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# taz.de -- Russland im Krieg: Moskaus Sommer
> In Russland verdrängen viele den Krieg. Doch er kommt immer näher:
> Autobomben, überfüllte Gefängnisse und Explosionen im Urlaub werden
> Alltag.
Bild: Nicht nur, wenn man an der Duma vorbeiläuft, duckt man sich in Russland …
Die Sanktionen, mit denen Russland konfrontiert ist, zeigen spürbare
Wirkung. Das zumindest sagt Alexander, Inhaber eines Geschäfts für
Dekorationen in Moskau, der nicht will, dass sein echter Name in der
Zeitung steht. „Das Leben muss weitergehen. Aber wie?“, fragt sich der
55-Jährige. Sein Geschäft halte sich mehr schlecht als recht, weil er die
Waren eigentlich im Ausland bestellt, die Zahlungssysteme aber kaum mehr
russische Konten akzeptieren. Er hat Umwege gefunden, sie nehmen aber viel
Zeit in Anspruch. Und Nerven. In seiner Familie hat er sich mit fast jedem
Verwandten zerstritten, weil viele Russlands „Spezialoperation“ in der
Ukraine rechtfertigen, sie gut heißen oder gar nichts dazu sagen. Aus
Angst.
Im Südwesten der Stadt liegt der Meschtscherski-See. Rotorblätter
zerschlagen die Luft, in der Ferne erscheint ein Hubschrauber. Ein anderer
folgt ihm, noch einer und noch einer. Die Helikopter in Tarnfarben der
russischen Armee fliegen flach über das Wasser des Sees.
Der Krach der Militärtechnik lässt die Menschen am Sandstrand kurz
verstummen. „Ach, das sind die Unsrigen“, sagt eine Frau im türkisfarbenen
Badeanzug zu ihrem Enkel fast nebenbei. „Die Unsrigen beschützen uns.“ Sie
reicht dem Jungen ein Stück Brathähnchen, die pralle Sonne scheint auf ihre
Köpfe. Kinder planschen im See, Jugendliche schlecken ihr Eis, Männer wie
Frauen spielen Beachvolleyball. Alexander erträgt diese Unbeschwertheit
kaum.
Es ist Sommer, wie er immer ist in Moskau: heiß, stickig, mit lauem Wind.
Die Armee-Helikopter über dem See sind nur eine kurze Störung. Knapp 50
Kilometer westlich zeigt das Verteidigungsministerium in einer Ausstellung,
was die russischen Streitkräfte zu bieten haben. Zehn Kilometer südlich
laufen wenige Tage später Soldaten bei einem „Panzer-Biathlon“ auf. Sie
kämpfen dort gegen Mannschaften aus Simbabwe, Mali und dem Sudan, aus
Tadschikistan, Abchasien und Südossetien. Die Veranstaltungen sind gut
besucht. Vor allem Familien kommen. Kinder klettern auf Panzern herum, die
Eltern fotografieren sie mit Gewehr und Armeehelm.
Die Begeisterung fürs Militärische wird in Russland seit jeher gepflegt.
Dass russische Truppen ein Nachbarland zerstören, während hunderte Menschen
hier, auf dem Polygon Alabino, Salven aus Panzerrohren zujubeln, findet auf
diesem Armeegelände niemand seltsam. „Krieg? Welcher Krieg?“ ist die
vorherrschende Haltung, obwohl nebenan Ehrenamtliche in Zelten um den
Dienst als Vertragssoldat werben. Der Einsatz in der Ukraine werde gut
bezahlt, versichern sie. Alexander, der Mann fürs Dekorative, hatte einst
selbst bei der Armee gedient. Freunde in der Ukraine haben sich mit dem
Beginn des Krieges von ihm abgewandt, er verstehe sie, „irgendwie“. „Seit
einem halben Jahr schlafe ich schlecht, weil ich nach irgendwelchen
Lösungen suche, wie dieser Irrsinn aufhören könnte. Ich finde sie nicht.
Unser Land ist ein Verbrecherstaat, aber viele in meinem Umfeld finden das
Verhalten der Regierung richtig.“
Tatsächlich lautet das Mantra der russischen Mehrheit: „Der Sieg wird unser
sein“, dabei verdrängen sie, was gerade passiert und nehmen das Wort
„Krieg“ nicht mal in den Mund. Sie behelfen sich mit Worthülsen, die wie
auswendig gelernt, widersprüchlich und gefühllos klingen. „Was sein muss,
muss sein, wir werden auch das durchstehen“, hört man oft.
Manche beten solche Sätze aus Überzeugung nach, andere aus Selbstschutz.
„Mich geht das ja nichts an“, sagt die Frau in Türkis am
Meschtscherski-See. „Was bitte soll ich ändern? Ich bin gar nicht kompetent
genug, mich dazu zu äußern. Die Politiker werden schon wissen, was sie
tun.“
Der Krieg in der Ukraine ist in Russland auch sechs Monate nach seinem
Beginn seltsam abwesend. Die „Spezialoperation“ findet vor allem im
Staatsfernsehen statt, Actionmovies gleich oder als anrührende Filmchen
über die „humanitäre Mission“ zur „Befreiung“ der Ukraine.
Terror und Vernichtung werden selten thematisiert, und wenn, werden die
„ukrainischen Nazis“ dafür verantwortlich gemacht. In Talkshows machen sich
Moderatoren und Moderatorinnen lustig über die Angst Westeuropas vor einem
kalten Winter. Mutmaßlich russische Kriegsverbrechen gelten als „Fake“ und
noch die schlimmsten Schrecken des Krieges werden zynisch kommentiert.
