| # taz.de -- Gender-Bias und Kleidung: Wer braucht eigentlich Badeanzüge? | |
| > Wir leben in einer Kultur der visuellen Differenz. Nicht alle können es | |
| > sich aussuchen „sichtbar“ zu sein. Ein Plädoyer für queere Präsenz –… | |
| > Zukunft. | |
| Bild: Queer schwimmt es sich gut: Badende auf dem Summer Splash im Kreuzberger … | |
| Ein Badeanzug musste es irgendwann doch sein. Ich war etwa elf und hatte | |
| bis dahin mit den anderen Hortkindern ohne T-Shirt im Park Fußball | |
| gespielt. Ich war eine super Abwehr und bekam einmal den Ball direkt unter | |
| die Nase geschossen. Zwar war ich für ein paar Minuten komplett | |
| ausgeknockt, aber das Tor hatte ich verhindert. Überhaupt waren meine | |
| Freund:innen hauptsächlich Jungs und ich selbst war als „Andi“ unterwegs. | |
| Dass wir in der Kinderabteilung jetzt Badeanzüge für Mädchen kaufen | |
| mussten, tat meinen Eltern sichtlich leid. Blau und rot gestreift war er, | |
| damals malte ich nämlich am liebsten Bilder mit Kindern, die zu Hause oder | |
| im Krankenhaus große Mengen an blau oder rot gestreiften Socken und | |
| Unterhosen auf Vorrat hatten. Den Farbgeschmack behielt ich mir also im | |
| gegenderten Badeoufit bei. | |
| Ich bin meinen Eltern heute noch dankbar, dass sie es sofort akzeptierten, | |
| als ich mit drei Jahren beschloss, keine Kleider zu tragen. Mir einen | |
| Badeanzug zu kaufen war Schutz gegen sexistische Blicke auf einen | |
| Oberkörper, [1][der in dieser Gesellschaft nicht nackt sein darf.] Auch | |
| dafür bin ich ihnen dankbar. Gleichzeitig ist vielleicht dieser | |
| Schlüsselmoment, in dem mir die ganze Wucht der Gendernormen | |
| entgegenschlug, im Rückblick auch der Grund, dass mir das Paradigma der | |
| „Sichtbarkeit“ immer so großes Unbehagen bereitet, wenn von queeren | |
| politischen Zielen die Rede ist. | |
| Wörtlich bedeutet „Sichtbarkeit“, visuell erkennbar zu sein. Einige von uns | |
| waren aber schon immer sichtbar. Wir leben in einer Kultur der visuellen | |
| Differenz. Die Idee dessen, wer als „anders“ identifizierbar ist, ist an | |
| Vorstellungen von Normkörpern und genderkonformer Kleidung ebenso geknüpft | |
| wie an Rassismus. | |
| ## Die Mehrheitsgesellschaft urteilt per Blickdiagnose | |
| Die Register folgen dabei anderen Regeln und schreiben sich unterschiedlich | |
| in Körper ein. Was sie aber gemeinsam haben, ist die Idee, dass die | |
| Mehrheitsgesellschaft stets das Recht habe, per Blickdiagnose zu bestimmen, | |
| wer ihr angehört und wer nicht. Praktiken der sozialen Überwachung, [2][der | |
| medizinischen Einordnung in Geschlechter] und des Racial Profiling sind | |
| allgegenwärtig. So steckt in Auffälligkeit auch immer eine Spur | |
| Abnormalität und Kriminalisierung. Und wo ein Name nicht zur Wahrnehmung | |
| passt, geht der imaginäre Blick unter die Gürtellinie. | |
| Nicht alle können es sich aussuchen, sichtbar zu werden, denn ihre Körper | |
| werden schon per se als „anders“ gelesen. Sie sind in den Blickachsen, die | |
| historisch dazu dienten, Ungleichheit zu rechtfertigen, nicht nur sichtbar, | |
| sondern hypersichtbar. Im Kampf gegen „Unsichtbarkeit“ wird dies aber oft | |
| vergessen. Darum kämpfe ich lieber für queere Präsenz. Und Zukunft. | |
| Eine passende Antwort auf den Backlash, der uns unsere Existenz abspricht | |
| und davon faselt, dass wir Kinder mit „Gender-Idelogien“ indoktrinieren. | |
| Gender-Ideologie ist wenn dann das, was mich mit elf zum Tragen eines | |
| Badeanzugs gezwungen hat. Mein genderqueeres Mini-Ich blieb trotzdem | |
| präsent. | |
| 1 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Noemi Molitor | |
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