| # taz.de -- Gedenkdemo in Rostock-Lichtenhagen: Tausende gegen das Vergessen | |
| > Eine Gedenkdemo mit 5.000 Teilnehmenden hat an das Pogrom von | |
| > Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren erinnert. Einige Anwohner würden es | |
| > lieber vergessen. | |
| Bild: Einige Anwohner in Rostock würden lieber vergessen, am Samstag demonstri… | |
| Rostock taz | Jahrzehntelang hatte die Stadt Rostock offiziell nur von | |
| „Ausschreitungen“ gesprochen, die 1992 in Lichtenhagen stattgefunden | |
| hätten. In den jüngsten Pressemitteilungen hingegen verwendet sie das Wort | |
| Pogrom. Der Begriff bezeichnet kollektive Gewalt gegen Minderheiten mit | |
| Duldung oder Unterstützung des Staates. Die [1][Ereignisse von | |
| Lichtenhagen] historisch korrekt so zu bezeichnen – das ist eine der | |
| Forderungen des Bündnisses „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“. | |
| Das hatte für Samstag zur zentralen Gedenk-Demonstration in Rostock | |
| aufgerufen. Imam-Jonas Dogesch, einer der Sprecher des Bündnisses, ist | |
| guter Dinge. „Zum ersten Mal hat die Betroffenenperspektive so viel Raum | |
| gefunden,“ sagt der Sozialarbeiter, der im Landesintegrationsbeirat von | |
| Mecklenburg-Vorpommern sitzt. | |
| Die aus Rumänien stammende Romni Izabela Tiberiade hält am Samstag die | |
| erste Rede. Es ist das erste Mal überhaupt, dass eine direkte | |
| [2][Angehörige der Opfer beim Lichtenhagen-Gedenken] zu Wort komme, sagt | |
| Dogesch. Ein „historischer Moment“. | |
| Genau die gleiche Formulierung verwendet auch Tiberiade selbst. Ihre Eltern | |
| waren 1992 im Sonnenblumenhaus fast verbrannt, als Neonazis | |
| Molotow-Cocktails auf das Gebäude warfen. Es sei ein „ein historischer | |
| Moment, in dem die Roma die Möglichkeit haben, ihre Geschichte | |
| zurückzufordern“, sagt sie nun. „Wir sind zum Dialog und zum Gespräch | |
| eingeladen, und das kann nur zu einem Heilungsprozess führen.“ | |
| ## „Erinnern heißt verändern!“ | |
| Für den Samstag waren schwere Regenfälle vorhergesagt worden. Doch es | |
| bleibt trocken, als sich am Nachmittag Tausende Demonstrant*innen auf | |
| einem Parkplatz in Sichtweite des Sonnenblumenhauses versammeln – dem Ort | |
| des Pogroms vor 30 Jahren. „Damals wie heute: Erinnern heißt verändern!“ | |
| ist das Motto der Demo. Die Polizei begleitet sie mit einer Handvoll | |
| Mannschaftswagen, hält sich aber zurück. | |
| Gegen 16 Uhr heißt es vom Lautsprecherwagen, es seien 10.000 Menschen auf | |
| der Straße. Doch diese Zahl ist deutlich zu hoch gegriffen. Am Ende | |
| vermelden die Organisator*innen eine deutlich realistischere Schätzung | |
| von 5.000. | |
| Eine Rednerin verliest einen Beitrag von Romano Sumnal, dem sächsischen | |
| Verband der Sinti und Roma. „Jeder weiß, was hier passiert ist, darf nie | |
| wieder geschehen.“ Doch die Geschichte der Roma trete dabei oft in den | |
| Hintergrund. „Über unsere Opfer, ihre Ausgrenzung und ihr Leid ist wenig | |
| bekannt.“ | |
| Das soll am Samstag anders sein. Die Perspektive der Roma ist sehr präsent. | |
| Ein Sprecher des Roma Center Göttingen sagte, das Pogrom sei Ergebnis einer | |
| „von Politik und Medien geschürten Stimmung gegen Geflüchtete.“ | |
| Nur vier Wochen nach dem Pogrom unterzeichnete der damalige Innenminister | |
