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# taz.de -- Ohrenpflege in Japan: Fast wie bei der Mama
> Ohrenpflege hat in Japan Tradition, privat und in speziellen Salons –
> eine Möglichkeit der körperlichen Nähe in einer von Distanz geprägten
> Gesellschaft.
Bild: Durch Reinigung und spezielle Akupunktur wollen Ohrensalons in Japan für…
Der Anblick auf dem Monitor erinnert ein wenig an eine Darmspiegelung. Mit
dem Unterschied, dass ich bequem auf einem Sessel sitze und keine Schmerzen
spüre. Der Bildschirm, der auf Höhe meiner Augen steht und etwas größer ist
als ein iPad, zeigt das Innere meines äußeren Gehörgangs. Ich meine, weiter
hinten das Trommelfell zu erkennen.
„Das rühren Sie nicht an?“, frage ich vorsichtig. Taki Nakamoto, die neben
mir auf einem Hocker sitzt und mit einer kleinen Ohrenkamera das Innere
meines Ohrs zeigt, antwortet unbeeindruckt: „Das, was Sie hier sehen, ist
das Trommelfell. Es könnte reißen, wenn ich zu nah ran gehe. Beim Putzen
konzentrieren wir uns ausschließlich auf den vorderen Bereich, das genügt
vollkommen.“
Nakamoto ist die Besitzerin des Ohrenreinigungssalons „Bonita Bonito
ear-esthetic“. Der Salon befindet sich im Untergeschoss einer unscheinbaren
Straße in Tokios Bezirk Shibuya. Ohne die beiden Ladenschilder wäre ich
glatt am Eingang vorbeigelaufen, denn im Umfeld gibt es fast nur Wohnungen.
Der Behandlungsraum ist dunkel und schlicht ausgestattet, der Aroma
Diffuser und ein Kissen zum Kuscheln vermitteln Wohlfühlatmosphäre. Das
Ganze ist das Gegenteil einer hellen, sterilen Zahnarztpraxis. Der Salon
zur Ohrenreinigung erinnert mehr an einen Massagesalon.
Ursprünglich arbeitete Nakamoto als ausgebildete Friseurin. Vor zwanzig
Jahren wechselte sie den Beruf, nachdem ihr aufgefallen war, dass
Kund:innen im Friseursalon beim Haarewaschen immer wieder Schwarz vor den
Augen wurde. Daraufhin hatte sie überlegt, was sie gegen die plötzlichen
Schwindelanfälle tun könnte und war auf eine spezielle Akupunktur für die
Ohren gestoßen. Heute ist Nakamoto Inhaberin dreier Salons in den Städten
Tokio, Osaka und Wakayama. Zudem leitet sie Seminare zur Ohrenreinigung und
Ohrenakupunktur. Darüber hat sie auch ein Buch geschrieben: Übersetzt trägt
es den Titel: „Das Ohr als Erste-Hilfe-Kiste für Krankheiten und
Schönheit.“
## Ein Ohrlöffel in jedem Haushalt
Während Nakamoto das Innere meines Ohrs säubert, erzählt sie, dass ihr der
Job Spaß macht und dass sie schon immer gerne die Ohren ihrer Kinder
geputzt habe. Sie selbst sei ebenfalls damit aufgewachsen. „Bei uns zu
Hause war es selbstverständlich, dass es einen Ohrlöffel gab“, sagt sie.
Mit Ohrlöffeln sind in Japan dünne Holzstäbchen gemeint, die am Ende einen
kleinen, abgerundeten Haken haben. Was für deutsche Ohren haarsträubend
klingen mag, [1][ist in Japan unhinterfragter Alltag]. Monatlich das Innere
des Ohrs zu säubern, ist ebenso selbstverständlich wie Haare waschen oder
Zähne putzen.
Auch ich kann mich noch genau daran erinnern, wie meine japanische Mutter
mir mit einem Ohrlöffel die Ohren putzte – ab mit dem Kopf auf die kalte
Tischplatte, die Lampe so auf den Kopf gerichtet, dass sie gut ins Innere
des Ohrs hineinschauen konnte. Ich erinnere mich allerdings auch ziemlich
gut daran, wie sie manchmal zu tief in das Ohr eindrang und ein stechender
Schmerz durch mein Ohr fuhr. Diese Sorge habe ich im Salon nicht, denn
Nakamoto arbeitet ausschließlich mit Wattestäbchen. Ohrlöffel seien zu
gefährlich, erklärt sie. Den meisten Schmalz im Ohr könne sie problemlos
mit angefeuchtetem Wattestäbchen entfernen. In seltenen Fällen setze sie
Ohrlöffel ein, doch das beschränke sich auf extrem hartnäckigen Schmutz
oder Verstopfungen.
