| # taz.de -- Die Wahrheit: Komm doch mit auf den dunklen Berg | |
| > 25 Jahre Netflix. Eine letzte Serie fehlt noch. Eine Familie. Gangster, | |
| > Nazis, schwarze Koffer: „Rheinberg“ (Teil 1). Nach wahren Begebenheiten �… | |
| Bild: Die dritte Kostbarkeit Rheinbergs: Claudia Schiffer | |
| Würde ich das Drehbuch einer Fernsehserie schreiben, würde ich die Serie | |
| „Rheinberg“ nennen. Und das für solche Sagas obligatorische dunkle | |
| Familiengeheimnis, das im Laufe der Handlung offenbart wird, käme aus der | |
| mysteriösen Kräuterlikörsippe Underberg. Zwei Familien stünden sich | |
| gegenüber: die redliche, kleinbürgerliche mit dem putzigen Namen Zimmer und | |
| die mächtige, großbürgerliche der Underbergs. Und der Bogen würde sich | |
| schließen auf dem Friedhof Annaberg, auf dem beide Familiengräber, das | |
| prächtige mit den gewaltigen, mannshohen Heiligenfiguren und das schlichte | |
| mit dem schwarzen Stein und den weißen Buchstaben, beinahe nebeneinander | |
| liegen. | |
| Drei Kostbarkeiten hat das linksrheinische Städtchen Rheinberg | |
| hervorgebracht: Underberg, Claudia Schiffer und meine Uroma. Lassen wir die | |
| schöne Schiffer kurz zur Seite, die wird später, sehr viel später auch noch | |
| erscheinen. Zunächst aber tritt auf eine kleine, kugelige, grauhaarige Frau | |
| mit einer glasbausteindicken Brille, sie ist ungefähr ein Meter fünfzig | |
| hoch und älter als das Jahrhundert. Zu ihrem 90. Geburtstag bekommt sie ihr | |
| erstes Telefon, das sie ebenso ehrfürchtig bestaunt wie das kurz zuvor in | |
| der guten Stube platzierte Fernsehgerät, das nur sonntags eingeschaltet | |
| wird, um die weite Welt zu bestaunen. | |
| Was es da alles zu entdecken gibt für eine greise Urgroßmutter, die – und | |
| jetzt blenden wir in die Vergangenheit zurück – noch im 19. Jahrhundert auf | |
| einem Bauernhof vor den Toren Hamelns geboren wird und früh nach dem Tod | |
| der Mutter als Älteste ihre Geschwister und den Vater versorgen muss. Nur | |
| ein Vergnügen hat Anna in ihrer kärglichen Jugend, freitags trägt sie die | |
| frischen Eier vom Hof in die Stadt, um sie gegen Brot zu tauschen, denn | |
| ihre Schwester hat einen Bäcker geheiratet. Am Wochenende findet dort auf | |
| dem Boden ein Tanz statt, zu dem ein schmucker Geiger aufspielt. Paul ist | |
| Kapellmeister beim Militär. | |
| Wild legt die Musik los, die auch heute noch zum Tanzen einlädt, und die | |
| Paare wirbeln umeinander, bis die Liebe wo hinfällt wie die jungen | |
| Turteltäubchen ins Stroh. Bevor jedoch geheiratet wird, lernt Anna auf | |
| einer Schule ganz unromantisch das Hauswirtschaften und wird danach ihr | |
| Leben lang eine exzellente Köchin sein – besonders im Fachgebiet | |
| „Westfälische Braten“. Danach erst greift sie sich den Musikus, der aus dem | |
| Militärdienst ausscheidet und vom Staate Preußen in ein anderes Amt fern | |
| der Heimat beordert wird – an den fremden Niederrhein, wo Paul künftig | |
| nicht nur als Post-, sondern auch als Kapellmeister der Feuerwehr ein | |
| ehrenwertes Mitglied der kleinstädtischen Gesellschaft wird. Mit | |
| Tschingderassabum zieht er an hohen Festtagen wie der Kirmes den trötenden | |
| und paukenden Bürgern voran feierlich durch die zweite Heimat. | |
| ## Immer gleiches Gebräu | |
| Rheinberg wird von einer rätselhaften Familie beherrscht: den Underbergs, | |
| die seit anno dunnemals unter dem Motto „semper idem“ ihren Kräuterlikör | |
| zusammenrührt, dessen Geheimrezept nur das Familienoberhaupt und dessen | |
| Beichtvater, der Abt des Eifel-Klosters Maria Laach, kennt, damit das | |
| Gebräu „immer gleich“ bleibt. So erzählt es die „Oma Rheinberg“, wie … | |
| der Urenkel nennt, wenn er sie stets donnerstags nach der Schule im | |
| Nachbarort besucht. Und wir befinden uns wieder in der Gegenwart, die | |