| Rudolf Seiters (CDU) ein „Abkommen zur Erleichterung der Rückkehr | |
| ausreisepflichtiger Ausländer“ mit Rumänien, auf dessen Grundlage die Roma, | |
| die zur Zeit des Pogroms im Sonnenblumenhaus gelebt hatten, größtenteils | |
| kurze Zeit später abgeschoben wurden. | |
| Für die Gruppe der vietnamesischstämmigen Bewohner*innen des Hauses | |
| sprechen am Samstag zwei Frauen des Vereins „Korientation“ aus Berlin. Die | |
| Opfer „hätten unsere Eltern sein können“, sagen sie. Das Pogrom sei der | |
| „tragische Höhepunkt anti-asiatischen Rassismus, der unsichtbar gemacht | |
| wird“ und der [3][„bis in die Gegenwart reicht“]. Es berühre sie direkt, | |
| dass es bis heute keine offizielle Entschuldigung oder Wiedergutmachung | |
| gebe. | |
| ## Entschädigungen nicht in Sicht | |
| Das Gedenkbündnis fordert neben einem Rückkehrrecht auch einen | |
| Opferentschädigungsfonds für die damaligen Bewohner*innen des | |
| Sonnenblumenhauses. Der ist bislang nicht in Sicht. | |
| Explizit um Entschuldigung gebeten hatte auch Bundespräsident Frank-Walter | |
| Steinmeier (SPD) bei seiner Rede auf der offiziellen Gedenkfeier am | |
| Donnerstag in Rostock nicht. Allerdings sagte er, was in Lichtenhagen | |
| geschehen sei, sei „eine Schande für unser Land“ und für diese Schande | |
| trage die Politik „große Mitverantwortung“. Der Rechtsstaat, der die | |
| Pflicht hatte, die Bewohner*innen des Hauses zu beschützen, habe sie | |
| alleingelassen. Das sei „unverzeihlich“. | |
| Vor dem Sonnenblumenhaus spricht auch Çetin Gültekin, der ältere Bruder des | |
| bei dem Massaker am 19. Februar 2020 in Hanau erschossenen Gökhan Gültekin. | |
| Er erinnerte an Berührungspunkte des [4][Attentats von Hanau] mit rechter | |
| Gewalt in Ostdeutschland. Für den Mord an seinem Bruder lieh sich der Täter | |
| von Hanau eine Česká – die gleiche Waffe, wie der NSU sie benutzt hatte. | |
| Für Gültekin ein klarer Beleg für die ideologische Bezugnahme. Der NSU | |
| wiederum hatte mit seiner Česká unter anderem am 25. Februar 2004 an einem | |
| Döner-Imbiss in Rostock den Kurden Mehmet Turgut mit drei Kopfschüssen | |
| ermordet. „Und die Pogrome von Lichtenhagen und Hoyerswerda haben die | |
| NSU-Täter in ihrer Jugend geprägt und radikalisiert“, sagte Gültekin am | |
| Samstag. So schließe sich der Kreis. | |
| ## Einige Anwohner wollen lieber vergessen | |
| An der Warnowallee steht Wladimir, ein alter Mann im Kurzarmhemd, auf dem | |
| Kopf eine Schiebermütze. Er zündet sich eine Zigarette an und schaut dem | |
| Demozug hinterher. „Was ist das da?“, fragt er. Die Erklärung hört er sich | |
| nickend an. Er stammt aus Nowosibirsk, hat dort eine Russlanddeutsche | |
| geheiratet. Als deren Familie vor 22 Jahren herzog, zog er mit. Früher war | |
| er Sportlehrer, heute ist er Rentner. Von dem Pogrom habe er zum ersten Mal | |
| im Deutschunterricht, kurz nach seiner Ankunft, gehört. „Das ist das | |
| Schlimmste, was man machen kann“, sagt er. Doch heute spiele das Ereignis | |
| im Stadtteil keine Rolle mehr. „Da redet keiner drüber.“ | |
| Wer am Samstag in Lichtenhagen bei Rewe an der Kasse steht, hört, wie | |
| Kunden zur Kassiererin Sätze sagen wie „Was interessiert mich, was hier vor | |
| 30 Jahren war.“ | |
| Die Online-Ausgabe der Schweriner Volkszeitung macht bis Sonntag früh mit | |
