| # taz.de -- Pogrom von Rostock-Lichtenhagen: Kein Ende in Sicht | |
| > Selbst 30 Jahre nach den rechtsextremen Angriffen auf Vietnames*innen | |
| > und Rom*nja aus Rumänien gilt: Die Aufarbeitung steht noch am Anfang. | |
| Bild: „Empathie“ ist eine von sechs Steinstelen, die in Rostock an das Pogr… | |
| Wir müssen die Würde der Vietnamesen und der Roma wiederherstellen!“ – das | |
| war einer der ersten Sätze, die ich von Menschen hörte, die | |
| Rostock-Lichtenhagen überlebt hatten. | |
| [1][Zwischen dem 22. und 26. August 1992 fand das größte Pogrom der | |
| deutschen Nachkriegsgeschichte in Rostock-Lichtenhagen statt.] Hunderte | |
| Rechtsextreme waren beteiligt. Tausende applaudierende | |
| Zuschauer*innen behinderten nicht nur den Einsatz von Polizei und | |
| Feuerwehr, sondern boten sogar Neonazis Schutz vor der Polizei. | |
| Als dann die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“, wo das Pogrom | |
| begonnen hatte, am 24. August evakuiert wurde, wurde das angrenzende | |
| Wohnheim, in dem sich Vietnames*innen und ein Fernsehteam des ZDF | |
| aufhielten, belagert und mit Molotow-Cocktails in Brand gesteckt. | |
| Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zog sich die Polizei völlig | |
| zurück und ließ die eingeschlossenen Menschen zurück – den Angriffen, dem | |
| Feuer, der Meute ohne jegliche Hilfe ausgesetzt. | |
| ## Ein erster Wendepunkt | |
| 2022 wiederholt sich zum dreißigsten Mal der Jahrestag und damit die | |
| Debatte um die Frage, wie ein komplexes, intersektional verflochtenes und | |
| multiperspektivisches Erinnern möglich ist. Wie kann die Perspektive der | |
| Betroffenen und Überlebenden in den Fokus gestellt werden, eine | |
| Perspektive, die bisher in der zivilgesellschaftlichen und staatlichen | |
| Erinnerungspraxis kaum wahrgenommen wurde. | |
| Der 20. Jahrestag stellte einen kleinen Wendepunkt dar: Auf Druck der | |
| Community wurden 2012 zum ersten Mal die vietnamesischen Opfer eingeladen, | |
| jedoch durften sie keinen Redebeitrag haben, so dass sie, wie der Kultur- | |
| und Poltikwissenschaftler Kien Nghi Ha im Heimatkundeprojekt der Henrich | |
| Böll Stiftung beschreibt, „schmückendes Beiwerk der öffentlichen | |
| Inszenierung“ des staatlichen Gedenkens waren. Seitdem wird jedoch, wenn | |
| über das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen berichtet wird, häufiger versucht, | |
| die Perspektive der ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen | |
| miteinzubeziehen. | |
| Die Entwicklung, migrantische Stimmen zu Wort kommen zu lassen, steht in | |
| einem breiteren bundesrepublikanischen Komplex dieser Zeit: 2011 etwa | |
| machte die Art der Aufdeckung der rechtsterroristischen Mordserie des NSU | |
| einer breiten Öffentlichkeit deutlich, dass die Perspektive von Betroffenen | |
| und Opfern rassistischer Gewalt mehrheitlich ignoriert worden war. Das | |
| rechtsterroristische Netzwerk, welches zwischen 2000 und 2007 aus | |
| rassistischen Motiven Menschen ermordet hatte, blieb bis zur | |
| „Selbstenttarnung“ unentdeckt. Die Polizei hatte rechtsextreme Motive | |
| weitgehend ausgeschlossen und Täter*innen im Umfeld der Opfer gesucht. | |
| Ein ähnliches Ignorieren hätte sich die Stadt Rostock, wo Mehmet Turgut | |
| durch den NSU ermordet wurde, 2012 wahrscheinlich nicht mehr leisten | |
| können. | |
| ## Die Suche | |
| Trotzdem: Selbst 2022 müssen wir konstatieren, dass eine strukturelle, | |
| kontinuierliche und nachhaltige Einbeziehung von Betroffenen und | |
| Überlebenden des Pogroms nicht stattfindet. | |
| Für mich begann die Suche nach den vietnamesischen Überlebenden des Pogroms | |
| 2011. Es war die Zeit der europäischen Finanzkrise und der Beginn des | |
