# taz.de -- E-Scooter, Füchse, gleißender Mondschein: Herbstvibes wegrollern | |
> Mit der Ringbahn zur Kürbiscremesuppe, mit dem E-Scooter in den Herbst – | |
> unser Autor entwickelt Strategien für Übergangsphasen. | |
Bild: E-Scooter, die sich nicht selbst transzendieren, landen im Eimer | |
Ich tendiere dazu, mich zu verhärten und abzuschließen gegenüber den vielen | |
Menschen, mit denen man sich in Berlins S- und U-Bahnen drängelt, deren | |
Schweiß man riecht, deren Telefonate man mithört, deren Kinderwägen einem | |
über die Füße rollen und so weiter. Dabei ist es gerade die ununterbrochene | |
Verzwirbelung von Lebensentwürfen, die das psychedelische Flirren dieser | |
Stadt ausmacht. | |
Ich stand in der vollen Ringbahn und blickte in die glänzenden Gesichter | |
und die müden Augen, die über die Masken ins Leere starrten. Im Halbdunkel | |
flimmerten die Handybildschirme. Da es noch früh am Abend war, vermutete | |
ich, dass der Großteil der Fahrgäste auf dem Heimweg war und nicht auf der | |
Suche nach, sagen wir, Instabilität und Exzess. | |
Ein Mann mit ein paar zerknautschten Exemplaren des Straßenfegers in der | |
Hand drängelte sich an mir vorbei und fluchte über die Knausrigkeit unseres | |
Waggons. Unweit von mir unterhielten sich zwei junge Männer darüber, wie | |
schwierig es gewesen war, während des Lockdowns einen Ausbildungsplatz zu | |
finden. Ein Mädchen beobachtete die beiden aufmerksam aus seinem | |
Kinderwagen. | |
Eine Türe weiter sah ich zwei Frauen, die in ein angeregtes Gespräch zu | |
vertieft sein schienen. Sehen konnte ich wegen der Masken nur die zuckenden | |
Bewegungen ihrer Köpfe, die sich hebenden Augenbrauen, die sich weitenden | |
Augen und die Hände, die sie immer wieder knapp unters Kinn führten, wo sie | |
mit gekrallten Fingern zu rotieren begannen, als würden sie unsichtbare | |
Vollbärte zerzausen. | |
## Bedürfnis nach Geschwindigkeit | |
Als ich am Treptower Park ausstieg, schimmerte die Wolkendecke dunkel und | |
dräuend und gülden, beziehungsweise verspürte ich einen Kick Abendstimmung | |
oder sogar Wehmut. Es war kühl und in der Fußgängerunterführung flackerten | |
die Neonröhren. Ein Mann urinierte auf ein am Boden liegendes Werbeplakat, | |
auf dem „Verlier dich in Berlin stand“. Mein Fon vibrierte in meiner | |
Hosentasche. Ich wartete auf den Bus. | |
Es war Freitag, und ich war unterwegs zu D. und R. und U., die mich zum | |
Essen eingeladen hatten, wobei U. ein junger Kater ist. Wir slurpten viel | |
Wein in uns rein und leckere Kürbiscremesuppe, unterdessen knabberte U. | |
interessiert auf meinem Daumen herum, und über Berlin brach die Nacht | |
herein. | |
Als ich die Wohnung in der Reichenberger Straße wieder verließ, lief mir | |
ein Fuchs über den Weg. Er blieb kurz stehen und blickte mich mit zur Seite | |
geneigtem Kopf an, bevor er criminal minded in die Nacht verschwand. Ich | |
fragte mich, ob ich eine Art Verwunderung in ihm ausgelöst hatte. Weil ich | |
ein undefiniertes Bedürfnis nach Geschwindigkeit verspürte, beschloss ich | |
nach Hause zu rollern. | |
Wenige Meter weiter stand ein [1][E-Scooter mitten auf dem Gehweg geparkt]. | |
Ich aktivierte den Scooter, der keck und herausfordernd zu blinken begann, | |
und rollerte los, auf meinen Kopfhörern „Zur Hilfe“ von Fuffifufzich. Meine | |
Kieferknochen schwangen im Takt der verschleppten Beats und der Fahrtwind | |
kämmte sozusagen mein Haar. | |
## High durch Brandenburg cruisen | |
Dem Scooter schien die Fahrt ebenfalls Spaß zu machen, immer wieder kratzte | |
er an seiner Maximalgeschwindigkeit, und wenn ich die Beine unter meiner | |
Hüfte mit einem Ruck nach vorne schob, knackten wir sie für einen Moment, | |
was uns auf eine seltsame Art und Weise connectete. | |
Munter und jugendlich polterten wir über die Pflastersteine. Wir fuhren | |
vorbei an Spätis und an Falafel-Läden, an Eckkneipen, Backshops und | |
Euronet-Automaten, an Shishabars, über den Bordstein ragende Lieferwägen, | |
Corona-Testcentren, thailändischen Massageshops, noch mehr [2][Füchsen] und | |
so weiter. | |
Auch den Mann aus der Ringbahn sah ich wieder, er nickte mir aufmunternd | |
zu. Und die Frauen mit den imaginären Bärten, die sich noch immer angeregt | |
miteinander unterhielten. Ich sah die in die Nachtluft starrenden Menschen | |
und das Mädchen, glucksend und halbgar in seinem Kinderwagen. | |
Die Lenkstange des Scooters drückte gegen meinen Bauch und ein feierliches | |
Gefühl überkam mich. Ich musste an ein Zitat des argentinischen | |
Schriftstellers César Aira denken, wonach jeder Mensch aufgrund der | |
einzigartigen Konstellationen in seinem Hirn zu einer ganz bestimmten | |
„Großtat“ befähigt sei, die, wie banal oder grandios auch immer, nur er | |
bewerkstelligen könne. | |
Über uns glowte der Mond und wir fuhren und fuhren, der Scooter und ich, | |
bis der Straßenbelag schlechter wurde. Aber das war egal. Der Scooter hatte | |
seinen Geschäftsbereich längst hinter sich gelassen und schien im Begriff, | |
neue Fähigkeiten auszubilden. Zusammen wuchsen wir über uns hinaus, um uns | |
die Brache [3][Brandenburgs], durch das wir cruisten, verträumt und | |
eingebunden und high und elektrisiert, mindestens. | |
30 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Regulierung-von-Carsharing-in-Berlin/!5870558 | |
[2] /Zuwanderer-in-der-Stadtnatur/!5570789 | |
[3] /Illegale-Deponie-nahe-der-Tesla-Fabrik/!5876609 | |
## AUTOREN | |
Valentin Wölflmaier | |
## TAGS | |
Ausgehen und Rumstehen | |
Berlin | |
Berlin Kultur | |
Herbst | |
Literatur | |
E-Scooter | |
Esoterik | |
Ausgehen und Rumstehen | |
Rocko Schamoni | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Magisches aus dem Gestrüpp | |
Energie in Rosa und Uhren fürs Karma: Ein Gang über die wieder | |
stattfindende 47. Esoterikmesse in Bad Urach. | |
Spaziergang mit ehemaligen Wohnungslosen: Wie man sich bettet | |
Wie die Straße das Leben derer prägt, die auf ihr leben, ist vielen | |
wahrscheinlich nicht bewusst. Ein Spaziergang mit einem ehemaligen | |
Obdachlosen. | |
Kolumne Ausgehen und rumstehen: Gelaber eines Hochbegabten | |
Ein Heinz-Strunk-Roman ist die perfekte Hitzelektüre. Und dank Rocko | |
Schamoni entdeckt man einen Großen des deutschen Humors neu. |