Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte um deutsche Waffenlieferungen: Zwischen Skylla und Charybdis
> Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe muss auf Distanz gehalten werden.
> Es geht um ein verantwortungsbewusstes Navigieren in einer
> Dilemma-Situation.
Ein Ende der russischen Aggression in der Ukraine ist auch [1][nach fünf
Kriegsmonaten nicht absehbar]. Putins Armee kommt im Abnutzungsgefecht im
Donbass nur langsam und unter Inkaufnahme erheblicher Verluste an Menschen
und Material voran. Die ukrainischen Streitkräfte sind sogar in der Lage,
lokale Gegenangriffe zu führen, wo die russischen Truppen zur Verteidigung
übergegangen sind.
Sie bekämpfen [2][mit Himars-Raketen] aus US-Produktion Waffenlager und
Nachschubwege in der Tiefe des von Russland besetzten ukrainischen
Territoriums. Das Gravitationszentrum der militärischen Hilfsleistungen für
die Ukraine liegt eindeutig in Washington. Aufklärungsdaten in Echtzeit,
Waffenlieferungen und Waffenausbildung sowie logistische
Unterstützungsmaßnahmen der Vereinigten Staaten tragen entscheidend zur
ukrainischen Verteidigung bei.
Die im Verhältnis zu den USA weit geringeren Unterstützungsmaßnahmen der
europäischen Staaten sind nur im Verbund mit den amerikanischen
Hilfsleistungen wirksam. Die ukrainische Führung entscheidet damit zwar
formal souverän über ihre Kriegsziele und darüber, ob und wann sie zu
Verhandlungen mit Moskau bereit ist. Sie ist jedoch von den amerikanischen
Unterstützungsleistungen abhängig, die den Handlungsspielraum des
ukrainischen Präsidenten Selenski praktisch einrahmen. Auf der Hinterbühne
des Geschehens wirkt die geopolitische Ebene des Konflikts, das
machtpolitische Ringen zwischen Moskau und Washington.
Völkerrechtlich gesehen hat die Ukraine eindeutig das Recht, die von
Russland besetzten und annektierten Gebiete, einschließlich der Krim,
zurückzufordern oder zurückzuerobern. Grundlage dafür ist das
„naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“
im Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Die Ukraine wird einer
territorialen Lösung mit Abtrennung der besetzten Gebiete nicht zustimmen,
und keine ernst zu nehmende Regierung der Welt dürfte in der überschaubaren
Zukunft das von Russland eroberte ukrainische Territorium als zur
Russischen Föderation gehörig oder als quasi-autonomes Staatengebilde
anerkennen.
## Der Kreml ist nicht bereit, zu verhandeln
Auf einem ganz anderen Blatt stehen die tatsächlichen Möglichkeiten der
Ukraine, ihre territoriale Integrität in näherer Zukunft
wiederherzustellen. Politiker und Experten, [3][die etwa in deutschen
Talkshows, manchmal in salonbellizistischer Manier], über eine militärische
Rückeroberung der durch Russland seit dem 24. Februar besetzten Gebiete
reden und dafür massive Waffenlieferungen fordern, sollten sich einige
Realitäten vor Augen führen.
Über den aktuellen Umfang und den Zustand der ukrainischen Streitkräfte ist
zwar wenig bekannt. Die Ukraine müsste jedoch für eine große Gegenoffensive
eine etwa dreifache Überlegenheit über die russischen Truppen aufbauen.
Vermutlich müssten schwere Waffen wie Kampfpanzer, Schützenpanzer, Rohr-
und Raketenartillerie in insgesamt vierstelliger Stückzahl und eine hohe
Zahl infanteristischer Kämpfer in Stellung gebracht werden.
Denn im Gegenangriffsszenario würden nunmehr die russischen Streitkräfte in
ausgebauten Stellungen in Städten und Ortschaften kämpfen und die Vorteile
des militärischen Verteidigers in bebauten Räumen in Anspruch nehmen. Die
bisherigen Trümmerlandschaften würden noch einmal durch das Inferno
artilleristischer Feuerwalzen umgegraben. Es wäre in der Tat mit noch weit
größeren ukrainischen Verlusten und unendlichem Leid verbunden.
