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# taz.de -- Afghanistan unter den Taliban: Bei den Youtuberinnen von Kabul
> Zwei 17-jährige Mädchen ziehen unerschrocken durch Afghanistans
> Hauptstadt. Sie dokumentieren, was ihnen Menschen über ihre Sorgen
> erzählen.
Bild: Sofia Formuli (mit rotem Kopftuch) und Hadya Helya bei einem Interview au…
Kabul taz | „Wenn du dich unwohl fühlst, bedecke dich. Dann wirst du mich
nicht sehen“, sagt Hadya Helya. Sie schaut dabei direkt in die Kamera. „Tut
mir leid, er ist schüchtern“, sagt sie. Sie ist 17 und Youtuberin in Kabul.
Der schüchterne Typ ist ein Talib. Das Video ist vom 8. März, dem
internationalen Frauentag, und zeigt Hadya, wie sie Blumen an Taliban
verteilt. Für ihre Frauen.
Seit fast einem Jahr sind die Taliban in Afghanistan wieder an der Macht.
Insbesondere die Frauen versuchen damit zurechtzukommen. In Kabul sind
nicht mehr Burkas als früher zu sehen. Auch Dieben werden nicht Hände
abgehackt. Trotzdem sind die Regeln der neuen Herrscher nicht klar.
Haben sich die Taliban im Vergleich zu vor zwanzig Jahren verändert? „Ich
habe keine Ahnung. In Afghanistan liegt das Durchschnittsalter bei 18,4
Jahren“, sagt Hadya. Gemeinsam mit der ebenfalls 17-jährigen Sofia Formuli
zeigt sie in ihren Videos des Kanals Star Fans den Alltag in Kabul. „Früher
zertrümmerten die Taliban Fernsehgeräte. Aber mit dem Internet heute, was
soll das noch bringen?“, sagt sie. „Sollten die Taliban noch dieselben
sein, so ist die Welt nicht mehr dieselbe.“
Hadya und Sofia begannen mit ihren Videos am 14. August, einen Tag vor dem
Fall Kabuls, um Afghan*innen eine zusätzliche Stimme zu geben. Seitdem
wurden fast die Hälfte der afghanischen Medien geschlossen. [1][Viele
Journalist*innen haben das Land oder den Journalismus verlassen.]
## Der Druck ist vor allem sozialer Natur
Aber so einfach ist die Sache nicht. Sofias Brüder und Schwestern sind
dagegen, dass sie Youtube-Videos macht. Auch ihre Eltern. „Mein Vater
spricht kaum noch mit mir. Er sagt, ich schade seinem Ruf“, berichtet
Sofia. Das liege nicht nur daran, dass ein Mädchen hier normalerweise zu
Hause bleibt, sondern auch, dass man sich nur um die eigenen
Angelegenheiten kümmert. Man gehe nicht herum, um zu filmen, nachzufragen
oder gar bloßzustellen.
„Mir ist egal, was andere sagen. Sei es Lob oder Kritik“, sagt Hadya. „Mi…
interessiert, Afghanistan zu verbessern. Viele der politischen Strömungen
hier gab es schon vor den Taliban, unabhängig von ihnen.“
Der Druck ist vor allem sozialer und nicht politischer Natur. Sofia würde
lieber lernen: „Öffnet meine Schule!“, sagte sie. Doch trotz gegenteiliger
Versprechen [2][blieben die höheren Schulen für Mädchen bisher
geschlossen].
Das heutige Video spielt in Dascht-i-Bartschi, einem Stadtteil, in dem
viele schiitische Hazara leben. Sie sind Ziel zunehmender Angriffe. Aber es
wird kein Film über Minderheiten, sondern über Kabul. Denn in Afghanistan
gibt es nur Afghanen, sagen die Mädchen. „Die einzige Frage, die nicht
gestellt werden darf, ist die nach dem Hidschab“, sagen sie, während sie
ihre Mikrofone überprüfen.
## Das wirtschaftliche Überleben hat Priorität
Die Taliban fordern die Afghaninnen auf, nicht nur einen Hidschāb
(Kopftuch) zu tragen, sondern einen Nikab, einen schwarzen
Gesichtsschleier, der [3][alles außer den Augen bedeckt]: Internationale
Medien regen sich darüber auf, aber hier liegt die Priorität auf
Wirtschaft. Egal, mit wem die Mädchen sprechen.
