# taz.de -- Flüchtende auf dem Mittelmeer: Brutalität, wo einst Scham war | |
> Sieben Jahre nach dem Tod von Alan Kurdi ist Europa von einer humanen | |
> Flüchtlingspolitik entfernter denn je. Auch die Ampel ist eine | |
> Enttäuschung. | |
Bild: Migranten geben Signale an die Rettungskräfte einer NGO mit ihren Mobilt… | |
Als am Freitag vor genau sieben Jahren [1][der zweijährige Alan Kurdi an | |
der türkischen Küste angeschwemmt wurde], war das erschütternde Foto der | |
Leiche allgegenwärtig. Das in diesem Bild verdichtete Leid der Flüchtenden | |
war damals etwas, das in Europa Scham und Entsetzen auslöste. Ebendiese | |
Scham ist seither verloren gegangen. Die Brutalität, mit der sich Europa | |
gegen Flüchtende abschottet, wird heute nicht mehr versteckt. Die | |
Verantwortlichen stehen zu ihr – völlig ungeniert. | |
Diesen August starb in Griechenland ein anderes Kind auf der Flucht. Es | |
hieß Maria, ein fünfjähriges Mädchen aus Syrien, das mit seiner Familie | |
nach Griechenland zu gelangen versuchte wie einst Alan Kurdi. Doch heute | |
ist Griechenland offen dazu übergegangen, Schutzsuchende mit Gewalt am | |
Grenzübertritt zu hindern – tausendfach. | |
Marias Familie saß wochenlang auf einer Insel im Grenzfluss Evros fest; | |
griechische Sicherheitskräfte versperrten den Weg. Medien berichteten, | |
nichts geschah. Die Familie trank Wasser aus dem schlammigen Fluss, das | |
Kind starb. Der Spiegel-Journalist Giorgos Christides, der den Fall von | |
Maria und ihrer Familie mit recherchierte, wurde in diesen Tagen von der | |
griechischen Regierung öffentlich und persönlich angegriffen, wie man es | |
sonst aus autokratischen Staaten kennt. | |
Der Blick nach Malta, nach Libyen, nach Italien, nach Algerien, nach Ceuta | |
und Melilla, an den Ärmelkanal, an die Grenzen von Polen und Belarus, von | |
Kroatien und Serbien zeigt ein ähnliches Bild: eine mörderische Entrechtung | |
Hilfloser, wofür sich heute niemand mehr ernsthaft schämt, wofür keine | |
politischen Konsequenzen mehr zu befürchten sind. | |
## Sinkende Boote im Wochentakt | |
Im Wochentakt sinken Flüchtlingsboote im Mittelmeer, immer noch, immer | |
wieder, obwohl ihre Rettung ein Leichtes wäre. Welche Rolle Deutschland, | |
lange Treiber der Abschottung, in dieser Lage spielen will, ist offen. Die | |
Ampel hat die Dinge im Koalitionsvertrag klar benannt, sich verpflichtet, | |
die Entrechtung zu stoppen – und dafür konkrete Vorhaben genannt: | |
staatliche Hilfe für die Seenotrettung, Entlastung für die | |
EU-Außengrenzenstaaten durch einen freiwilligen, aber wirksamen | |
Umverteilungsmechanismus für Ankommende. | |
Während in den vergangenen Monaten anderes, Unabweisbares auf die Agenda | |
drängte, ist die Bilanz der Ampel bisher äußerst dürr. Eine Politik, die | |
Flüchtlingsrechten wieder Geltung verschafft, ist nicht in Sicht. Jene, die | |
in der Flüchtlingsabwehr keine zivilisatorischen Hemmungen mehr kennen, | |
ermutigt das weiter. Und wenn in Italien bald die Postfaschisten die | |
Regierung anführen, wird die Lage noch schwieriger. | |
2 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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– und erntet keinen souveränen Protest aus flüchtlingsfreundlichen Ländern. |