| „Arabischen Frühlings“. Mich interessierte, inwiefern systemische und | |
| staatliche Transformationsprozesse Schauplätze menschlichen Wahnsinns | |
| darstellen könnten. Was in Rostock-Lichtenhagen 1992 geschehen war, schien | |
| ein solcher Fall gewesen zu sein. | |
| In einer mehrjährigen Recherche traf ich Menschen und führte und | |
| transkribierte insgesamt zwei größere und über zwanzig kleinere Interviews. | |
| Aus diesem dokumentarischen Material entstand 2014 das Theaterstück im | |
| heutigen Hamburger MARKK Museum und 2015 ein Hörspiel, in dem Überlebende | |
| über ihre Kindheit im sogenannten „Vietnam“-Krieg, über ihre Zeit als | |
| Vertragsarbeiter*innen, über das Pogrom selbst und dessen direkte | |
| Nachwirkungen sprechen. | |
| Bis heute ist es das einzige Beispiel künstlerischer Auseinandersetzung, | |
| welches sich ausschließlich mit Betroffenenperspektiven auseinandersetzt, | |
| auch wenn es die vietnamesische Perspektive auf die Ereignisse bei Weitem | |
| nicht vollständig abbildet, da ein nicht zu verachtender Teil der | |
| Überlebenden nicht mehr in Deutschland lebt. | |
| ## Antiziganistische Züge | |
| Wenn wir von dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 sprechen, wird aber | |
| oftmals vergessen, dass die Ereignisse sich erstmal gegen Rom*nja aus | |
| Rumänien gewendet haben und nicht gegen Vietnames*innen. Dieser | |
| Antiziganismus des Pogroms wird meistens ausgeblendet; eine | |
| zivilgesellschafliche oder staatlich organisierte Erinnerungskultur, die | |
| die Perspektive der betroffenen Rom*nja mit einbezieht, ist bis heute | |
| entweder gar nicht vorhanden oder stark unterrepräsentiert. Vielleicht kann | |
| man diese Tatsache als einen antiziganistischen Zug der Erinnerungskultur | |
| lesen, von dem linke und antirassistische Ansätze nicht verschont bleiben. | |
| Die Aufarbeitung und Einbeziehung dieser Menschen wird offenbar bis dato | |
| noch nicht als wichtig genug angesehen. Dies ist immer noch eine der | |
| fatalen Leerstellen dieses Pogroms und müsste dringendst nachgeholt werden. | |
| Weiter dürfen wir im Sinne eines intersektionalen Erinnerns nicht nur von | |
| dem Antiziganismus der Weißen Mehrheitsgesellschaft sprechen, es gibt ihn | |
| auch in der vietnamesischen Community. Dieser Antiziganismus führt übrigens | |
| bis heute dazu, dass eine solidarische und gleichberechtigte Aufarbeitung | |
| aus der Perspektive aller Opfer und Betroffenen des Pogroms bis dato | |
| unmöglich erscheint. | |
| Weiterhin ist im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein folgendes Ereignis im | |
| Komplex von Rostock-Lichtenhagen kaum bekannt. Eine Gruppe von Jüd*innen | |
| und Rom*nja mit dem Namen „Söhne und Töchter der deportierten Juden | |
| Frankreichs“ hat im Oktober 1992 das Rostocker Rathaus besetzt. Unter | |
| dieser Gruppe befand sich übrigens auch Beate Klarsfeld, die durch die | |
| Ohrfeige an den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bekannt wurde. | |
| In der Veranstaltung „Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe“ im Hebbel am | |
| Ufer, die mein Produktionsbüro Studio Marshmallow mitorganisiert hatte, | |
| beschrieb Frau Klarsfeld in der Podiumsdiskussion, dass Lichtenhagen für | |
| sie ein Ereignis darstellte, in dem deutlich wurde, dass sich eine neue | |
| Rechte in Deutschland und Europa formierte und man sich dem mit aller Macht | |
| hätte entgegenstellen müssen. Für die „Söhne und Töchter der deportierten | |
| Juden Frankreichs“ war Rostock-Lichtenhagen ein Einschnitt und stellte den | |
| Weg in eine düstere Zukunft dar. Es wurden Parallelen gezogen zu den | |
| Dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. | |
