# taz.de -- Rückzug russischer Truppen: Vormarsch auf breiter Front | |
> Spektakuläre Offensive gegen die russischen Besatzer östlich von Charkiw: | |
> In fünf Tagen hat die Ukraine fünf Monate wettgemacht. | |
Bild: Hissen der ukrainischen Flagge im befreiten Balakliia am Samstag | |
Selbst nüchterne Analytiker greifen zu Superlativen, was die jüngsten | |
ukrainischen Erfolge gegen russische Besatzungstruppen angeht. „Die | |
beeindruckendste und erfolgreichste Gegenoffensive seit Israels Operation | |
Gazelle während des Jom-Kippur-Krieges“, staunt „Jomini of the West“, das | |
US-Twitterkonto eines anonymen, sehr kenntnisreichen Militärexperten. | |
Das renommierte [1][Institute for the Study of War] in den USA rechnet aus, | |
dass die Ukraine in fünf Tagen mehr Gebiet zurückerobert hat, als Russland | |
in all seinen Operationen der vergangenen fünf Monate einnahm – „die | |
ukrainischen Streitkräfte haben die russischen Linien in einer Tiefe von | |
bis zu 70 Kilometern durchbrochen“. Es gilt als der größte ukrainische | |
Erfolg im laufenden Krieg seit Russlands Rückzug aus der Region um die | |
Hauptstadt Kiew Ende März. | |
Was am 6. September mit einzelnen ukrainischen Nadelstichen gegen russische | |
Positionen südöstlich von Ukraines zweitgrößter Stadt Charkiw begann, | |
entwickelte sich bis zum Wochenende zum weitgehenden Zusammenbruch der | |
russischen Front im Norden des Donbass. Zuerst stießen ukrainische | |
Einheiten in östliche Richtung tief in russisch besetztes Gebiet vor und | |
erreichten weitgehend kampflos Kupjansk, die größte Stadt des russisch | |
besetzten Teils des Gebiets Charkiw und Sitz der russischen | |
Militärverwaltung für das Gebiet. Dann fächerten sie auch in andere | |
Richtungen aus, übernahmen die Kontrolle über die wichtigsten Verkehrswege | |
und schnitten die russischen Einheiten voneinander ab. | |
Sie eroberten die Frontstadt Balaklija und erreichten auch Isjum, den | |
wichtigsten Verkehrsknotenpunkt der Region, seit Ostern Drehscheibe der | |
russischen Offensiven zur Eroberung des Donbass. Diese zielen von Isjum aus | |
in südliche Richtung, aber die Ukrainer überraschten die russischen | |
Einheiten praktisch hinter deren eigenen Linien, von Norden her. Am Samstag | |
gab das russische Verteidigungsministerium offiziell den Rückzug aus | |
Kupjansk und Isjum bekannt. | |
## Hinterm Oskol-Fluss gehts weiter | |
Man werde sich jetzt auf die „Befreiung des Donbass“ konzentrieren, | |
erklärte das Moskauer Ministerium und veröffentlichte eine Karte, auf der | |
überhaupt keine russisch kontrollierten Territorien westlich des | |
Oskol-Flusses im Gebiet Charkiw mehr zu sehen sind, auch nicht mehr im | |
unmittelbaren Grenzbereich zu Russland selbst. Während ukrainische | |
Einheiten am Sonntag noch dabei waren, in die von Russland geräumten | |
Siedlungen einzurücken, haben sich die Russen laut eigenen Angaben offenbar | |
vollständig hinter den Fluss zurückgezogen, der eine natürliche neue | |
Verteidigungslinie bildet. | |
Was in Moskau als „Umgruppierung“ bezeichnet wurde, war in Wahrheit eine | |
oftmals chaotische Flucht. Unzählige Fotos und Videos dokumentieren | |
gigantische Mengen zurückgelassenen Rüstungsmaterials. Die Kampfstärke | |
mehrerer Bataillone soll Russland der Ukraine beim Rückzug überlassen | |
haben. Am Sonntag war unklar, wie weit sich das Chaos auch auf andere | |
Frontbereiche ausgedehnt haben könnte, etwa im Süden der Ukraine um | |
Cherson. | |
Die Südukraine war eigentlich in den letzten Wochen der Hauptfokus der | |
ukrainischen Gegenoffensiven gegen Russland gewesen. Zentral dabei war die | |
gezielte Zerstörung russischer Nachschublinien und Militärinfrastruktur | |
dank der von Nato-Staaten gelieferten Artillerie und Raketensysteme mit | |
größerer Reichweite. Um das auszugleichen, verlagerte Russland erhebliche | |
Kräfte aus dem Osten in den Süden der Ukraine. | |
Im Donbass konzentrierte Russland seine Truppen nur noch an einigen wenigen | |
Punkten, wo es mit Mühe und Not immer wieder einige wenige Kilometer | |
vorrückte, und ließ weite nominell besetzte Gebiete praktisch brachliegen. | |
Das hat die Ukraine jetzt ausgenutzt und die russische Seite damit völlig | |
überrumpelt, wie der russische Militäranalytiker Andrew Korybko auf seinem | |
Blog zugibt: Er diagnostiziert auf russischer Seite „ernste | |
Aufklärungsdefizite“. | |
## Große Kommunikationsschwierigkeiten | |
„Russland hatte nur eine Verteidigungslinie, Ukraine brach durch“, | |
analysierte am Sonntag Mykola Bielieskow vom [2][Nationalen Institut für | |
Strategische Studien] in Kiew. Er rechnet vor: Russland hat 200.000 bis | |
250.000 Soldaten in der Ukraine im Einsatz, an einer 1.300 Kilometer langen | |
Frontlinie, von denen 80.000 mittlerweile gefallen oder verwundet seien. | |
Der Rest sei viel zu wenig für eine gestaffelte Verteidigung zusätzlich zu | |
Angriffsaktionen. Sobald ukrainische Einheiten die vorderen russischen | |
Linien durchbrechen, stehe ihnen alles weit offen. | |
Manche Experten halten es jetzt für möglich, dass Russland das gesamte | |
Gebiet nördlich der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk wieder verliert. | |
Die gesamten russischen Versorgungslinien in der Ostukraine seien durch | |
den Verlust von Kupjansk „kompromittiert“, sagt der australische | |
Militärexperte Mick Ryan und meint: „Wir könnten eine Kaskade russischer | |
taktischer Rückzüge und Niederlagen in verschiedenen Regionen sehen.“ | |
Der Militärexperte Andrew Perpetua sieht das Problem in der starren, | |
hierarchischen russischen Militärdoktrin: „Das Problem (der Russen) ist, | |
dass ihre Einheiten normalerweise nicht gemeinsam operieren. In | |
Ausnahmesituationen haben sie daher große Kommunikationsschwierigkeiten. | |
Die Offiziere wissen nicht, wo sie hin sollen oder wem sie berichten. Und | |
selbst wenn, hat der Offizier vielleicht keine Soldaten mehr zu befehligen, | |
sie fliehen ungeordnet.“ | |
11 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.understandingwar.org/ | |
[2] https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/261818/analyse-eine-erinnerungskul… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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