Ich frage sie, wie es zu solchen Extremfällen kommt, woraufhin sie auf
In-ear-Kopfhörer verweist, kleine Kopfhörer, die in die Ohrmuschel gesteckt
werden. „Die sollten Sie übrigens jedes Mal desinfizieren“, rät sie mir.
„Sonst haben Sie schnell Keime oder Schimmel im Ohr.“ Nakamoto scheint
meine Reaktion häufiger zu sehen, sie geht nicht auf meinen angewiderten
Gesichtsausdruck ein. Heutzutage gäbe es überall Desinfektionsmittel, fährt
sie fort. Ich solle einfach ein paar Tropfen davon auf ein Tuch tröpfeln
und damit regelmäßig die Kopfhörer abwischen.
Während ich auf dem Monitor beobachte, wie Nakamoto sorgfältig mit
Wattestäbchen den Gehörgang säubert, frage ich sie, ob sie auch
ausländische Kundschaft habe. Vor der Pandemie, sagt sie, seien etwa 30
Prozent der Besucher:innen aus dem Ausland gekommen. Viele von ihnen
erfuhren durch Youtube von ihrem Geschäft. Die Reaktionen nach dem Besuch
seien durchweg positiv gewesen, erzählt sie mir. Dass die Putzaktion live
mit einer Kamera verfolgt wird, habe einen Unterhaltungsfaktor, außerdem
hörten viele der Kund:innen nach der Behandlung deutlich besser.
Ich erzähle ihr von den Reaktionen meiner ehemaligen deutschen
Klassenkamerad:innen, nachdem ich ihnen von den Ohrenputzaktionen meiner
Mutter berichtet hatte. Viele empfanden die Reinigung als gefährlich und
putzten daher nie ihre Ohren. Nicht selten bemerkte ich deutlich sichtbaren
Schmalz in den Ohren meiner Mitmenschen und ekelte mich davor.
## Manche kommen wegen des Körperkontakts
Nakamoto nickt. „Der mütterliche Akt, das Ohr zu putzen, dient nicht nur
der Reinigung“, sagt sie. „Es ist auch eine der seltenen Möglichkeiten, dem
Kind körperlich nahe zu kommen.“ Denn in Japan gibt es selbst [2][unter
Familienmitgliedern nur selten Körperkontakt]. Selbst, wenn sich Familien
nach Jahren wiedersehen, ist es unüblich, sich zur Begrüßung oder zum
Abschied zu umarmen. Küsse auf die Wange gibt es praktisch nicht. Der
schlichte Körperkontakt, der mit dem Kind stattfindet, während die Mutter
ihm die Ohren putzt, spiele daher eine große Rolle.
Manche Besucher kämen gerade wegen des Körperkontakts in den Salon, erzählt
Nakamoto weiter. Denn je nach Salon hätten Geschäfte, die auf
Ohrenreinigung spezialisiert sind, auch einen [3][Rotlichtflair]. In
solchen Läden sei es üblich, dass die Kunden mit dem Kopf auf den Schoß der
Mitarbeiterinnen legen.
Bei „Bonita Bonito“ wird diese Art der Dienstleistung nicht angeboten, der
Salon konzentriert sich auf Reinigung, Akupunktur und Massage. Die
Behandlungen sollen Kund:innen das wohlige Gefühl wiedergeben, das sie
empfanden, als sie noch Kinder waren: „Viele Erwachsene kennen es aus ihrer
Kindheit, wie ihre Mütter ihnen die Ohren geputzt haben, wissen aber selbst
nicht, wie sie es anstellen sollen.“ Viele Menschen, die in Tokio leben,
kommen ursprünglich aus anderen Provinzen. Die Mütter sind weit weg – daher
kämen sie zu ihr in den Salon.
Nach der Reinigung drückt mir Nakamoto auf diverse Akupunkturstellen am Ohr
und Hals, daraufhin folgt die Nackenmassage. All das ist angenehm und lässt
mich müde werden. Als ich auf die Preisliste schaue, werde ich aber wieder
hellwach: Die Wohlfühlatmosphäre hat einen üppigen Preis. Eine 45-minütige
Behandlung, die Ohrenputzen, diverse Akupunktur sowie Kopf- und Halsmassage
beinhaltet, kostet umgerechnet 50 Euro.
Dann vielleicht doch lieber warten, bis man die eigene Mutter wiedersieht –
trotz der kalten Tischplatte kommt kein Salon dieser Welt an dieses
Wohlbefinden heran.
25 Sep 2022
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## AUTOREN
Shoko Bethke
## TAGS
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