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# taz.de -- Demokratie lernen: Stadt der Kinder
> In Ottopia sind Kinder an der Macht. Sie stürzen den König, heiraten sich
> selbst, kämpfen mit Fachkräftemangel. Und es gibt ein Mafiaproblem.
Bild: In Ottopia machen Kinder die Regeln – und bestimmen das TV-Programm
„Jetzt bin ich erst mal König, und dann guck ich, was passiert.“ Die
Kinderstadt Ottopia ist noch keine halbe Stunde geöffnet, da hat Niklas
bereits im Rathaus eigenmächtig die Regierungsform festgelegt: „Das ist
eine Monarchie, aber demokratisch, denn ich höre auf mein Volk. Ich will
ja, dass es allen gut geht“, erklärt der Zwölfjährige zwei Mädchen von
Ottopia-TV, die nach seiner Selbstkrönung ins Rathaus geeilt sind. Das
Interview wird unterbrochen von einem Mädchen in gelber Warnweste mit rot
aufgemaltem Kreuz. „Ich bin vom Krankenhaus, wir brauchen mehr Geld.“ „Ich
kümmere mich drum.“ Die staatsmännische Beschwichtigungsgeste hat Niklas
drauf, das Mädchen stiefelt beruhigt die Treppe des Rathauses hinunter, das
TV-Team dankt für das Interview.
Ottopia hat in diesem August zum zweiten Mal auf dem Gelände der
europäischen Jugendbildungsstätte Magdeburg stattgefunden. Für zwei Wochen
konnten bis zu 450 Kinder in rund 40 Gewerken Berufe ausüben, Start-ups
gründen, an der Kinder-Uni lernen – und die Stadt regieren.
„Hier spricht euer König.“ Niklas hat sich das Mikro auf der Bühne
gegriffen. „Jeder Bürger in Ottopia muss im Krankenhaus einen Fitnesstest
machen, bevor er arbeitet. Ihr dürft abstimmen, ob ihr dafür seid oder
dagegen.“ „Wer bist du überhaupt?“, ruft ein Kind von unten. „Wir haben
dich nicht gewählt!“, brüllt ein anderes. Applaus und Buhrufe. Niklas nimmt
es gelassen und geht zurück ins Regierungsgebäude, ein provisorischer
Gerüstbau im Zentrum von Ottopia. Auf dem Tisch liegt bereits ein
Umfrageergebnis des Statistikamtes: „Bist du für den König?“ Nur eine
einzige Ja-Stimme gab es. Auch die eilig initiierte Tiktok-Kampagne kann
König Niklas’ Sturz nicht mehr aufhalten. Für den Nachmittag kündigt er die
ersten freien Wahlen an. Jubel auf dem Marktplatz.
80 Kinderstädte gibt es allein in Deutschland, mit steigender Tendenz. Dort
gilt eine eigene Währung, eine selbstgewählte Regierungsform, Erwachsene
haben nur mit kurzzeitigem Besuchervisum Zutritt. Kindern demokratische
Strukturen spielerisch nahezubringen und sie zur Partizipation anzuregen,
steht hoch im Kurs. Auch im Ausland ist das Konzept immer gefragter. In
Magdeburg geht man einen Schritt weiter und öffnet die Kinderstadt Richtung
Europa. Jede öffentliche Kommunikation ist zweisprachig, in Deutsch und
Englisch. Manche Kinder schaffen das allein, andere werden unterstützt –
150 internationale Betreuer*innen gibt es. Und an der europäischen
Kinder-Uni kann man Abschlüsse machen, zum Beispiel in Sprachen und
Landeskunde.
## Ohne Steuern geht es nicht
Am Nachmittag ist Bürgermeisterwahl. Neun Kinder von 8 bis 12 Jahren
kandidieren, manche sagen wenig mehr als ihren Namen, andere versprechen
dem Volk das Blaue vom Himmel. Melinas enthusiastische Rede überzeugt die
meisten, obwohl sie auch Unbequemes ankündigt. „Leute, wir müssen Steuern
einführen, sonst können wir manche Gewerke nicht bezahlen. Das Ordnungsamt
ist schon 200 Topi im Minus.“ Vielleicht ist gerade das ihre Stärke: Die
Kinder fühlen sich ernst genommen. Mit absoluter Mehrheit wird sie zur
ersten Bürgermeisterin von Ottopia gewählt.
Von so einem Erfolg kann die echte Oberbürgermeisterin von Magdeburg nur
träumen. Erst nach einer Stichwahl setzte sich die parteilose Simone Borris
durch, jetzt steht sie etwas verloren im Rathaus von Ottopia und schaut zu,
wie ihre zwölfjährige Amtskollegin in perfektem Englisch Anweisungen an die
irische Betreuerin der Malerei gibt, denn das Rathaus soll wohnlicher
werden. „Das muss ich gerade lernen. Ohne gutes Englisch geht heute nichts
mehr“, sagt Borris anerkennend.
Nur wenige Kilometer von Ottopia entfernt wird bald mit dem Bau zweier
Halbleiterfabriken für den amerikanischen Chiphersteller Intel begonnen.
Ein Megadeal, der mindestens 10.000 meist hochqualifizierte Arbeitskräfte
in die Region bringen wird. Ob die in Magdeburg wohnen werden oder in die
umliegenden Großstädte pendeln, hängt stark von der Entwicklung der Stadt
ab. Immerhin hat Intel vor seiner Entscheidung „undercover“ den Alltagstest
gemacht, „erkennbar ausländisch aussehende Menschen“ durch die Straßen
flanieren lassen und die Anwohner auf Englisch angesprochen. Magdeburg hat
bestanden, immerhin. Doch von ein paar Döner- und Falafelläden abgesehen
ist bislang wenig internationales Flair im Stadtbild zu erkennen.
