# taz.de -- 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Ein Pogrom und die Gegenwehr | |
> Die rassistischen Ausschreitungen von Lichtenhagen wirken bis ins Jetzt | |
> nach. Ein Blick auf die Ereignisse von damals – und die Stadt heute. | |
Bild: Gegenproteste und Schaulustige: Rostock-Lichtenhagen am 29.8.1992 | |
Peer Stolle kommt gerade frisch aus der Haft. Es ist Montag, der 24. August | |
1992, Tag drei der wahrscheinlich massivsten rassistischen Ausschreitungen | |
seit 1945. Der 19-Jährige hatte sich dem Mob in Rostock-Lichtenhagen noch | |
zusammen mit anderen entgegengestellt. Er wurde verhaftet. Jetzt sitzen sie | |
im links-alternativen Jugendzentrum JAZ in Rostock und sehen im Fernseher | |
das Sonnenblumenhaus brennen. | |
„Dass die Ausschreitungen stattfinden würden, war angekündigt. Aber die | |
Dimension hat mich überrascht“, erzählt der Ex-Rostocker 30 Jahre später | |
über die Anfänge des Pogroms. Am Telefon erinnert Stolle sich, dass noch | |
wenige Wochen zuvor die rechtsextreme Kleinstpartei „Hamburger Liste für | |
Ausländerstopp“ asylfeindliche Flugblätter verteilt hatte. Zeitungen | |
griffen das auf: „Die haben in der Woche vorher Menschen zitiert, die in | |
etwa sagten: ‚Samstag werden Steine fliegen‘ oder ‚Samstag räuchern wir … | |
aus.‘ “ Dann ist Samstag. | |
Am 22. August 1992 kommen bis zu 2.000 Menschen vor der ZASt zusammen, der | |
Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber im Sonnenblumenhaus. Es ist eine | |
Mischung aus lokalen Neonazis, erlebnisorientierten Jugendlichen und | |
einfachen Bürger:innen. Betonplatten werden zerbrochen. Die ersten Steine | |
fliegen gegen das Haus, vermummte Jugendliche rufen rechtsradikale Parolen. | |
Im Sonnenblumenhaus, einem Plattenbaukomplex, leben zu dem Zeitpunkt | |
ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen der DDR in einem | |
Wohnheim, in der ZASt kommen Asylbewerber:innen unter. Nur 300 Betten | |
gibt es dort, im Frühjahr 1992 sind alle belegt. Es kommen weitere | |
Geflüchtete, aus dem ehemaligen Jugoslawien und Rumänien. Sie campieren | |
über Wochen vor dem Haus. Um eine Lösung kümmert sich niemand. Überall in | |
Deutschland heißt es zu dieser Zeit nur: Das Boot ist voll. | |
## Jetzt sollen sie wieder gehen | |
1992 dominieren Debatten zu Ausländer- und Asylpolitik die öffentlichen | |
Diskurse – in West wie Ost. „Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“ od… | |
„Fast jede Minute ein neuer Asylant“, lauten Schlagzeilen der Bild. Die | |
Regierungsparteien CDU und CSU fordern die Einschränkung des Grundrechts | |
auf Asyl. Im Osten treffen diese rassistischen Asyldiskurse auf | |
Transformation und Chaos, auf einen erstarkenden Nationalismus und auf | |
chauvinistische bis rassistische Muster der ehemaligen DDR-Gesellschaft. | |
„Mit den massiven Entlassungswellen im Osten kippte die ursprüngliche | |
Euphorie der Ostdeutschen über Mauerfall und Wende zu einer teils | |
depressiven, teils aggressiven Grundstimmung“, analysiert der | |
[1][Historiker Patrice Poutrus]. Die ersten Entlassungen treffen die | |
Arbeitsmigrant:innen der DDR. Ihre Verträge enden mit dem Mauerfall, | |
und die Erwartungshaltung ihrer Nachbar:innen war: Jetzt sollen sie | |
wieder gehen. | |
Poutrus beschreibt das als Umlenkungsstrategie, die von den eigentlichen | |
Problemen ablenke und Gewalt als Mittel der Problemlösung legitimiere: | |
„Wenn man sich nur der Ausländer entledigte, würden alle Probleme gelöst | |
werden. Daraus entstand in Ostdeutschland eine explosive Mischung, die es | |
in der BRD so nicht gab.“ Die Rechtsradikalen fühlten sich berechtigt, | |
selbst für das Verschwinden von anders Aussehenden zu sorgen. | |
Das Onlineprojekt [2][„zweiteroktober90“] zählt allein für die Nacht der | |
Wiedervereinigung über 30 pogromartige Ausschreitungen in der gesamten | |
Bundesrepublik, vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Die Gewalt in | |
der Nacht der Staatsgründung setzt sich in den folgenden Jahren fort. | |
## Das Sonnenblumenhaus brennt | |
Amadeu Antonio wird 1990 das erste bekannte Todesopfer rassistischer | |
Gewalt. In der Nähe von Rostock wird im März 1992 der gebürtige Rumäne | |
Dragomir Christinel getötet. Und am 22. August 1992 eskaliert die Gewalt in | |
Rostock-Lichtenhagen. Zwei Tage später brennt das Sonnenblumenhaus, wie | |
durch ein Wunder überleben alle. | |
Die Polizei ist all die Tage mit zu wenigen Kräften vor Ort. Linke | |
Aktivist:innen versuchen, Präsenz zu zeigen. Am zweiten Tag der | |
Angriffe, dem 23. August, beschließen Peer Stolle und andere, dass sie nach | |