Die Sprache ist durchsetzt mit Worten wie „Abschaum“, „Arschgeigen“,
„Abfall“, von dem sich Russland lossagen müsse. Jede Kritik am Vorgehen der
russischen Regierung wird mit dem Label „Fünfte Kolonne“ versehen, die sich
gegen die „großartige russische Zivilisation“ zu stellen wage. Solche Typen
seien „russophobe Abtrünnige“ und „vom Westen bezahlte Prostituierte“.…
mit solchen „Verrätern“ zu tun sei, hatte der russische Präsident Wladimir
Putin bereits vor Wochen unmissverständlich gefordert: Auszuspucken seien
sie, wie lästige Mücken. Gewalt, zumal unbestrafte, gehört zur Politik in
Russland.
Eine Gewalt, die alle spüren. Sie schlägt in Angst um, in Wut, in
Hilflosigkeit. Eltern wollen ihre Kinder „schützen“ und sprechen nicht
davon, was in der Ukraine passiert, weil sie Sorge haben, die Kinder
erzählten das später in der Schule. „Da fangen ja sofort Probleme an. Und
wir haben schon genug davon, die Sanktionen hinterlassen schließlich auch
Spuren“, erzählt eine Moskauer Mutter.
Nach dem Autobombenanschlag auf Darja Dugina, Tochter und rechte Hand des
faschistoiden Ideologen Alexander Dugin, wächst die Unsicherheit.
Sprengsätze unter Autos erinnern an die wüsten 1990er-Jahre. Zeiten, deren
Überwindung Putin stets als seinen Verdienst verkauft.
Der russische Geheimdienst hatte nach nur eineinhalb Tagen eine ukrainische
„Saboteurin“ samt Tochter und Katze dafür verantwortlich gemacht. Eine
bislang völlig unbekannte russische Partisanengruppe bekannte sich
ihrerseits zum Anschlag. Die Tat sei aus Rache geschehen, der Verbrecher
Putin müsse von seinem Posten gejagt werden, mit gewaltsamen Mitteln, heißt
es im Manifest der Gruppe, bei der unklar ist, wer dahinter steckt. Die
Versionen des FSB und der „Partisanen“ weisen Ungereimtheiten auf, jede
Gruppe instrumentalisiert die blutige Tat, die Hardliner fordern ein noch
härteres Vorgehen gegen die Ukraine. Auf Duginas Beerdigung ertönten Rufe:
„Ein Land! Ein Präsident! Ein Sieg!“ Sie erinnern an die Ausrufe im
Nazi-Deutschland der 1930er-Jahre: „Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!“
Trotz aller Verdrängung ist die Anspannung zu spüren. Explosionen an der
Grenze zur Ukraine und vor allem auf der Krim führen selbst den Menschen in
Badehosen am Strand vor Augen, dass Krieg ist. Ob es ihnen egal ist oder
nicht.
„Zu Sowjetzeiten saßen wir hier fest und träumten von einem freien Leben,
auch wenn viele von uns nicht verstanden, was Freiheit überhaupt heißt“,
erzählt der 55-jährige Alexander. „Jetzt sitzen wir wieder hier fest,
unsere über Jahrzehnte erlernte Hilflosigkeit hat uns zu dummen, stummen
Mittätern gemacht. Und jeder, der aus diesem Teufelskreis raus will, wird
zu Boden gedrückt.“
In der Anpassung hat die russische Gesellschaft Übung. Vom Staat erwarten
die wenigsten etwas, für den Staat zählt der Einzelne nichts. Nahezu alle
schauen, dass sie irgendwie überleben. Das politische System will es so.
Die mangelnde Gestaltungsmöglichkeit für den Einzelnen erzeugt ein Gefühl
der Ohnmacht und macht stumpf.
„Das Leben ist ohnehin hart genug“, sagen vor allem die, die in
wirtschaftlich schwachen Regionen leben. Hier bietet die Armee jungen
Männern eine Perspektive: sie zahlt gut, lockt mit sozialem Aufstieg,
verspricht Ehre und Respekt. Auch der Tod der Kinder in einem sinnlosen
Krieg, sät in den Familien keine wahrnehmbaren Zweifel: Sanktionen,
Abschottung, Zinksarg – alles ist Schicksal und die Toten „gefallene
Helden“.
Widerstand gibt es fast nur noch im Kleinen: ein mit Kreide gemaltes
Friedenszeichen auf dem Asphalt, eine Postkarte in den Farben der
ukrainischen Flagge auf einer Parkbank. Wer den Krieg öffentlich
kritisiert, wird festgenommen.
Der letzte noch in Freiheit lebende bekannte russische Oppositionelle war
Jewgeni Roisman, der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg. Er wurde
am Mittwoch abgeführt, weil er mehrmals öffentlich von der „russischen
Invasion in der Ukraine“ gesprochen hatte. Ihm drohen bis zu fünf Jahre
Strafkolonie. Die Untersuchungsgefängnisse sind laut Strafvollzugsbehörde
zu 96 Prozent ausgelastet, manche seit Monaten überbelegt.
Hin und wieder geht Alexander zum Manegeplatz, gleich neben dem Kreml. Er
steht da, still, ohne ein Plakat in der Hand. Es ist seine Art des
Protests. „Ich will wenigstens mir selbst ins Gesicht blicken können.“
Zuweilen wirkt der Geschäftsmann wie paralysiert. Manchmal, sagt er, wolle
er wegrennen. Aber er bleibe wie angeklebt stehen. „Die Zukunft meiner
Kinder ist dahin, eine menschliche Zukunft unseres Landes ist dahin. Und
wir tanzen fröhlich in der Sonne herum.“ Der Unternehmer versucht, mit der
Ungewissheit zu leben. Viele andere nehmen den bequemeren Weg und haben
sich in der Propaganda eingerichtet.
27 Aug 2022
## AUTOREN
Inna Hartwich
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