Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Verteidigung des Brustschwimmens: Gerade, anmutige Bahnen
> Rückschrittlich, ungesund und ineffizient: Brustschwimmen ist verpönt. Zu
> Unrecht, denn das Kraulen ist ein viel unsozialerer Schwimmstil.
Bild: Brustschwimmer strahlen nicht nur Würde aus, sie bekommen auch alles mit
Es ist Sommer und ich verbringe den Vormittag standesgemäß im Prinzenbad in
Berlin-Kreuzberg. Ich versteh ja nicht, wie sich die Leute an einem heißen
Tag wie diesem [1][direkt in die Sonne knallen können] – wir chillen immer
oben links in unserer kühlen Ecke auf den Steinstufen, der einzigen Stelle
des Schwimmbads, die den ganzen Tag im Schatten liegt. Dort lese ich den
Teaser zu [2][einem Artikel in der Zeit.] Es geht um den seltsamen
deutschen Hang zum Brustschwimmen. Also darum, dass in Deutschland als
praktisch einzigem Land der Welt die Kinder noch immer als Erstes und oft
ausschließlich das Brustschwimmen erlernten. Mit dem sturen Beharren auf
diese nachweislich ungesunde Schwimmtechnik schrottet sich unser Volk seit
Generationen nachhaltig den Nacken und die Wirbelsäule.
Gut, ich hab den Zeit-Artikel letztlich nicht gelesen, bis auf besagten
Teaser und die üblichen Hasskommentare derer, die ihn ebenfalls nicht
gelesen haben – so sieht moderne Medienrezeption nun mal aus. Trotzdem
stellt sich im Subtext unschwer ein Zusammenhang her zwischen dem
Brustschwimmen auf der einen und quasi kulturell verankerten faschistoiden
Tendenzen auf der anderen Seite. Brustschwimmer als engstirnige
Ewiggestrige aus dem Land der ungezogenen Lehren, ein Symbol auch für den
strukturellen Stillstand hierzulande.
Als strahlender Gegenentwurf eines brustschwimmenden Dunkeldeutschlands
wird ein fortschrittliches Bild weltoffener junger Menschen gezeichnet,
digitale Veganer mit pumperlgesundem Rücken, die wie Delfine klimaschonend
gen Sonnenaufgang kraulen, über ihnen die funkelnden Sternlein eines
globalen Gewissens.
Ich geh besser mal ins Wasser, meinen aufkeimenden Zorn abkühlen. Und was
mir dort als Allererstes ungut auffällt, während ich im edlen Bruststil
schnurgerade meine Bahnen ziehe, sind die Kraulenden. Kaum eine schafft es,
auch nur einen halbwegs geraden Kurs zu halten. Sie sehen nichts und es ist
ihnen auch egal, wen oder was sie da untermangeln, in ihrer Dynamik jenen
schwimmenden Mähdreschern nicht unähnlich, die in Binnengewässern wuchernde
Wasserpflanzen beseitigen. Die Kraulenden sind immer im Weg, schaffen es
aber irgendwie, dass man sich stattdessen selbst im Weg fühlt. Sie
verstehen es perfekt, passive und aktive Aggression zu mischen. In Wahrheit
verhält es sich nämlich genau umgekehrt, als uns insinuiert werden soll:
Kraulen ist ein äußerst unsozialer Schwimmstil.
## Alles im Blick
Wie viel Würde und natürliche Anmut wir Brustschwimmer hingegen
ausstrahlen. Und was wir alles mitbekommen, um uns herum, am Beckenrand und
auf den Steinstufen. Wir sehen die alten Dauerkartenmänner in ihren
winzigen Speedos aus dem vorigen Jahrtausend, die trotz Hauttyp 2 längst
einen nougatfarbenen Teint aufweisen – ist das noch fahrlässige
Selbsttötung oder schon ethnical appropriation? Wir bewundern die wie alle
paar Jahre mal wieder turnusgemäß aus dem Grab [3][des schlechten
Geschmacks gekletterte Mode der Pofreibikinihöschen]. Wir lauschen dem
niemals enden wollenden Geschrei der Bademeister und den Arschbomben der
Kinder. Wir riechen Frittenfett, Sonnenmilch und Chlor.
Letzteres riecht eigentlich neutral, erst in Verbindung mit Schweiß, Urin
und Hautpartikeln verströmt es den uns allen vertrauten Geruch. Sobald es
riecht, ist es zu spät, und hier im Prinzenbad riecht es definitiv schon.
Als Brustschwimmer dümple ich zum Glück mit dem Köpfchen aus dem Wasser
über dem garstigen Sud, während die Hektiker um mich herum in großen
Schlucken ihre Kraulpirinha saufen, den berühmt berüchtigten Cocktail aus
Exkrementen und H²O.
Doch der größte Vorteil für uns Brustschwimmende entfaltet sich in der
freien Natur. Denn das Brustschwimmen ist die Ausflugsversion unter den
Schwimmstilen. Man gondelt gemütlich durch den See und genießt die
herrliche Bergkulisse. Wer krault, sieht nichts von alledem, sondern pflügt
wie ein U-Boot berserkergleich durchs aufgewühlte Nass. Kein Blick für die
Schönheit der Natur vermag die blinde Zerstörungswut zu mäßigen.
Furchtsam fliehen die Wasservögel und überantworten ihre Brut dem sicheren
Tod. Ich tue es ihnen gleich, steige aus dem Becken und überlasse die
Kraulmenschen ihrem Schicksal. Bevor ich zu meinem Schattenplatz
zurückkehre, dusche ich mich gründlich ab.
17 Aug 2022
## LINKS
[1] /Die-These/!5789382
[2] https://www.zeit.de/sport/2022-08/schwimmen-brustschwimmen-kraulen-technik-…
[3] /Kunstprojekt-Tropez-in-Berliner-Freibad/!5866943
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Schwimmen
Freibad
Sommer
GNS
Schwimmen
Literatur
Schwimmen
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eine Typologie der Schwimmstile: Bahnen ziehen mit Grandezza
Die Freibadbecken sind voll. Doch was sagen Wahl und Ausführung einer
Schwimmtechnik über ihre Benutzer aus?
Neuer Roman von Arno Frank: Ottersweiler ist überall
Pommes und Depressionen am Beckenrand: Arno Franks neuer Roman „Seemann vom
Siebener“ spielt am letzten heißen Sommertag in einem Freibad.
Petition der Woche: Bäder sind überlebenswichtig
Ohne Schwimmbäder lernen noch weniger Kinder schwimmen. Dagegen wendet sich
Verena Kuch in einer Petition.
Hitzetage in der Stadt: Hamburg braucht echte Freibäder
Als Ersatz für sein Schwimmbad auf der Wiese erhielt der Stadtteil
Rahlstedt ein Außenbecken am Hallenbad. Es fehlt ein Planschbecken für
Kinder.
Kunstprojekt Tropez in Berliner Freibad: Die Kunst mit Badehose
Eine Schnittstelle zwischen Kulinarik, Ästhetik und Spaßbad soll das Tropez
im Sommerbad Humboldthain sein. In diesem Jahr aber schneidet sich wenig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.