Ganz anders in Ottopia. Diverse Sprachen verweben sich zu einem
alltäglichen Klangteppich. Auf der Bühne wird gerade mit indischem Gesang
geheiratet, als Bürgermeisterin Melina strahlend zurück ins Rathaus kommt.
Schon am zweiten Tag ihrer Amtszeit ist sie auf eine halbstündige
Fortbildung in die europäische Kinder-Uni gegangen. Nun kann sie drei Sätze
auf Georgisch sagen und ihren Namen in der Landessprache schreiben. „Jetzt
bin ich Doktorin.“ Stolz zeigt sie ihren Mitarbeiter*innen den Stempel
im Ausbildungspass. Jeder zusätzliche Abschluss berechtigt zu mehr Lohn.
Der Akademisierungseifer der Kinder wird zum Problem, was sich schon am
nächsten Tag zeigt.
## In Ottopia geht Amazon pleite
„Bei uns sind jetzt alle Professoren. Wir können die nicht bezahlen.“ Ein
Junge von der Stadtreinigung fuchtelt mit einem leeren Müllsack herum. „Wir
finden einfach keinen mehr ohne Abschluss.“ Die Bürgermeisterin schaut
hilfesuchend zu ihren beiden Mitarbeitern. Überqualifizierung ist nicht
unbedingt etwas, womit man sich als Kind täglich beschäftigt. In Ottopia
erleben die Kinder im Schnelldurchlauf, woran sich die Erwachsenenwelt über
Jahrzehnte die Zähne ausbeißt. In Ostdeutschland arbeiten etwa ein Viertel
aller Beschäftigten unterhalb ihrer Qualifizierung. Auch das mag sich mit
der baldigen „Intelnationalisierung“, wie es in Magdeburg oft genannt wird,
zum Positiven wenden.
In Ottopia löst man das Problem derweil anders: Viele Gewerke machen
Schulden, weil die Kinder mit einem Doktortitel winken. Darum hat die
florierende Foodmeile dem bankrotten Tattoo-Studio freiwillig ein paar
Fünfziger rübergeschoben. Die Lottostelle hilft der Stadtreinigung, das
Rathaus zahlt das Ordnungsamt. Überhaupt herrscht hier an Hilfsbereitschaft
kein Mangel. „Jeder, der mehr als 80 Topis hat, kommt bitte ins Rathaus zum
Spenden. Wenn wir die Armen nicht unterstützen, können sie auch nichts bei
euch kaufen.“ Jlay, der nächste Bürgermeister, hält seine morgendliche
Ansprache.
Seine Vorgängerin Milena hat nach zwei Tagen hingeworfen, weil ihr das Amt
über den Kopf wuchs, und sie wollte noch andere Berufe ausprobieren. Ihr
neunjähriger Nachfolger hat die Ruhe weg, selbst als vier Mitarbeiter der
Holzwerkstatt einen riesigen Thron die Treppe hinaufhieven. „Den hat der
König bestellt. Fünfzig Topis, bitte.“ Das Argument, der König regiere
schon seit vier Tagen nicht mehr, lassen sie nicht gelten. „Wir haben so
viel zu tun, davon haben wir nichts mitbekommen.“ Der Bürgermeister zahlt,
das Rathaus hat nun einen imposanten Wartebereich für die Besucher mit
ihren zahlreichen Anliegen. Die Start-up-Szene boomt, jedes bekommt vom
Rathaus ein Startgeld. Die Kinder eröffnen Massagesalons, Security-Dienste,
Amazon. Letzteres kauft Ware billig bei anderen ein und verkauft sie teurer
weiter. In Ottopia geht Amazon nach einem Tag pleite.
In der zweiten Woche ist die Kinderstadt eingespielt, manche Geschäfte
florieren, andere haben sich mit ihrer astronomischen Verschuldung
abgefunden. Ein Mädchen heiratet sich auf der Bühne selbst: „Du hast dich
in Ottopia selbst lieben gelernt, willst du ab heute immer bei dir bleiben,
in guten und schlechten Zeiten …“ Einige Gewerke wollen sich nicht mehr
solidarisch krankenversichern – ein neoliberales Lüftchen weht durch
Ottopia.
## Bürgermeister werden – und Mafioso
„Uns ist das ganze Geld geklaut worden.“ Der frühere König Niklas arbeitet
jetzt in der Liebesecke, einer Art Datingplattform mit Steckbriefaushang.
Eine Gruppe Jungs nennt sich selbst die Mafia und streunt übers Gelände auf
der Suche nach kurz unbeaufsichtigten Kassen und Verkaufsware. Jlay und
seine Rathausmitarbeiter*innen schleusen verdeckte
Ermittler*innen in die Mafia ein. Doch als die Hobby-Kriminellen
handgreiflich werden, müssen die Organisatoren einschreiten und eine
Verwarnung aussprechen.
Ottopia soll kein Bullerbü sein. Doch wie die Kinder hier Konflikte
austragen und wie sie komplexe Probleme angehen, alles meist ohne Hilfe von
außen, stimmt zuversichtlich. Ottopia, benannt nach Magdeburgs Stadtgründer
Otto dem Großen, finanziert sich überwiegend durch Spenden. Der Aufwand ist
groß. Nächstes Jahr kann die Kinderstadt nur als Sommercamp stattfinden.
„Dann werde ich Bürgermeister“, sagt ein Junge am letzten Tag zu seinem
Kumpel. „Hä, ich denk Mafia.“ „Beides. Wie in Italien.“
12 Sep 2022
## AUTOREN
Katja Hensel
## TAGS
Demokratie
Kinder
Magdeburg
Gesellschaftliche Teilhabe
Industrie
Franziska Giffey
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