Der erste ist ein Mann, den sie erst aufwecken müssen. Er verkauft
eigentlich Süßigkeiten. „Aber ich verkaufe fast nichts mehr. Und ich bin
einfach hungrig“, sagt er. „Ich bin erschöpft.“ Jetzt, mit den
internationalen Sanktionen gegen die Taliban, gelten nach UN-Definition 95
Prozent der Bevölkerung als „ernährungsunsicher“. Doch haben die
[4][Sanktionen] keine klaren Ziele. Die Wiedereröffnung von Mädchenschulen?
Neuwahlen? Eine inklusive Regierung? Das wurde nie festgelegt.
„Klar ist nur, dass die Sanktionen uns alle bestrafen“, sagt Hadya. „Dabei
hat niemand von uns die Taliban gewählt. Sie sind wegen des Doha-Abkommens
von 2020 an der Macht, das sie mit den USA ausgehandelt haben. Warum diese
Bestrafung?“
Niemand hatte die Flucht von Präsident Ashraf Ghani vorhergesehen. Auch
nicht den Fall von Kabul. Nicht einmal die Taliban selbst. Sie scheinen
nicht vorbereitet gewesen zu sein. Sind ihre neuen Regeln nun obligatorisch
oder nicht? Im Juni hatte die Versammlung der Islamexperten einfach
erklärt, dass Afghanen das Recht hätten, auf afghanische Art zu leben. Ohne
Einmischung von außen. Und so drängen viele zu Hadya und Sofia und wollen
reden. Ein Mann bringt seine Trommel und beginnt zu spielen. Dabei wurde
Musik offiziell verboten. „Aber es ist alles doch schon so hart. Wir wollen
das letzte bisschen Schönheit, das wir haben, nicht verschenken“, sagt er.
## Mehr Verkäufer als Käufer auf dem Markt
Eine junge Frau mit einer roten Jacke hat ein Fahrrad. Auch die Jacke ist
verboten, theoretisch. Irgendwie auch das Fahrrad. Sie ist Ingenieurin.
„Meine Werte sind in meinem Herzen. Nicht in meiner Kleidung“, sagt sie.
„Die Amerikaner waren die Ungläubigen, nicht die Afghanen. Wir alle folgen
dem Islam. Was zählt, ist die Wirtschaft. Das ist die Dringlichkeit“, sagt
sie. Die Sanktionen seien doch sinnlos. „Sie erlauben den Taliban nur zu
behaupten, alles sei Amerikas Schuld.“
Kabuls Märkte sehen fast aus wie immer. Nur dass alle verkaufen, aber
niemand kauft. Alles ist im Angebot. Buchstäblich. Selbst Nieren. Für 2.500
Dollar das Stück sollen sie an Krankenhäuser im Ausland verkauft werden.
Es gibt keinen Afghanen, der nicht versucht, das Land zu verlassen. Seit
August wurden über 85.000 Afghanen in die USA umgesiedelt, mehr als 20.000
nach Europa. „Das hat Afghanistan viel mehr verändert als die Taliban“,
meint ein Verkäufer. „Wir haben unsere Besten verloren: Ärzte, Anwälte,
Ingenieure, Geschäftsleute. Hätten wir Geld für den Bau von Straßen, hätten
wir niemanden, um sie zu bauen.“ Doch wofür das jetzt alles? „Um als
Taxifahrer in Deutschland zu enden? Das ergibt doch keinen Sinn. Weder für
euch, noch für uns.“
Ein Burkaverkäufer lächelt. Er hat den Preis verdoppelt. Der
Ganzkörperschleier ist nicht vorgeschrieben, aber Frauen werden damit nicht
kontrolliert. Gerade weil alles so unklar ist, fühlen sich Frauen unsicher:
Wie können sie sicher sein, die Regeln einzuhalten, wenn sie die nicht
kennen? „Ich kann unter diesem Zeug nicht atmen“, sagt Sofia, während sie
eine Burka anprobiert.
Vor letztem August hatte sie selbst noch nie einen Talib gesehen. „Sie
kommen aus einer ganz anderen Welt. Aber wir sind auch eine andere Welt für
sie“, meint Sofia. „Vor August waren viele Taliban noch nie in Kabul
gewesen. Sie kannten immer nur Krieg. Und deshalb will ich mich nicht
verändern. Nicht, weil ich mich nicht an die Taliban gewöhnen will, sondern
weil ich möchte, dass sie sich an mich gewöhnen.“
19 Jul 2022
## LINKS
[1] /Journalistinnen-aus-dem-Beruf-gedraengt/!5845658
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[3] /Taliban-schraenken-Rechte-weiter-ein/!5853171
[4] /Hilfe-fuer-Menschen-in-Afghanistan/!5824213
## AUTOREN
Francesca Borri
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Schwerpunkt Afghanistan
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