| allerdings die achtziger Jahre sind. | |
| Während die Uroma auf ihrem antiken, von Holzscheiten betriebenen Feuerofen | |
| mit den herausnehmbaren glühenden Metallringen köstliche Rinderrouladen | |
| brät, schildert sie dem Jungen das exotische Leben der da oben auf dem | |
| Kräuterberg. Dass das nicht alles wahr sein kann, weiß der Junge, er ahnt | |
| aber, dass zwischen den Gerüchten und Fabeln die eine oder andere Wahrheit | |
| versteckt liegt. | |
| An Rheinberg ist alles Underberg, selbst das Schwimmbad heißt | |
| „Underberg-Bad“. Wie es überhaupt viele „Berge“ am flachen linken | |
| Niederrhein gibt, wo jeder verwarzte Huckel zu einem Gebirge aufgeblasen | |
| wird. Tatsächlich heißt dann ein Dorf „Alpen“ oder die mickrige höchste | |
| Erhebung „Oermter Berg“, und mitten drin liegt die „Sonsbecker Schweiz“… | |
| sind sie, die Niederrheiner: bodenständig und gern himmelhoch übertreibend | |
| – und, von winzigen Flecken der Diaspora abgesehen, abgrundtief katholisch. | |
| Tief gläubig sind auch die Underbergs – und von Geheimnissen umwittert, | |
| weil, wie so oft in rheinischen Kapitalistenfamilien, das Mysterium des | |
| Glaubens und des Geldes Hand in Hand gehen. Nichts darf aus dem Innersten | |
| der Familie nach außen dringen – das ist ehernes Gesetz und befeuert die | |
| Legendenbildung. Deshalb antwortete der englische Schriftsteller K. G. | |
| Chesterton auf die Frage, warum die meisten Kriminalgeschichten unter | |
| Reichen spielen: „Weil die Armen keine Geheimnisse haben.“ | |
| ## Sagenhaft reiche Sippe | |
| Oma Rheinberg aber kann bezeugen, woher der fantastische Reichtum der | |
| Underbergs stammt: Eines Tages zu Beginn der zwanziger Jahre nämlich soll | |
| „der Alte“, wie sie ihn nur nennt, nach Amerika gereist sein – die USA | |
| hatten sich gerade entschlossen, das Land alkoholisch trockenzulegen. | |
| Dreizehn lange Jahre hält die Prohibition die Staaten im Griff, das | |
| organisierte Verbrechen erlebt seinen kometenhaften Aufstieg und die | |
| Underbergs werden sagenhaft reich. Doch nicht weil sie brutale Gangster | |
| sind, dafür sind die Rheinberger viel zu clever. | |
| Einen großen schwarzen Aktenkoffer hat der Alte dabei, und mit ihm | |
| marschiert er in Washington direkt ins Gesundheitsministerium, wo er einen | |
| Termin beim Staatssekretär hat. Der Alte platziert den Koffer auf dem | |
| wuchtigen Schreibtisch und öffnet ihn, damit der hochrangige Beamte die | |
| prallen Geldbündel sehen kann. Dann erklärt der Alte, dass Underberg „from | |
| the Rhine in Germany“ kein alkoholisches Getränk zur Erzielung eines | |
| Rauschs sei, sondern vielmehr ein Magenbitter mit 43 Kräutern, ein | |
| Medikament, das man selbstverständlich auch während des Alkoholverbots | |
| weiterhin in Apotheken oder Drugstores erwerben können müsse. | |
| Von den schlüssigen Argumenten überzeugt, stimmt der Ministerialbeamte dem | |
| Ansinnen zu und erhält den Kofferinhalt als Ausgleich für die aufwendigen | |
| bürokratischen Formalitäten. Der Kräuterlikör wird ab sofort als Mittel | |
| gegen Magen- und sonstige Leiden freigegeben – unter einer Bedingung: Das | |
| kleine Fläschchen müsse mit bräunlichem Packpapier umhüllt werden, denn | |
| Alkohol, der nun mal zu 44 Prozent in dem Wundertrank enthalten sei, dürfe | |
| auf Amerikas sauberen Straße nicht öffentlich konsumiert werden. | |
| Deshalb ist auch heute noch jedes Underberg-Fläschchen in Packpapier | |
| gehüllt. Und so rettet Underberg Millionen Alkoholikern in den USA während | |
| der Prohibition das Leben. Der gewiefte Alte aber verlässt das | |
| Gesundheitsministerium mit einem leeren Koffer, bereit, fortan Millionen | |
| Dollar zu scheffeln … Fortsetzung morgen. | |
| 29 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Ringel | |
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