| # taz.de -- Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Der ganz normale Wahnsinn | |
| > In der ukrainischen Hauptstadt geht der Alltag weiter. Doch der Krieg ist | |
| > allgegenwärtig. Offizielle Stimmen sparen nicht mit Pathos. | |
| Bild: Präsidentenpaar Selenski: Für die extra Portion Pathos | |
| Es ist ein heißer Sommertag in Kiew. Wie jeden anderen Tag auch bieten hier | |
| am Sewastopolplatz am Stadtrand von Kiew Verkäuferinnen ihre Lebensmittel | |
| feil: Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Gurken und Pfirsiche finden sich auf | |
| und neben den Ständen. Die Pfirsiche seien wohl aus Odessa, sagt die | |
| Verkäuferin. Klar. Bisher kamen sie aus Cherson. Aber seit der Besetzung | |
| von Cherson wird dieses Gebiet wohl an die Russen liefern müssen. | |
| Am Kreisverkehr am Sewastopolplatz staut sich der Verkehr. Schuld ist ein | |
| Pkw-Fahrer, der mitten auf der Straße aussteigt, um einen LkwFahrer | |
| anzuschreien, was ihm wohl einfalle, ihm einfach die Vorfahrt zu nehmen. | |
| Auf den Kinderspielplätzen tollen Kinder. Noch sind die Schulen leer, am 1. | |
| September werden die Spielplätze leer sein. Cafés und Restaurants sind alle | |
| geöffnet. Auch wenn an diesem Tag die Sirenen häufiger heulen als an | |
| anderen Tagen, scheint das für niemanden ein Grund zu sein, seinen oder | |
| ihren Schritt zu beschleunigen. Kiew ist nicht [1][Charkiw], wo wirklich | |
| scharf geschossen wird. In Kiew hört man seit Wochen zwar Alarm, aber schon | |
| lange keine Raketen mehr. | |
| Die Sirenen werden eher als störend wahrgenommen. Mein EDV-Mann ruft an. Er | |
| habe leider wegen der Kriegsangst Lieferschwierigkeiten. Seine Partner | |
| würden derzeit nicht arbeiten, ich solle mich mit der neuen Tastatur noch | |
| etwas gedulden. Faule Ausrede. | |
| ## Hauptsache kein Krieg | |
| Irgendwo an der Straße steht ein Bus, eine kleine Traube von Menschen steht | |
| davor. Der Bus ist leer und die Menschen davor sind missmutig. Der Fahrer | |
| hatte wohl, kaum dass die Sirenen zu heulen begonnen hatten, angehalten, | |
| alle zum Aussteigen aufgefordert, ihnen gesagt, sie sollten den nächsten | |
| Schutzraum aufsuchen. „Ich habe den Fahrer gefragt, wo denn der nächste | |
| Schutzraum sei“, sagt eine schlecht gelaunte Rentnerin. „Und er hat | |
| geantwortet, das wisse er auch nicht.“ | |
| Es sei nun mal Vorschrift, bei Luftalarm anzuhalten und die Passagiere | |
| aufzufordern, zum nächsten Schutzraum zu gehen, habe er noch hinzugefügt. | |
| „Wenn ich schneller nach Hause käme, wäre das besser für meine Sicherheit, | |
| als wenn ich jetzt hier eine halbe Stunde am Straßenrand rumstehe“, | |
| schimpft die Frau. | |
| Auf den Tag der Unabhängigkeit angesprochen sagt sie, dass sie sich über | |
| den Feiertag freue, und eigentlich nur einen einzigen Wunsch habe: | |
| Hauptsache, wir haben keinen Krieg, und sie spricht über die Verwundeten, | |
| die ihr so leid täten. | |
| „Und ich wünsche mir“, sagt eine junge Frau, „dass wir wirklich unabhän… | |
| sind, wir als Volk. Und auch für mich selbst wünsche ich mir | |
| Unabhängigkeit. Und, ja, ich wünsche mir den Sieg der Ukraine gegen den | |
| russischen Aggressor.“ | |
| ## Hauptsache Sieg | |
| Doch während vor dem Bus und andernorts noch diskutiert wird, was wichtiger | |
| ist, ein Ende des Krieges oder ein ukrainischer Sieg, gibt es im | |
| öffentlichen Raum keine Zweifel: Hier setzt man auf Sieg. | |
| „Was bedeutet das Ende des Krieges für uns?“, fragt sich Präsident Selens… | |
| in einer Ansprache aus Anlass des Unabhängigkeitstags an das Volk. „Früher | |
| sagten wir,Frieden', jetzt sagen wir,Sieg'. Wir setzen uns nicht voller | |
| Angst und mit einer Waffe an der Schläfe an den Verhandlungstisch. Uns | |
| machen nicht die Schützengräben Angst. Was wir fürchten, sind die Fesseln“, | |
| sagte der Präsident und betonte, dass die Ukraine [2][die Krim und den | |
| Donbass zurückholen] werde. | |
| Ähnlich äußerte sich auch der Oberbefehlshaber der ukrainischen | |
| Streitkräfte, Waleri Saluschnyj, in einem Video anlässlich des | |
| Unabhängigkeitstags, in dem er mit einem Soldaten über die Wichtigkeit | |
| eines Sieges spricht. | |
| „Unsere Unabhängigkeit ist ein Geschenk an uns. Und echte Unabhängigkeit | |
| ist [3][mit Blut gewaschen]“, sagt der Soldat. Wer für sie kämpft, kennt | |
| ihren Geschmack. „Es ist der Geschmack von Erde, von Blut und Tod, der die | |
| Luft durchdringt“, antwortet Saluschnyj. | |
| ## Hoffnung auf neue Verhandlungen | |
| Und der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, | |
| Alexej Danilow, kündigte die Zerstörung der Brücke auf die Krim an. Es gebe | |
| nur eine Möglichkeit, diese Brücke zu retten, zitiert focus.ua Danilow. | |
| Nämlich dann, wenn man die Brücke für einen Abzug der russischen Truppen | |
| aus der Krim nutze. Verhandlungen mit Russland sind derzeit für die Ukraine | |
| kein Thema. Die seien nur möglich, so Präsident Selenski, wenn die | |
| russischen Truppen die besetzten Gebiete verlassen würden. | |
| Gleichzeitig berichtet David Arachamia, Abgeordneter der Regierungspartei | |
| Diener des Volkes, Russland sondiere derzeit, ob es wieder eine Möglichkeit | |
| für Verhandlungen gebe. Offensichtlich sehe sich Russland durch die Erfolge | |
| der ukrainischen Armee zu diesem Vorgehen veranlasst, so Arachamia, der bei | |
| den inzwischen eingestellten direkten Gesprächen mit Russland ukrainischer | |
| Verhandlungsführer war. | |
| Während es in Kiew nach wie vor ruhig ist, klagen andere Städte über neue | |
| Opfer. So sind in der letzten Nacht die Städte Saporischschja, Charkiw, | |
| Nikolajew und Dnipro mit Raketen beschossen worden, berichtet strana.news. | |
| 24 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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