Zugleich hat es aber auch wenig Sinn, die Ukraine und den Westen zu einem
Waffenstillstand aufzufordern und den Krieg durch Verhandlungen mit Moskau
zu beenden. Dafür fehlt es schlicht an den notwendigen Voraussetzungen.
Allein der Kreml ist bis auf Weiteres in keiner Weise bereit, zu verhandeln
und die Kampfhandlungen einzustellen.
Die westlichen Regierungen müssen überdies bei allen Waffenlieferungen das
Risiko der räumlichen Ausweitung und Eskalation des Konflikts im Auge
behalten. Dieses Risiko ist real, denn im oft zitierten „Nebel des Krieges“
(Clausewitz) können Kämpfe auch ungeplant außer Kontrolle geraten und
eskalieren, etwa durch Raketen, die durch Systemfehler auf Nato-Gebiet
einschlagen. Inzwischen ist erkennbar, dass Washington bemüht ist, den
Umfang der Waffenlieferungen so zu bemessen, dass vermutete rote Linien im
Kreml nicht überschritten werden.
Die USA zielen offenbar darauf, die Verteidigung der ukrainischen Armee im
Osten und Süden des Landes zu stabilisieren, quasi „to keep them in the
fight“. Kiew soll eine möglichst starke Ausgangsposition für spätere
Verhandlungen verschafft werden. Präsident Biden hat dies in seinem Beitrag
in der New York Times von Ende Mai unter der Überschrift „What America will
and will not do in Ukraine“ klar signalisiert. Das ist keine Siegrhetorik.
Biden dürfte dabei auch einkalkulieren, dass mit der Art und Weise des
Vorgehens der USA gegen den russischen Krieg in der Ukraine
Weichenstellungen für die künftigen strategischen Beziehungen mit Moskau
vorgenommen werden. Das ist ein Punkt, der in der [4][einseitig auf
Waffentransfers] fokussierten deutschen Debatte weitgehend ausgeblendet
wird. Strategische Stabilität in den Abschreckungsbeziehungen mit Russland
bleibt für die USA Staatsraison. Die Nato und Russland rutschen absehbar in
eine anhaltende Konfrontation, die gravierender sein wird, als dies zum
Höhepunkt des Kalten Krieges war.
## Moskau dürfte künftig auf Atomwaffen setzen
Es ist anzunehmen, dass Moskau angesichts der erheblichen Verstärkung der
Nato-Kräfte an der Ostflanke und mit Blick auf seine durch den Krieg auf
Jahre geschwächte Armee künftig noch stärker auf seine zahlreichen
taktischen Atomwaffen setzen wird. Wenngleich mit der derzeitigen
Kreml-Führung kein Vertrauen mehr aufgebaut werden kann, liegt es im
deutschen und europäischen Interesse, eine hinreichend stabile Koexistenz
mit Russland zu wahren, die nicht nur auf Abschreckung, sondern auch auf
eine zumindest rudimentäre Rüstungskontrolle setzt. Das kürzlich beim
Nato-Gipfel in Madrid verabschiedete [5][neue Strategische Konzept der
Allianz hält dafür die Türen offen].
Russland ist eine atomare Supermacht auf Augenhöhe mit den USA mit rund
1.800 taktischen Atomwaffen mit Reichweiten für einen europäischen
Kriegsschauplatz. Natürlich ist es das Ziel der russischen Atomdrohungen,
eine Abschreckungswirkung zu erzeugen, Ängste in Politik und Bevölkerung zu
schüren und den Westen von der weiteren Unterstützung des ukrainischen
Militärs abzuhalten.
Es ist jedoch verwegen und leichtfertig, die Glaubwürdigkeit und
Entschlossenheit der Führung im Kreml mit entwarnenden Spekulationen oder
Glaubenssätzen herunterzureden. Putin, der einen großen militärischen
Angriff auf ein vom Westen unterstütztes Nachbarland gewagt hat, dessen Ruf
bereits international ruiniert ist, dessen Wirtschaft aufgrund der
massiven Sanktionen in eine schwere Rezession rutscht, könnte eine nukleare
Eskalation wagen, um in der Sackgasse das Ruder herumzureißen.
## Kommunikationskanäle bleiben wichtig
Vor diesem Hintergrund ist die permanente, vertrauliche strategische
Kommunikation zwischen Washington und Moskau – sowohl auf der
diplomatischen wie der militärischen Ebene – von essenzieller Bedeutung.