| Dieses Ereignis macht deutlich, dass Rostock-Lichtenhagen nicht nur das | |
| massivste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte war. Es stellt auch | |
| einen Komplex unterschiedlicher und verflochtener Solidaritäten dar, | |
| welcher über die Grenzen der eigenen Communities hinausgehen. Lichtenhagen | |
| ist ein Komplex. Nicht mehr und auch nicht weniger. | |
| Es gibt einen erwähnenswerten Fehler, den man im Zeichen des Erinnerns an | |
| das Pogrom begehen kann: Rostock-Lichtenhagen 1992 ist kein singuläres | |
| Event, sondern einer der Höhepunkte einer Reihe von Ereignissen, die | |
| stellenweise vergessen sind. Neben den Anschlägen in Mölln, Solingen, | |
| Hoyerswerda und anderenorts hat es Anfang der Neunziger (und auch später) | |
| ungezählte rassistisch, antisemitisch und antiziganistisch motivierte | |
| Übergriffe und Anschläge in der gesamten, wiedervereinigten Bundesrepublik | |
| gegeben, welche aber kaum mediale Beachtung gefunden haben. Lichtenhagen | |
| als ein singuläres Ereignis anzusehen und es nicht mit allen diesen | |
| Ereignissen Anfang der Neunziger Jahre bewusst zu verzahnen, wäre | |
| wahrscheinlich ein verharmlosender Akt. | |
| Trotz aller Fortschritte in der Erinnerungskultur: Der dreißigste Jahrestag | |
| stellt immer noch den Beginn der politischen, juristischen, | |
| wissenschaftlichen und sozialen Aufarbeitung dar. Außerdem besteht die | |
| Gefahr, dass wir dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen nur zu den „großen“ | |
| Nuller-Jahrestagen Beachtung schenken. Solange wir dieser Logik der | |
| Eventisierung des Gedenkens folgen, werden wir, so befürchte ich, keine | |
| nachhaltigen Lehren aus diesem Pogrom ziehen. | |
| 26 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Rostock-Lichtenhagen/!t5022396 | |
| ## AUTOREN | |
| Dan Thy Nguyen | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rostock-Lichtenhagen | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Rostock | |
| Pogrom | |
| GNS | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| Hörspiel | |
| Schwerpunkt Rostock-Lichtenhagen | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Pogrom | |
| Schwerpunkt Rostock-Lichtenhagen | |
| Schwerpunkt Rostock-Lichtenhagen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| WDR-Hörspiel „Forever Club“: Kurz vor dem Abschluss | |
| Im WDR-Hörspiel „Forever Club“ bleiben Jugendliche in ihrer Entwicklung | |
| stecken. Sie haben aber auch weder Smartphone noch Internet. | |
| 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: „Finstere Stunden für unser Land“ | |
| Bundespräsident Steinmeier erinnert an die rassistischen Ausschreitungen in | |
| Rostock-Lichtenhagen. Er mahnt zu mehr Zivilcourage. | |
| Rassistische Bedrohung in Celle: Messer auf der Brust | |
| Ein Pizzabote wird von einem Mann überfallen und beschimpft. Er vermutet | |
| einen rassistischen Hintergrund. Die Polizei sieht dafür keine Hinweise. | |
| 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Ein Pogrom und die Gegenwehr | |
| Die rassistischen Ausschreitungen von Lichtenhagen wirken bis ins Jetzt | |
| nach. Ein Blick auf die Ereignisse von damals – und die Stadt heute. | |
| 30 Jahre Pogrom in Rostock-Lichtenhagen: Lange her und noch nicht vorbei | |
| 30 Jahre nach den rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen geht der | |
| Kampf um die Erinnerung weiter. Die Opfer gehören in den Vordergrund. | |
| 30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: Eine Wunde, die nicht heilen will | |
| Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen jährt sich zum 30. Mal. Unser Autor | |
| lebte damals in der Nachbarschaft. Was hat sich seither getan? |