einer ersten Mobilisierung nun genug Leute sind, um einzuschreiten. Am | |
Nachmittag kommen sie zunächst nicht durch die Polizeikette. „Wir haben uns | |
dann später in der Nacht vom 23. zum 24. August formiert, unsere Autos | |
leise geparkt, so laut wie möglich ‚Nazis raus!‘ gebrüllt und sind mit vi… | |
Wut vor dieses Haus gelaufen“, erinnert sich Stolle. „Und dann sind die | |
Nazis weggerannt.“ | |
An diesem Punkt hätte die Geschichte anders laufen können, aber der Moment | |
hielt nicht lange. „Wir sind erst mal vor dem Haus geblieben, wollten dann | |
aber eine Demo durch Lichtenhagen machen“, erzählt Stolle. „Auf dem Rückw… | |
zu den Autos wurden wir festgenommen und saßen bis Montag ein.“ Diejenigen, | |
die das Haus beschützen wollten, werden von der Polizei als | |
Mittäter:innen eingestuft. Ein fataler Fehler. Als Stolle und seine | |
Mitstreiter:innen wieder freikommen, treffen sie sich im JAZ und sehen | |
auf ihrem Fernsehbildschirm das Sonnenblumenhaus brennen. Sie wissen, sie | |
sind zu spät. | |
Der Historiker Poutrus bezeichnet Rostock-Lichtenhagen als konstitutives | |
Moment, als „innere Staatsgründung“ der Berliner Republik. Fester | |
Bestandteil: die Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Die SPD stimmt einem faulen | |
Asylkompromiss zu. „Das Thema wird als politisches Problem behandelt, nicht | |
als humanitäre Frage, und unabhängig davon, welchen Gefahren die | |
eigentlichen Betroffenen ausgesetzt sind“, sagt Poutrus. „Bezeichnend für | |
dieses Moment ist auch die Straflosigkeit der Täter:innen, die eine Art | |
Normalisierung und Legitimation erfahren haben.“ | |
Im April 1999 ist Seyhmus Attay-Lichtermann 15 Jahre alt. Seine Eltern | |
fliehen mit ihm und seiner Schwester aus der Türkei – und landen in | |
Rostock-Lichtenhagen. „Ich verstehe noch immer nicht, warum die Behörden | |
uns dort hingesteckt haben“, erzählt Attay-Lichtermann heute. „Wir haben in | |
einem Block direkt gegenüber des Sonnenblumenhauses gewohnt. Und das war | |
damals von Skinheads besetzt.“ | |
## Beleidigt, angegriffen, zusammengeschlagen | |
Jeden Tag treffen sich die Rechtsradikalen vor dem Haus, beleidigen die | |
migrantischen und migrantisierten Anwohner:innen, schwingen NDP- und | |
Reichsflaggen und brechen mehrfach in Attay-Lichtermanns Keller ein. Auch | |
außerhalb von Lichtenhagen werden er und seine Familie regelmäßig beleidigt | |
und angegriffen. Einmal, in Warnemünde, wird die Familie von etwa 20 | |
Neonazis auf offener Straße zusammengeschlagen. Nur eine Frau und später | |
ein Mann greifen ein. | |
Heute erinnert sich Attay-Lichtermann, mittlerweile Vorsitzender des 1992 | |
gegründeten Migrantenrats Rostock, schmerzhaft an diese Jahre: „Bis heute | |
habe ich Angst, meine Muttersprache im Bus zu sprechen. Ich habe Angst, | |
wieder angegriffen und angespuckt zu werden.“ Insgesamt habe sich das | |
Stadtbild allerdings spürbar verändert. Mehr Migrant:innen ziehen nach | |
Rostock, die Stadt wird bunter. Auch erlebe er ein Erstarken der lokalen | |
Zivilgesellschaft. Das war Arbeit. | |
„Wir mussten uns nach Rostock-Lichtenhagen damit auseinandersetzen, was man | |
nun macht mit der Stadt“, erinnert sich Peer Stolle. Direkt nach dem Pogrom | |
organisiert die Gruppe vom Jugendzentrum JAZ eine Protestdemo, an der etwa | |
20.000 Menschen teilnehmen. In den Monaten und Jahren danach bringen sich | |
die Aktivist:innen verstärkt in die Stadtgesellschaft ein und leisten | |
zivilgesellschaftliche Arbeit zugunsten eines antifaschistischen Klimas in | |
der Stadt. | |
Die zivilgesellschaftliche Arbeit der letzten Jahrzehnte trage auch langsam | |
Früchte, meint Stolle. Heute würden Rechte politisch in Rostock kaum noch | |
eine Rolle spielen. „Natürlich gibt es wie überall die 10 Prozent | |
AfD-Wähler:innen, aber sie bestimmen nicht den Diskurs und das Bild der | |
Stadt.“ Rostock sei eine vielfältige Stadt geworden. | |
„Zyniker haben die Gegendemos später als Lichterkettenromantik bezeichnet“, | |
erzählt Historiker Poutrus. „Aber die haben gezeigt, dass die deutsche | |
Gesellschaft vielfältiger aufgestellt ist, als man denkt. Die eigentliche | |
Konfliktlinie verläuft durch die Gesellschaft selbst.“ Soll heißen: Es ging | |
nie nur um Asylbewerber:innen und Nazis, sondern um die Gesellschaft | |
als Ganzes. Alle definieren gemeinsam, wie wir miteinander leben wollen. | |
„Ohne Gegenwehr ist das, was die Täter tun, was alle denken“, meint | |
Poutrus. | |
Mitarbeit: Katrin Gottschalk | |
23 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Warda | |
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