [3][der | |
| besetzten Stadt Izjum] ein Konzert unter dem Motto „Russland wird für immer | |
| hier sein“ veranstalten wollen – allein die Gegenoffensive der Streitkräfte | |
| der Ukraine machte diese Pläne zunichte. Dafür wird es demnächst eine | |
| offizielle Feier anlässlich der Befreiung Izjums geben. | |
| ## Unerwartetes Glücksgefühl | |
| In Russland will man sich mit der Vorstellung trösten, dass die Befreiung | |
| der Region Charkiw eine Art „Geste des guten Willens“ und ein organisierter | |
| Truppenabzug sei, jedoch erzählt die Zahl der Gefangenen und | |
| „Kriegstrophäen“ eine ganz andere Geschichte. Viele Bewohner*innen in | |
| Charkiw sagen, dass sie von einem unerwarteten Glücksgefühl ergriffen | |
| worden seien. | |
| Die Menschen fordern jetzt die vollständige Befreiung des Territoriums der | |
| Ukraine und die Schaffung einer sogenannten Pufferzone in der Region | |
| Belgorod in Russland. Denn von hier aus werden jeden Tag Marschflugkörper | |
| und ballistische Raketen auf Charkiw abgefeuert, die systematisch die | |
| Infrastruktur der Stadt zerstören. | |
| Allein in der Nacht zu Montag und am Montag selbst schossen die Russen | |
| dreimal Raketen auf die zivile Infrastruktur von Charkiw und Umgebung ab. | |
| In der Stadt gab es erneut einen halben Tag lang kein Wasser und keinen | |
| Strom. Da der russische Staat keine militärischen Erfolge erzielt, greift | |
| er zu geradezu terroristischen Methoden und will offenbar die Wärme-, Gas- | |
| und Stromversorgungssysteme in Charkiw zerstören, um die Stadt zumindest im | |
| Winter absolut unbewohnbar zu machen. | |
| Besonders die ständigen Raketenangriffe aus Belgorod sind es, die eins | |
| deutlich machen: Für zu viel Euphorie ist es noch zu früh. | |
| Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
| 13 Sep 2022 | |
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| Juri Larin | |
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