Man kann nur hoffen, dass diese Kommunikation hinter den Kulissen im Sinne
von „Deconfliction“ stattfindet. Der Politologe Peter Graf von Kielmannsegg
hat das Dilemma der westlichen Unterstützung der Ukraine zwischen
berechtigtem Beistandswillen und dem Eskalationsrisiko mit der folgenden
Frage auf den Punkt gebracht: „Wie weit darf man sich der Gefahr einer
apokalyptischen Katastrophe annähern?“
Die Antwort darauf sollte sein, dass diese Gefahr auf gehörige Distanz
gehalten werden muss, weil die Zerstörungswirkungen einer nuklearen
Eskalation ein existenzielles Ausmaß annehmen könnten, gerade auch für die
Ukraine. Ratschläge, die USA und ihre Bündnispartner sollten sich mit einer
Ausweitung der Waffenlieferungen an die russische nukleare Schwelle
herantasten, klingen wie Kalküle von Hasardeuren. Dies ist kein
Kriegsspiel.
Die vielfach in Politik und Medien kritisierte Aussage von Bundeskanzler
Scholz, [6][dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf],
korrespondiert mit der eskalationsvermeidenden Position des amerikanischen
Präsidenten. Beide Staatschefs können so interpretiert werden, dass sie
einen von Russland unabhängigen, westlich orientierten ukrainischen Staat
auf jeden Fall erhalten wollen, auch wenn am Ende der Kampfhandlungen rund
ein Viertel des Staatsgebietes der Ukraine für eine unbestimmte Zeit von
russischen Truppen besetzt bliebe, so bitter das für Kiew wäre.
## Zwischen Skylla und Charybdis
Es ist ein verantwortungsbewusstes Vorgehen zwischen Skylla und Charybdis –
zwischen der Verhinderung einer russischen Besetzung des gesamten
ukrainischen Territoriums einerseits und dem Risiko einer Ausweitung und
gefährlichen Eskalation des Krieges andererseits. Dies ist alles andere als
zynisch, wie in Kommentaren behauptet wird. Zynisch wären hingegen Kalküle,
die Ukraine durch massive Waffentransfers in einem anhaltenden
Stellvertreterkrieg und unter großen Verlusten dazu zu befähigen, die
russische Armee im euro-atlantischen Interesse abzunutzen.
Und schließlich: Politisch-moralische Argumente sollten nicht, von einer
höheren Warte blickend, realpolitischen Kalkülen gegenübergestellt werden.
Denn im Kern geht es um das verantwortungsbewusste, rationale Navigieren in
einer Dilemmasituation, in der es gar keine eindeutig richtigen Wege aus
der Gefahr gibt.
23 Jul 2022
## LINKS
[1] /Russland-will-Angriffe-verstaerken/!5868954
[2] /-Nachrichten-zum-Ukraine-Krieg-/!5868906
[3] https://www.youtube.com/watch?v=jk-boUZmh0Y
[4] /Waffenlieferungen-an-die-Ukraine/!5857874
[5] /Nato-Gipfel-in-Madrid/!5863715
[6] /Nein-von-Scholz-zu-Flugverbotszone/!5840269
## AUTOREN
Helmut Ganser
Helmut W. Ganser
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Nato
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Offener Brief
## ARTIKEL ZUM THEMA
Waffenlieferungen an die Ukraine: Vermehrte Mehrfachraketenwerfer
Neue Lieferungen aus den USA und Deutschland stärken die Abwehr der Ukraine
gegen Russland. Derweil gehen die Kämpfe im Donbass intensiv weiter.
Kriegslage in der Ukraine: Vor einem blutigen Sommer
Kiew kündigt an, den zu Kriegsbeginn verlorenen Süden der Ukraine
zurückzuerobern. Derweil verstärken Moskaus Truppen ihre Angriffe im
Donbass.
+++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Scholz will mehr Waffen liefern
Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte an, mehr Waffen an die Ukraine zu
liefern. Dies soll im Rahmen eines sogenannten Ringtausches geschehen.
Neuer offener Brief zu Russlands Krieg: Gutes Zureden reicht nicht
Intellektuelle versuchen erneut, die Debatte um Russlands Krieg gegen die
Ukraine zu bereichern. Impulse sind nötig. Doch der Brief liefert sie
nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.