| einem Bericht über die Demo auf, dessen Unterzeile lautet: „Lichtenhäger | |
| übten Kritik an dem Aufzug und wollen lieber einen Schlussstrich ziehen: | |
| ‚Die werden wieder mit Bussen wie 1992 herangekarrt und dann werden wir in | |
| Lichtenhagen als Mob beschimpft.‘“ | |
| Als Erstes kommt in dem Artikel eine anonyme Anwohnerin zu Wort, die | |
| wünscht „nach 30 Jahren sollte man auch irgendwie mal vergessen.“ Wer | |
| damals die Ausschreitungen nicht selbst miterlebt habe, solle heute nicht | |
| auf die Straße gehen. Direkt danach zitiert die Zeitung einen zweiten | |
| Lichterhäger, der „nichts gegen die ‚normalen Protestierer‘, aber die | |
| Vermummten“ habe. | |
| Besonders braun ist der Stadtteil indes heute nicht: Bei der Bundestagswahl | |
| 2021 wählten hier 17,7 Prozent die AfD, das ist etwas weniger als in | |
| Mecklenburg-Vorpommern insgesamt. Die NPD spielt hier keine Rolle mehr. | |
| ## „Immer noch eine kalte Haltung der Mehrheit“ | |
| „Ja, der Stadtteil hat sich verändert“, sagt der Bündis-Sprecher Imam-Jon… | |
| Dogesch. „Es ist nicht mehr derselbe, eine Entwicklung ist da.“ In | |
| Lichtenhagen lebten viele Migranten und bei der Demo seien auch einige der | |
| Anwohner*innen gewesen. Doch dass viele Bewohner*innen wollten, | |
| dass Lichtenhagen heute nicht mehr mit dem Pogrom im Verbindung gebracht | |
| werde, sei nicht akzeptabel. „Insgesamt gibt es immer noch eine kalte | |
| Haltung der Mehrheit gegenüber dem Gedenken.“ | |
| Immerhin: Am Samstag gab es „keine Schwierigkeiten mit der Polizei oder | |
| Pöbeleien von Umstehenden“, so Dogesch. Eine kleine Gruppe von Neonazis | |
| habe sich in der Nähe aufgehalten, aber nichts unternommen. | |
| Das Bündnis, dem 40 überwiegend lokale und regionale Initiativen – unter | |
| anderem die Interventionistische Linke, der AStA der Uni Rostock und Women | |
| in Exile – angehören, bewertet das Verhalten der Stadt Rostock ambivalent. | |
| „Dass sie seit ein paar Wochen den Begriff Pogrom benutzen, finde ich gut“, | |
| sagt Sprecher Dogesch. | |
| ## Keine Umbenennung nach NSU-Mord | |
| Drei der Kandidaten für die OB-Wahl am 16. November seien am Samstag nach | |
| Lichtenhagen gekommen. Weniger gut sei, dass nach wie vor zu wenig getan | |
| werde, um „Nazi-Netzwerke zu zerschlagen.“ Zudem weigere sich die Stadt, | |
| den Neudierkower Weg im Stadtteil Totenwinkel in Mehmet-Turgut-Weg | |
| umzubenennen. | |
| Der aus Rostock stammende und damals in Lichtenhagen anwesende Rechtsanwalt | |
| Peer Stolle sagte am Samstag, Erinnern dürfe „niemals nur symbolpolitisch | |
| sein“. An das Pogrom zu erinnern, bedeute für die Zivilgesellschaft auch, | |
| eine Niederlage einzugestehen, weil „wir es nicht geschafft haben, das zu | |
| unterbinden“. | |
| In ganz Rostock hängen am Samstag in offiziellen Werbeflächen Plakate des | |
| Vereins Bunt Statt Braun. Der hatte einen Wettbewerb für das | |
| Lichtenhagen-Gedenken veranstaltet. Gewonnen hatte der Slogan: „Wenn so | |
| viele schweigen, müssen wir noch lauter sein“, ein Zitat der Punkrock-Band | |
| ZSK. | |
| Stolle spielt bei seiner Rede auf der Demo auf die Plakate an und sagt, es | |
| reiche nicht, bloß lauter zu sein. „Es geht ums Handeln.“ | |
| 28 Aug 2022 | |
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| Christian Jakob | |
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