# taz.de -- Die Wahrheit: Grobian, geh du voran! | |
> Hass, Hetze, Hektik allerorten: Kommt es zu einer Renaissance des | |
> Rüpelismus? Nach den großen Vorbildern aus dem Zeitalter der Derbheit? | |
Bild: Der Spezialist für Grobianismus Tannhäuser als Beifahrer, hier in Wagne… | |
Es gab eine Zeit, in der Rohlinge und Flegel das Sagen hatten und jeder bei | |
Tisch tat, was er wollte. Das war die Zeit, als die Gabel noch nicht | |
erfunden war und ein jeglicher mit dem Messer und bloßer Hand essen musste. | |
Das war die sogenannte frühe Fingerfutterzeit. | |
Bei Hofe aßen gewöhnlich eine „Dame“ und ein „Herr“, man kann sich | |
vorstellen, wie es dabei zuging, erwähnt seien nur die Worte „Mundraub“ und | |
„Futterneid“. Das einfache Volk „aß“ gemeinsam aus einer großen Schü… | |
und scherte sich nicht um Etikette. | |
Wen wundert’s da, dass der Schutzpatron der grunzenden Schlemmer passend | |
Sankt Grobian genannt wurde. So steht es jedenfalls im Logbuch des | |
„Narrenschiffs“, aufgezeichnet von Logbuchführer Sebastian Brant im Jahr | |
1494. Meister Brant fiel auch als Erstem auf, dass alle richtigen | |
Schutzheiligen auf „ian“ enden: Florian, Kilian, Sebastian oder eben | |
Grobian. Ein „Grober Jahn“ halt, wie Luther kurze Zeit später kalauerte. | |
Die grobe Lutherzeit war auch eine Zeit der Tischzuchten. Eine „Tischzucht“ | |
war der Knigge des Mittelalters und sagte den Völlernden, wie man und frau | |
sich bei Tisch zu benehmen hatte. Je deftiger das geschildert wurde, desto | |
besser, denn so ein Tischzuchten-Lehrer wollte von seinen Zuchten ja gut | |
leben. Deftiges wurde im Mittelalter selbstverständlich gern gelesen, | |
gehört und gegessen. | |
## Zucht und Manieren | |
Der erste bekannte Tischzuchten-Verfasser war ein gewisser Tannhäuser, ein | |
umtriebiger Wandermönch und Minnesänger. Uns wurde er bekannt als | |
Sängerkrieger in Wagners gleichnamiger Oper und seinen Zeitgenossen als | |
Schriftsteller, der als Erstes ein deftiges Manierenbuch auf den | |
Essküchentisch brachte. | |
„Aus der Schüssel trinken, ziemt niemandem“, schimpfte Tannhäuser und fuhr | |
fort: „Wenn er wie ein Schwein isst und dann noch unappetitlich schnappt | |
und schmatzt mit dem Mund, das sollt ihr als Unsitte ansehen.“ Auch | |
abgenagte Knochen zurück in die Schüssel geben und Senf aus dem Senftopf | |
herausfingern geißelte er als unzüchtig. Und „wer ins Tischtuch schnäuzt | |
und dabei schnauft wie ein Wasserdachs und schmatzt wie ein Baiersachse, | |
ist ein ungehobelter Flegel“. Meinte jedenfalls der gehobelte Tannhäuser. | |
„Und wer den Schmutz aus seiner Nase nimmt und von den Augen, wie es manche | |
tun, und auch in die Ohren greift“ und dabei „La Paloma“ pfeift, ist ein | |
grober Tunichtgut. Und ein dummer obendrein: „Wer übermäßig viel essen | |
will, wird das Sodbrennen nie los.“ Und wenn’s juckt zu Tisch? „Ihr sollt | |
am Hals euch auch nicht kratzen, wenn ihr esst mit bloßer Hand, wenn es | |
sich nicht vermeiden lässt, so nehmt vornehm das Gewand und juckt damit.“ | |
So geht’s doch auch. | |
## Schutz gegen das Vulgäre | |
Hol’s der Teufel, unter dem derben Schutzpatron St. Grobianus sollte die | |
Vulgärliteratur mit ihren Tischzuchten den ersten strahlenden Höhepunkt | |
erleben, Grobiane sprechen jedenfalls ehrfurchtsvoll vom „Zeitalter des | |
Grobianismus“. Hans Sachs, Friedrich Dedekind, Sebastian Brant und die | |
Rossauer Tischzucht, das war noch didaktische Dichtung vom Gröbsten! | |
Egal wie viel Hass und Häme heutige Häretiker im Netz über andere | |
ausschütten, das Hochmittelalter bleibt das Maß aller Dinge und unerreicht, | |
was Derbes und Grobes anbelangt, verdammte Hacke! Da können die neuen | |
Pöbler pöbeln, was sie wollen, sie bleiben die blassen Erben der guten | |
alten Rüpel! | |
Und kann es in der heutigen Literatur zu der viel beschworenen Renaissance | |
des Grobianismus kommen? Wohl kaum. Heißt es auch, „Roh zu sein, bedarf es | |
wenig“, so sagt man doch: „Im Flachen ist der Aufstieg schwer.“ Hilf uns, | |
heiliger Grobian, die Welt ist am Verblöden! | |
20 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Christian Groß | |
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